Musik und Krieg

Von Bogdan Bondarchuk (Kyjiw)

Zusammenfassung
Der Beitrag behandelt die Verbindung von Musik und Krieg während der großangelegten russischen Invasion. Er verdeutlicht, wie dramatisch der Krieg die Musik in der Ukraine veränderte. Sie ist politischer und realitätsnäher geworden und weniger metaphorisch. Der erste Abschnitt behandelt die musikalischen Reaktionen auf den Schock in den ersten Monaten der großangelegten Invasion. Der zweite Abschnitt knüpft chronologisch daran an und beschreibt die Anpassung an die neue Kriegsrealität. Dieser Beitrag gibt nur einen sehr kleinen Teil der erschienenen Musikstücke wider, da eine vollständige Analyse den Rahmen bei weitem sprengen würde.

Musikalische Reaktionen auf den Schock und die Stille der ersten Tage

Der 24. Februar 2022 stellte das Leben in der Ukraine auf »stumm«. Viele Dinge, die gestern noch real erschienen, waren plötzlich wie vom Winde verweht; Bedeutungen, Wahrnehmungen und Gewissheiten änderten sich, so auch die Rolle von Klang und Musik: Wenn Sirenen stundenlang heulen, wenn man lernt, den Lärm einer Raketenexplosion von dem der Luftabwehr zu unterscheiden, dann steht Stille nicht für Leere, sondern eine andere, sehr wertvolle Situation, nämlich, dass es keine unmittelbare Gefahr von oben gibt. Gleichzeitig erzeugt es eine Anspannung, wann der nächste Luftalarm zu erwarten ist. Lange, zähe Stunden lang gab es überhaupt keinen Bedarf und keinen Ort für Musik.

Der erste, der diese Stille durchbrach, war Andrij Chlywnjuk von der populären ukrainischen Band Boombox. Er brach die US-Tour seiner Band ab und kehrte in die Ukraine zurück, um als Freiwilliger in den Ukrainischen Streitkräften zu dienen. Am dritten Tag der großangelegten russischen Invasion sang er auf einem leeren Platz im Zentrum von Kyjiw das Lied »Oj, u lusi tscherwona kalyna« (dt.: »Oh, roter Schneeball auf der Wiese«; gemeint ist die Pflanzenart Gewöhnlicher Schneeball mit seinen roten Früchten, Anm. d. Red.), das tief in der Geschichte des ukrainischen Freiheitskampfs wurzelt (so war das Lied z. B. bei der Unabhängigkeitserklärung am 24. August 1991 in der Werchowna Rada intoniert worden). Die Akustik der menschenleeren Hauptstadt, die eine Schlacht um jeden Tag kämpft, zusammen mit dem starken, bewegenden Acapella-Auftritt und der Text des Liedes, in dem es heißt: »Warum ist unsere glorreiche Ukraine so betrübt? […] Wir werden unsere glorreiche Ukraine aufmuntern!« – das alles bedeutete das Ende der Stille und Sprachlosigkeit. Es öffnete ein Fenster für eine Zeit des Kampfes, wie es sie in der Geschichte der Ukraine immer wieder gegeben hat. Der Diskurs wiederholte sich und wurde neu aufgeladen. Andrij Chlywnjuk läutete die Zeiten des »roten Schneeballs« ein, und das holte sogar Pink Floyd (ohne Roger Waters) aus ihrem tiefen Schlaf, genau wie viele andere aus unterschiedlichen Künstler:innen, z. B. »The Kiffness«.

