8. März, Feminismus und Krieg in der Ukraine: Neue Herausforderungen, neue Möglichkeiten

Von Olena Strelnyk (Technische Universität München, München)

Zusammenfassung
Lange war der 8. März in der Ukraine der Tag, an dem die Frauen des Landes Blumen und Konfekt erhielten. In den letzten Jahren hat sich die Bedeutung des »Internationalen Frauentags« allerdings allmählich gewandelt, zum Beispiel durch Frauenmärsche, die Rechte statt Blumen einforderten, wodurch der Feiertag politisiert wurde. Angesichts des russischen Angriffskrieges ergeben sich für den ukrainischen Feminismus neue Herausforderungen, aber auch Chancen.

Mehr als ein Jahrzehnt lang haben ukrainische Feministinnen am 8. März den Internationalen Frauentag begangen, Frauenmärsche veranstaltet und die Öffentlichkeit auf Genderungleichheit, Sexismus und Gewalt gegen Frauen aufmerksam gemacht. Der vorliegende Beitrag entstand Ende Februar 2023, dem zweiten Jahr infolge, in dem es keine Frauenmärsche gibt, weil Russland einen großangelegten Krieg gegen die Ukraine führt (friedliche Versammlungen sind unter dem Kriegsrecht verboten). Zur geleichen Zeit stehen Mädchen und Frauen durch den Krieg vor beispiellosen Herausforderungen.

Der 8. März in der Ukraine: Von staatlicher Ideologie zu Blumen und Konfekt

Die Historikerin Oksana Kis beschreibt in ihrem Artikel »Stolen holiday: historical transformations of the meaning of March 8th« die Evolution, auf welche Art und Weise der 8. März in der UdSSR und in der postsowjetischen Ukraine begangen wurde. Der 8. März hatte 1921 den Status eines staatlichen Feiertags erhalten. In den ersten sowjetischen Jahrzehnten wurde er im Kontext eines Projekts zur Emanzipation der Frau begangen. Die politische Rhetorik jener Zeiten strotzte von Parolen über eine »Befreiung der Frauen von der Küchensklaverei« und Solidarität zwischen Arbeiterinnen und Bäuerinnen im Klassenkampf. Das Thema Mutterschaft erfuhr allmählich einen besonderen Widerhall, insbesondere in der Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg. Das korrespondierte vollauf mit der geburtenfördernden Politik der Kommunistischen Partei und der Regierung angesichts der hohen Bevölkerungsverluste durch den Zweiten Weltkrieg [laut offiziellen ukrainischen Angaben fielen mindestens 8 Mio. Menschen der Sowjetukraine dem Krieg zum Opfer, wissenschaftliche Schätzungen gehen von mehr als 6,8 Mio. Menschen bzw. 16,3 Prozent der Bevölkerung aus, Anm. d. Red.].

Ein Wendepunkt für die Art und Weise, in der der Frauentag begangen wurde, war das Jahr 1965, als der 8. März den Status eines arbeitsfreien Tages erhielt. Die Bedeutung des Feiertags verschob sich nun allmählich in Richtung einer Entpolitisierung, indem sich das Geschehen in den privaten und familiären Bereich verlagerte. Der 8. März verlor schrittweise seine politische Bedeutung und verwandelte sich in einen Feiertag aus Anlass von »Frühling, ewiger Weiblichkeit und Liebe«.

Nach dem Zusammenbruch der UdSSR und der Erlangung der Unabhängigkeit der Ukraine wurde der Feiertag in den 1990er Jahren weiterhin mit großer Begeisterung begangen. »Männliche Chefs von Unternehmen und Institutionen gratulierten den Frauen weiterhin ›zum Feiertag des Frühlings, der Schönheit und Weiblichkeit‹« und überschütteten sie dabei mit Wünschen für »weibliches Glück«, während gewöhnliche Männer an diesem Tag unweigerlich mit Blumen und Konfekt aufwarteten und demonstrativ das Geschirr wuschen, wie Oksana Kis an anderer Stelle anmerkt.