Das nächste starke Statement, das zu einer »Antischockpille« wurde, wurde von Jockii Druce in weniger als zwei Wochen nach Beginn des großangelegten Krieges geschrieben, aufgenommen und herausgebracht. Die Stimmung des Stückes war derart entspannt, selbstbewusst, und gleichzeitig energisch, dass es als eine Art gesellschaftliche Therapie funktionierte. Die Originalversion von »Schtscho wy brattja?« (»Wie geht’s euch, Leute?«) wurde am 8. März 2022 veröffentlicht und avancierte zur »Hip-Hop-Hymne der ersten zwei Wochen«. Dieser Song enthält – neben starken poetischen Metaphern – Zeilen, die auf viele, viele Situationen in der Gegenwart, der Vergangenheit, wie auch in der Zukunft der Ukraine verweisen: »Wenn ihr traurig seid, setzt euch zusammen und singt!«. Der Song ist musikalisch ziemlich modern und der Text enthält Obszönitäten, er ist jedoch als Antwort auf die Traurigkeit und die Trauer wirksam. Zusammen mit Andrij Chlywnjuks »Schneeball« rekurriert er auf ukrainische Traditionen und transportiert sie in die Gegenwart. Das betrifft den historischen Hintergrund mit Russlands jahrhundertelanger Obsession in Bezug auf die Ukraine, was immer wieder zu Kriegen führte und die Ukraine schließlich in einen Existenzkampf brachte. Die letzte Zeile des Liedes ist die zum geflügelten Wort gewordene Aufnahme des Funkkontakts zwischen dem russischen Kriegsschiff »Moskwa« und einem ukrainischen Grenzschützer ganz zu Beginn der großangelegten Invasion am 24. Februar 2022: Die ukrainischen Soldaten wurden aufgefordert, ihre Waffen niederzulegen. Die Antwort war: »Russisches Kriegsschiff, f**k dich selbst!«. Diese Antwort verbreitete sich viral, stärkte die Moral und landete später nicht nur auf Dutzenden Merchandise-Artikeln sondern auch auf einer offiziellen ukrainischen Briefmarke. Es wurde in den folgenden Monaten in vielen verschiedenen Liedern aufgegriffen, unter anderem von Bakun und BOTASCHE.

Zu Beginn des Krieges wurde das »Bayraktar-Genre« zu einem besonderen Phänomen. Die türkischen »Bayraktar«-Drohnen spielten zusammen mir den »Javelin«-Panzerabwehrraketen eine große Rolle, als die erste Welle der russischen Besatzungstruppen aufgehalten werden konnte. So hat beispielsweise Chrystyna Solowij »Bella Ciao«, das berühmte Lied der italienischen Partisan*innen, das im Zweiten Weltkrieg zur Hymne antifaschistischer und sozialdemokratischer Bewegungen wurde, für den ukrainischen Kontext adaptiert (»Ukrainische Wut«). Dieses Lied über die Niederträchtigkeit der russischen Invasion, in dem die ukrainischen Streitkräfte glorifiziert werden und Bayraktars und Javelins zusammen gegen die russische Armee kämpfen, wurde mit über fünf Millionen Klicks auf Youtube sehr populär in der Ukraine. Man kann sich kaum vorstellen, wie oft diese Waffennamen in der ukrainischen Musik gereimt wurden und immer noch werden. Auch der patriotische Folksong »Bayraktar« von Taras Borowok, den dieser nach eigenen Angaben in nur zwei Stunden geschrieben hat, um die Moral zu stärken, wurde wegen seiner eingängigen Melodie und des Textes sehr populär. Dort wird die russische Armee verhöhnt, während die Drohnen gepriesen werden. Die musikalische Verarbeitung dieser Waffen hat den Zweck, die Moral zu stärken und das Land zu motivieren, durch die Schrecken des Krieges zu kommen. Die Waffen und die Lieder sind beide zu Symbolen des ukrainischen Widerstands geworden. An dieser Stelle sollte auf ein typisches Stück wie »Don’t f@ck with Ukraine« von Max Barskih (eigtl.: Mykola Bortnyk) verwiesen werden, der sich ebenfalls den ukrainischen Streitkräften anschloss. Das Lied wurde Ende April veröffentlicht und benutzt den »Gruß« an das russische Kriegsschiff, allerdings ins Englische übersetzt und gesungen. Der folkloristische Stil des Gesangs wird mit House-Beats gemischt und mit einem obszönen Text untermalt, der den Russ:innen eine vernichtende Niederlage voraussagt.

Es gab auch das virale Comeback eines anderen House-Tracks mit folkloristischen Elementen: Das Stück von Probass Hardi hat den Titel »Dobroho wetschora (Where are you from?)« (eigt.: Dobroho wetschora, my s Ukrainy! – Guten Abend, wir kommen aus der Ukraine!) und erschien ursprünglich 2021. Die Titelzeile, die erstmals von Marko Halanewytsch von DachaBracha aufgegriffen wurde, wurde zu einem Markenzeichen der täglichen Social-Media-Botschaften des Gouverneurs der Region Mykolajiw, Witalij Kim: Er begrüßte seine Follower:innen immer mit diesen Worten, entspannt mit den Füßen auf dem Tisch dasitzend, während die Stadt von der russischen Armee bombardiert wurde und unter Druck des feindlichen Feuers stand. Das sorgte für eine große Popularität, sowohl für den Gouverneur wie auch für den Track (das Musikvideo wurde auf Youtube 20 Millionen Mal gehört). Später wurde der Song bei zahllosen TikTok-Videos über die glorreiche ukrainische Armee als Soundtrack verwendet.

Anton Slepakow von der ukrainischen Band Wagonowoschatyje nahm mit Andrij Sokolow in nur einem Monat ein ganzes Album mit geschmeidiger elektronischer Musik auf. Der Titel »Warnykannja« spielt mit dem englischen Wort »war« (»Krieg«) und einem ukrainischen Wort, das übersetzt etwas zwischen »stöhnen«, »sprechen« und »nörgeln« bedeutet. Auf einem Fundament aus sphärischen Klängen, Rhythmen und expressiven Melodien wird das gesprochene Wort in den Vordergrund gerückt, eine reflexive Lyrik über den Krieg. Es gibt dort sogar – anstandshalber – Zeilen des Dankes an die Russ:innen: Diese hätten sich jetzt, 2022, wenigstens nicht hinter dem Rücken ihrer Marionetten und Stellvertreter versteckt, wie das noch 2014 der Fall gewesen war.

Auch ukrainische Soldaten schlossen sich der Welle neuer Musik an, z. B. der Soldat mit dem Kampfnamen »Schurup« (dt.: »Schraube«) mit einem fast schon scheuen Rezitieren seiner eigenen Verse. Er beginnt mit den Worten: »Hey Leute auf Fahrädern, mit dem Tank voll Benzin?«, und das war, wie das bei guten Versen manchmal der Fall ist, eine Prophezeiung. Die Benzinknappheit in der Ukraine kam im Mai voll zum Tragen, nach den russischen Luftangriffen auf Treibstoffdepots im ganzen Land. Eine andere Zeile lautete: »Ich kaute Panzer wie Barberis«, was sich auf beliebte Berberitzen-Bonbons bezieht, die krümeln, wenn man sie mit den Zähnen zerbeißt, wo sie doch eigentlich zum Lutschen sind. Das waren die ersten Klänge, die aus einer anderen Richtung kamen: Lyrik und Musik direkt von der Front.

Ein weiteres Kapitel im Frühjahr 2022 war die Belagerung von Mariupol, der die ukrainischen Verteidiger:innen fast drei Monate lang standhielten. Dieser heroische, mythenhafte Kampf hatte auch große Auswirkungen auf die Musik und erreichte seinerzeit auch den Eurovision Song Contest (ESC), nämlich mit dem Lied »Stefania« von Kalush Orchestra. Das Lied bezog sich zwar nicht direkt auf Mariupol, doch ergab sich die Verbindung durch den zeitlichen Kontext, und aus einem dreifachen Schock: Der erste Schock war die großangelegte Invasion. Als zweites folgte die grausame, unglaublich brutale russische genozidale Kriegsführung, bei der Mariupol zusammen mit seinen Bewohner:innen Stunde um Stunde, Tag für Tag, Monat für Monat bombardiert wurde. Die dritte Ebene war, dass sich der musikalische Sieg im übertragenen Sinne auch und gerade an diejenigen richtete, die am Rande des Todes, ohne jede Hoffnung auf Rettung kämpften und pausenlos von Land, aus der Luft und von der See aus bombardiert wurden.