Dieser Gehalt des Feiertages und die Art, in der er begangen wird, haben sich bis heute erhalten, allerdings mit einem gewissen Rückgang, was die Popularität anbelangt.

Einer repräsentativen Umfrage aus dem Jahr 2020 zufolge hatten 77 Prozent der Befragten die Absicht, in diesem Jahr den 8. März zu begehen. 19 Prozent gaben an, dass sie den Tag nicht feiern würden. Im Vergleich zu einer ähnlichen Studie aus dem Jahr 2012 hatte die Anzahl derjenigen, die den Tag nicht begehen, leicht zugenommen. Interessant ist, dass es unter Männern mehr Personen gab, die den 8. März begehen wollen, als unter Frauen. 11 Prozent der Befragten betrachteten den 8. März als einen gewöhnlichen Tag (der Anteil der Befragten, die sich so äußerten, hatte sich seit 2012 verdoppelt), bemerkenswert ist dabei, dass mehr Frauen der Aussage zustimmten, dass es sich um einen gewöhnlichen Tag, und nicht um einen Feiertag handelt (13 Prozent), verglichen mit acht Prozent der Männer. Für die meisten Befragten (68 Prozent) ist der 8. März ein guter Anlass, für Frauen etwas Nettes zu tun. Lediglich neun Prozent betrachteten diesen Feiertag als Symbol des Kampfes der Frauen für ihre Rechte. Und acht Prozent sprachen vom 8. März als einem Feiertag aus sowjetischer Vergangenheit. Letztere Äußerung kam eher von älteren Befragten.

Re-Politisierung des 8. März im Lichte des russischen Angriffskrieges

Das ukrainische Parlament hat im Februar 2023 ein Gesetzesentwurf über öffentliche Feiertage in der Ukraine eingebracht. Er sieht vor, dass der 8. März als Feiertag abgeschafft werden soll, da er »vom Moskauer Besatzungsregime etabliert wurde, um dessen Ansichten zur Rolle und Stellung der Frau zu verbreiten «. Vorgesehen ist, anstelle des 8. März einen »Ukrainischen Frauentag« am 25. Februar zu begehen, dem Geburtsdatum der ukrainischen Schriftstellerin Lessja Ukrainka, die auch politisch aktiv war. Es wird auch vorgeschlagen, »auf offizieller Ebene den Muttertag anzuerkennen, der in der Ukraine traditionell, seit über hundert Jahren begangen wird«.

Das ist bereits der zweite Versuch, den 8. März als offiziellen und arbeitsfreien Feiertag abzuschaffen. Anfang 2017 hatte das Ukrainische Institut für Nationale Erinnerung unter dem Vorwand der Entkommunisierung versucht, den Status des 8. März aufzuheben, wobei es auf dessen angeblich »bolschewistischen« Ursprung verwies, wie auch darauf, dass der 8. März nur in den ehemaligen Satellitenstaaten der UdSSR bzw. den früheren Ländern des sozialistischen Lagers ein gesetzlicher Feiertag ist.

Der erwähnten Umfrage von 2020 zufolge gab die Mehrheit der Befragten (87 Prozent) an, dass sie eine Abschaffung des 8. März nicht unterstützen (2012 waren es noch 91 Prozent). Nur 9 Prozent sprachen sich für eine Abschaffung aus; im Westen der Ukraine waren es allerdings 18 Prozent.

Bemerkenswert ist, dass ukrainische Feministinnen sich intensiv gegen diese Initiativen wenden. Das gilt sowohl für eine Abschaffung des 8. März wie auch für dessen Ersetzung durch einen traditionalistischen »Ukrainischen Frauentag« oder den Muttertag.

Der 8. März ist in der Tat lange Zeit vor allem in den Ländern des sozialistischen Blocks begangen worden. Allerdings erhielt der Tag 1977 auf Beschluss der Vereinten Nationen den Status des Internationalen Frauentags bzw. des »Tags der Vereinten Nationen für die Rechte der Frau und den Weltfrieden«, in Erinnerung an die kulturellen, politischen und sozio-ökonomischen Leistungen von Frauen. Über zehn Jahre hinweg haben ukrainische Feministinnen versucht, dem 8. März seinen politischen Gehalt zurückzugeben. Eine der wichtigen Formen des Aktivismus waren in diesem Kontext die Frauenmärsche, die in mehreren ukrainischen Städten stattfanden.