Der nächste Eurovision-Song 2023 aus der Ukraine war hingegen auch direkt der »Stahlstadt« Mariupol gewidmet, woraufhin der Songtitel, »Heart of Steel«, hindeutet. Die Ukraine konnte den Wettbewerb aus Sicherheitsgründen nicht im eigenen Land ausrichten, und bereits der ukrainische Vorentscheid war eine besondere Herausforderung. Die Kyjiwer Metro-Station am Maidan, dem Unabhängigkeitsplatz, fungierte als unterirdischer Konzert- und Veranstaltungssaal, wo der Wettbewerb für den ESC stattfand. Die Metro-Züge fuhren weiter vorbei, was bei der Kameraarbeit berücksichtigt werden musste. Einige Songs sind hier herauszuheben, beispielsweise einer über das Wesen der Trauer mit dem Titel »Ich trauere«. Ein anderer ist das exakte Gegenteil, nämlich der herzerwärmende, gleichsam schwebende Song »Ich bin zu Hause«, wobei das in jenen Tagen sehr besondere Worte waren, da ein heimisches Gefühl und die Möglichkeit, zu Hause zu sein, eher etwas Besonderes und Wertvolles ist.

Der folkloristische, mit Hexenmotiven spielende Song »Wrasche« (dt.: »Feind«) von Angy Kreyda kann als Abschlusslied des Frühjahrs betrachtet werden. Er inszeniert Frauenstimmen, die mystische Kräfte anrufen, damit diese sich gegen die Besatzer:innen erheben. Es sind die Geister der Länder und der Wälder, der mythische Pantheon ukrainischer Kreaturen, angeführt von ukrainischen Hexen, die der russischen Armee den Tod säen. Es geht um den Fluch aufgrund der verübten Verbrechen und um die Verdammung, die den Feind selbst nach dem Tod verfolgen wird. Alles eine Reaktion auf Butscha, Irpin und andere Verbrechen gegen die Menschlichkeit, die Russland vor den Augen der Welt begangen hat. Das Lied tritt wie ein fortwährendes Versprechen einer universellen Gerechtigkeit auf: Wer auch immer dem Bösen dient und das Böse schafft, wird selbst leiden. Letztlich keine Poesie, sondern nichts als kalte Wut.

Futurperfekt (»Wie geht es dir?«)

Allmählich wurde der Krieg Teil des Alltagslebens. Ein Leben in unsicheren Zeiten lässt den Verstand Fragen stellen wie einen blinkenden Leuchtturm, nur dass sich das Leuchten mit epileptischer Intensität beschleunigt. Das wurde von Stas Koroljow und seiner Band musikalisch umgesetzt. Das Lied heißt »Jakyj den wijny« (dt.: »Welchen Tag des Krieges haben wir?«) und basiert auf ukrainischen Google-Suchanfragen. Textlich basiert er auf den häufigsten Fragen, die Menschen zu Beginn des Krieges stellten, also aus Suchtrends. Es entsteht ein Koordinatensystem für Hoffnungen, Ängste, Eskapismus und andere psychologische Selbstschutztaktiken, die die Menschen zur seelischen Anpassung einsetzten und weiterhin einsetzen. Das Lied ist traurig und ironisch, rockig und jazzig, absurd und lebhaft. Es werden existenzielle Motive mit äußerst praktischen, lustigen oder pragmatischen Suchen kombiniert (von »Wie zeichnet man eine Katze?« bis »Wer sind wir?«). Das Lied springt von Genre zu Genre, was es zu einem unikalen immersiven musikalischen Spiel macht, bei dem die generative Natur die Musik übernimmt und die Melodie fast ruiniert: Der musikalische Fluss stockt und eine totale Zerstörung des Tracks erscheint unausweichlich. Dann steht die Musik wie Phoenix aus der Asche auf und eine harmonische Melodie mit dem Gefühl des Schwebens lässt die Hörer:innen aufatmen.

Stas Koroljow und seine Band hatten einige Monate später einen weiteren klugen, erfrischenden und wirkmächtigen Auftritt, als sie auf Youtube hingebungsvoll einen ihrer neuen Tracks wieder und wieder als »Unendliches Konzert« spielten. Die Band hatte zuvor erklärt, sie würden ihn so lange spielen, bis sie eine Million Hrywnja für das freiwillige Sanitätsbataillon »Hospitaljery« gesammelt haben. Dafür brauchten sie schließlich knapp über sechs Stunden. Sie nutzten die Möglichkeiten von Youtube für eine »Gamifizierung« der Spendenaktion: An einigen Stellen konnten die Zuschauer:innen Einfluss auf die Musik nehmen und das Genre, die Instrumente oder das Tempo bestimmen, oder es wurden Textzeilen hinzugefügt. 100.000 Menschen spendeten bei diesem besonderen Benefizkonzert. Das Konzert war zugleich ein starkes Statement: Es war der bis dahin sprichwörtlich finsterste Monat des Krieges und es kam mitunter zu Stromausfällen. Jemand vom Militär oranisierte eine stabile Internetverbindung über »Starlink«, um den Stream überhaupt zu ermöglichen. Das Konzert wurde zu einem digitalen Treffpunkt, Menschen kamen online und offline zur Unterstützung zusammen. Es war praktisch eine Realityshow, bei der die Musiker das Publikum mit einer Macht über sich selbst ausstatteten. Das wurde gegen Ende des Auftritts auch zum Thema im Chat: Die Menschen spendeten nun aus Empathie, weil sie sahen, dass die Band müde wird. Es war ein sehr starkes Statement, bei dem die Musik klar und funktional dem nationalen Kampf gegen die russischen Besatzer:innen gewidmet wurde. Das Spendenergebnis wurde über die musikalische Darbietung selbst gestellt. Der Beitrag der Musiker wurde bis zur Erschöpfung – und darüber hinaus – geleistet.

Neben dem Gitarristen Stas Koroljow spielte Andrij Barmalij am Saxophon. Er hat eines der jüngeren wunderbaren Stücke in einem Soloprojekt herausgebracht. Es heißt »Ja normalno« (»Mir geht’s okay«), weil Krieg alles Mögliche ist, aber eben nicht normal. Quirlige Saxophonklänge fließen über elektronischem Schlagzeug. Das Ganze produziert als Video der Einsamkeit und des Wahnsinns, mit vielen Schattierungen und cineastischer Raffinesse in jeder Szene. Es ist die richtige Linse, um sich dem anzunähern, was in diesen Tagen als grundlegende »Normalität« bezeichnet werden könnte. Sog. Drill Beats begleiten die quirligen Muster des minimalistischen Saxophons. Das Ende ist ernüchternd: Wach’ auf, es gibt kein »normal« mehr.

Der sanfte, aber düstere Song der Frontsanitäterin Anastassija Schewtschenko ist ein kraftvolles soziales Gegengift gegen die Tendenzen, die Armee zu glorifizieren. Es verkündet »Heroi wmyrajut« (»Held:innen sterben«), und spricht von dem Schmerz, der jeden Tag des Krieges begleitet. Die Art von Beziehungen, die im Krieg entstehen, wenn der Mensch nebenan dir den Rücken freihalten muss und man sich gegenseitig das Leben anvertraut, ist etwas, das kaum zu vermitteln ist. Es bricht einem wieder und wieder ans Herz, weil der Tod stets in der Nähe ist. Und man kann viele Dinge glauben, außer eben den Schwachsinn, dass Held:innen nicht sterben. Sie tun es, und zwar oft. Und das ist die Situation, in der die Frontsanitäter:innen jeden Tag ihre Balance finden müssen. Sie sind die Grenzschützer:innen des Lebens; sie sind da, um zu retten; sie sind täglich Botschafter:innen des Überlebens der Held:innen, und sie wissen genau, dass die besten Anstrengungen manchmal nicht ausreichen und der Tod kommt. Das Setup des Videos ist die Unterwelt, und Charon bringt mit seinem Boot Menschen von einer Seite zur anderen (Charon ist in der griechischen Mythologie der Bootsmann, der die Toten über einen Fluss in die Unterwelt bringt, Anm. d. Red.). Es klingt wie eine Legende, wie eine Hymne auf das Heldentum, allerdings in dessen wahren, realen Sinn. Es geht nämlich ungeachtet all der anderen starken, positiven Epitheta wie »tapfer« oder »unerschütterlich« auch sehr stark um Finsternis und Leere, die sich nach dem Tod eines Menschen einstellt, selbst wenn er/sie als »Held:in« betrachtet wird. Diese Held:innen waren für viele eine ganze Welt, und die ist jetzt verschwunden.