»Blumen gehören aufs Beet, Rechte gehören den Frauen«: die ukraineweite Initiative »Frauenmarsch«

Die ersten Organisationen, deren Ziele und Aktivitäten als feministisch bezeichnet werden kann, begannen ihre Tätigkeit in der zweiten Hälfte der 1990er Jahre. Derzeit ist die Palette feministischer Organisationen und Initiativen in der Ukraine vielfältig, und zwar sowohl hinsichtlich ihrer Arbeit als auch in ihrer ideologischen Ausrichtung. Sie spielen bei dem Einsatz für Frauenrechte eine bedeutende Rolle und werden intensiv von internationalen Organisationen und Stiftungen unterstützt.

Die Euromaidan-Proteste (2013–2014) führten zu einer Aktivierung der Zivilgesellschaft, und auch zu einem verstärkten Aktivismus von feministischen Gruppen, wodurch diese in der Öffentlichkeit deutlicher sichtbar wurden. Seither hat sich auf der Graswurzelebene ein feministischer Aktivismus herausgebildet, der sich insbesondere mit Straßenprotesten, Märschen und Straßenaktionen zum Beispiel für eine Ratifizierung des Istanbuler Übereinkommens zur Verhütung und Bekämpfung von Gewalt gegen Frauen und häuslicher Gewalt einsetzt. Die sichtbarste Form dieses Aktivismus sind die Frauenmärsche am Internationalen Tag der Frauenrechte am 8. März. Der erste dieser Märsche hatte 2008 in Kyjiw auf Initiative des anarchistischen Feministinnenkollektivs »Swoboda« (dt.: »Freiheit«) stattgefunden. Damals marschierten 30 bis 40 Personen über den Chreschtschatyk, den zentralen Boulevard in Kyjiw. Die geographische Verbreitung der Märsche, die Anzahl der Teilnehmer:innen sowie die Bandbreite der Parolen und Forderungen wurde allmählich größer. Feministische Märsche wurden alljährlich in vielen Städten der Ukraine abgehalten. Sie wurden größer und lenkten, im Unterschied zu dessen weit verbreiteter, traditionalistischer Interpretation als »Feiertags des Frühlings und der Weiblichkeit«, das Augenmerk der Öffentlichkeit auf den politischen Gehalt des 8. März. Nach einiger Zeit wurde eine nationale Initiative der Frauenmärsche gebildet, die Informationen und juristische und andere Unterstützung für die Märsche vor Ort bereitstellte sowie eine gemeinsame Agenda erstellte, innerhalb derer jede Organisation ihre Parolen vorschlagen konnte. So richtete sich zum Beispiel die Agenda 2021, während der Coronapandemie, auf die Herausforderungen für Frauen und Frauenrechte, die sich aus der Pandemie ergaben. Mehrere Jahre hintereinander war die Forderung nach einer Ratifizierung des Istanbuler Übereinkommens des Europarates Teil der Agenda des Frauenmarsches.

Gleichzeitig wurden – als Gegenstück zu den Aktionen für Frauenrechte – in vielen Städten Veranstaltungen zur Förderung »traditioneller Werte« abgehalten. Sie wurden unter anderem von der rechtsradikalen Organisation »Tradition und Ordnung« organisiert.

Die Frauenmärsche waren zwar die sichtbarste, doch nicht die einzige Form des Aktivismus anlässlich des 8. März. So untersuchten beispielsweise ukrainische Journalist:innen alljährlich die Grußadressen von Meinungsführer:innen, die sexistische Konnotation mit dem Feiertag enthielten und Frauen »als Schönheiten und Beschützerinnen« (»berehynja«) preisen; auch Medienbeiträge wurden unter die Lupe genommen. Im Vorfeld des 8. März wurden in ukrainischen Städten Solidaritätswochen für Frauen und thematische Veranstaltungen zu Frauenrechten abgehalten, mit Filmvorführungen, Diskussionsveranstaltungen, Buchvorstellungen usw.

Russlands großangelegte Invasion als Herausforderung für den Feminismus

Der Krieg hat dramatische Folgen für Frauen und deren soziale, bürgerliche, kulturelle und wirtschaftliche Rechte mit sich gebracht. Frauen spielen eine zentrale Rolle bei der Bewältigung der humanitären Lage, sind aber bei den Entscheidungen nicht voll eingebunden, insbesondere auf formaler Ebene. Die Belastung der Frauen durch Care-Arbeit hat beträchtlich zugenommen. Es sind vor allem Frauen und Kinder, die aus dem Land fliehen, da die meisten Männer aufgrund des Kriegsrechts das Land nicht verlassen dürfen. Frauen sind wegen des Krieges dem Risiko sexualisierter Gewalt und (seltener gemeldeter) häuslicher Gewalt ausgesetzt, insbesondere in kriegsnahen Gebieten.

Der Krieg betrifft auf dramatische Weise auch die Frauenbewegung in der Ukraine. Oft sind es Frauenorganisationen, die bei der Bewältigung der humanitären Herausforderungen und Versorgung der notleidenden Bevölkerungsgruppen Hilfe bereitstellen. So verwandelte sich die nationale Initiative »Frauenmarsch« zu einem der größten Stäbe für humanitäre Hilfe in der Ukraine, der vulnerable Gruppen von Frauen unterstützt (https://marsh-zhinok.com.ua/).

Die Positionierung der feministischen Bewegung im Kontext des Krieges kann problematisch sein. Bei der Betrachtung dieser Herausforderungen sollte zwischen öffentlicher und politischer Legitimation der feministischen Bewegung bzw. deren Forderungen unterschieden werden. Hinsichtlich der öffentlichen Legitimierung der Forderungen der feministischen Bewegung sind keine repräsentativen Daten verfügbar, wie groß der Anteil der ukrainischen Gesellschaft ist, die dem Feminismus zuneigt. Allerdings werden feministische Ideen, das haben Beobachtungen der Autorin ergeben, bei Mädchen und jungen Frauen immer populärer. Feministische und dem Feminismus zuneigende Ressourcen spielen eine führende Rolle, wenn es um die Verbreitung feministischer Ideen geht. Zu nennen wären hier: »Respekt. Eine Kampagne gegen Sexismus in Medien und Politik«, »Gender im Detail«, »Frauen sind 50 Prozent des Erfolgs«, ZMINA, »hromadske«, »WoMo«, »UpDate«, »Wonder« u.v.m.

Der Feminismus in der Ukraine steht vor der Herausforderung, neue Botschaften herauszuarbeiten, um das Thema Frauenrechte zu vermitteln, insbesondere angesichts des Umstandes, dass während des Krieges Rechte von Männern eingeschränkt sind und Männer einen Hauptteil der Verantwortung für die Verteidigung des Staates tragen. Ab und zu gibt es bei Diskussionen in den sozialen Netzwerken Vorwürfe gegen ukrainische Feministinnen, dass diese sich nicht für Rechte der Männer einsetzten und sich nicht dagegen wendeten, dass deren Rechte während des Krieges eingeschränkt werden.

Die mediale Situation in der Ukraine ist im Allgemeinen günstig für eine ausgewogene Berichterstattung darüber, dass Frauen und Männer gleichermaßen zur Verteidigung des Landes und der Überwindung der Herausforderungen durch den Krieg beitragen: Berichte über Bewältigungsstrategien von Frauen, über Widerstand, über ihre Führungsrolle und ihren Einsatz im Krieg, über die Beteiligung von Frauen an der Landesverteidigung, über die Anerkennung des Beitrags von Frauen für einen Sieg werden im medialen Diskurs der Ukraine immer sichtbarer. Das ist auf die erhöhte Professionalität und Gendersensibilität der ukrainischen Journalist:innen zurückzuführen. Und auf die Arbeit einer beträchtlichen Anzahl von Projekten sowie den Einfluss, den Zivilgesellschaft und Aktivistinnen auf der Graswurzelebene auf die ukrainischen Medien ausüben. Dabei geht es hier nicht nur um die Medienrealität. Feministische Organisationen stellen in der Ukraine in großem Maße humanitäre Hilfe bereit und tragen zur Stärkung der Gemeinschaften bei.