Musik kann durch ihre Intensität große Zukunftsszenarien entwerfen. Sie weckt nicht nur Erinnerungen und wirkt nicht nur im jetzigen Augenblick, sondern weckt auch die Vorstellungskraft für die Zukunft. Das Lied »Sawtra« (»Morgen«) von Surface Tension handelt genau davon. Es beginnt mit einem rockigen, energetischen Vibe und handelt von der Zukunft, die als reale, tatsächlich existierende Kategorie hingestellt wird. Für ein Land, das um seine Existenz kämpft, ist es an sich eine gute Nachricht. Einmal eine Zukunft haben zu können ist herrlich und ein Luxus. Zukunft wird zu einem Akt der Freude und zu einem Statement, durch den Traum von Zeit mit der Familie, einem lauschigen Garten, Ausflügen mit Freund:innen, friedlichen, faulen Tagen und ziellosen Aktionen wie Nichtstun. Weiterzuleben, am Leben zu sein, wird zu einem Akt an sich. Im zweiten Teil kehrt der Song zurück zur Realität, in dem jede:r aufgerufen wird, die Dinge wieder anzugehen: Der Krieg ist nicht vorbei, die Russ:innen sind immer noch in der Ukraine, also lasst uns zusammenarbeiten, um den ukrainischen Traum wahr werden zu lassen, nämlich Russland zurück nach Russland zu schicken.

Fazit

Die Ukraine geht Song für Song ihren Weg durch den Krieg gegen einen bösartigen, wahnsinnigen Nachbarn. Die Ukrainer:innen haben sich auf den Krieg eingestellt, was sich auch in der Musik zeigt. Sie hat den Krieg aus zahlreichen Perspektiven thematisiert und musikalisch interpretiert. Sie hat geholfen, die Menschen zu vereinen, zuversichtlich zu bleiben, zu trauern, Hoffnung zu haben. Musik und Gesang sind für viele Ukrainer:innen etwas zutiefst Natürliches, denn sie blicken auf eine lange Musiktradition im Kontext des ukrainischen Kampfes für Freiheit und Unabhängigkeit von Russland zurück. Daher verwundert es nicht, dass viele folkloristische Motive durch zeitgenössische Aufarbeitung eine Reinkarnation erleben. War die ukrainische populäre Musik lange Zeit auch von der Russischen Sprache geprägt, wird nun überwiegend Ukrainisch gesungen. Viele Musiker:innen übersetzen auch ihre alten Hits ins Ukrainische, um sie nicht dem Vergessen anheimfallen zu lassen.

Das alles bedeutet einen dramatischen Schub für die ukrainische Kultur und deren Wert für die Nation. Weil es eben auch die Rettung ihrer von Russland bedrohten unikalen und reichen Kultur ist, wofür die Ukraine kämpft. Der Wandel, der sich in der ukrainischen Musiklandschaft vollzieht, setzt den langen Kampf gegen den sowjetisch-russischen Minderwertigkeitskomplex fort. Es ist an der Zeit, die Ukraine, ihre Musik und Kultur endlich aus der toxischen russischen Perspektive herauszulösen und zu entkolonialisieren. Wenn Reden scheitert, ist es an der Zeit zu singen.

Übersetzung aus dem Englischen: Hartmut Schröder

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Analyse

Ukrainische Künstler:innen im Widerstand gegen die großangelegte Invasion: Dekolonialisierung in der Kunst nach dem 24. Februar 2022

Von Svitlana Biedarieva
Dieser Beitrag konzentriert sich auf die Transformationen, die in der ukrainischen Kunst seit Beginn der vollumfänglichen Invasion im Februar 2022 gegen die Ukraine erfolgt sind. Es wird untersucht, wie die Arbeiten der Künstler:innen die Zugehörigkeit der Ukraine zum postsowjetischen Raum im Kontext kolonialer russischer Narrative neu interpretieren und bestreiten. Sie thematisieren darüber hinaus aus dekolonialer Perspektive das Trauma der anhaltenden, weit verbreiteten militärischen Gewalt durch Russland, der die Menschen ausgesetzt sind. Diskutiert wird auch der politisch-künstlerische Widerstand gegen die Invasion.
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