Hinsichtlich der politischen Legitimierung, also des Einflusses der feministischen Bewegung auf politische Entscheidungen, besteht die Stärke des ukrainischen Feminismus darin, dass durch ihn die Werte Menschenrechte und Gendergleichheit gefördert werden – im Kontrast zur »Russischen Welt« (»Russkij mir«). Genderfragen und Sexualität stehen in der russischen Kampagne gegen die Europäische Union und den Westen an zentraler Stelle, und dieser Kulturkampf hat einen großen Anteil bei den Versuchen, den aktuellen Krieg gegen die Ukraine zu legitimieren. »Der Westen wird in der russischen Propaganda […] als eine ›auf dem Kopf stehende Welt‹ dargestellt, die der Selbstvernichtung entgegenstrebt und sich dem gesunden Menschenverstand widersetzt. Die Länder der EU werden voller Schrecken als Orte porträtiert, in denen Kinder aus normalen Familien herausgenommen werden, um sie an Schwule und Pädophile zu übergeben; wo Ehen zerrissen werden während gleichzeitig verlogen darüber gestritten wird, wie Frauen vor Gewalt zu schützen wären; und wo zu guter Letzt Teenager im Namen einer kranken ›Genderideologie‹ einem zwangsweisen Geschlechtswechsel unterworfen werden«, stellen Graff und Korolczuk fest.

Der großangelegte Krieg Russlands gegen die Ukraine hat die ukrainischen Bestrebungen nach einer Integration mit Europa unwiderruflich zementiert. Das schafft neue Impulse dafür, dass eine Politik der Gendergleichheit umgesetzt werden kann. Ein Beispiel ist hier die Ratifizierung des Istanbuler Übereinkommens, das die Ukraine 2011 unterzeichnet hatte. Die Frage der Ratifizierung war lange Zeit einer der problematischsten Aspekte der ukrainischen Gesetzgebung gewesen. Zwei Jahre in Folge hatte die Petition für eine Ratifizierung des Übereinkommens die nötigen 25.000 Stimmen erreicht. Gleichwohl blieb die Ratifizierung vorerst aus, weil es Widerstand durch den Ukrainischen Rat der Kirchen und religiöse Organisationen sowie durch konservative »Anti-Gender-Initiativen« gab. Die Ratifizierung des Übereinkommens war jahrelang ein zentrales Element der Agenda der Frauenmärsche, ganz wie die Advocacy-Kampagne von Frauenorganisationen und Initiativgruppen. Am 20. Juni 2022, zu einer Zeit, da der Status der Ukraine als EU-Beitrittskandidat diskutiert und verhandelt wurde [den Status als EU-Beitrittskandidat erhielt die Ukraine vier Tage später, am 24. Juni, Anm. d. Red.], ratifizierte das ukrainische Parlament endlich das Übereinkommen. Es gab natürlich Befürchtungen, dass dieser Schritt allein deshalb unternommen wurde, um schneller den Status eines Beitrittskandidaten zu erlangen. Gleichwohl stellte die Ratifizierung neue Instrumente für Frauenrechte zur Vorbeugung und Bekämpfung von genderbasierter Gewalt bereit.

Angesichts des aktuellen Kontexts dürfte die sogenannte Anti-Gender-Bewegung in der Ukraine wohl an symbolischem Gewicht und an Einfluss auf politische Entscheidungen verlieren. Allerdings wird diese Bewegung versuchen, ihre Botschaften an den veränderten politischen Kontext anzupassen.

Fazit

Der großangelegte Krieg in der Ukraine trifft die gesamte Gesellschaft, sämtliche Prozesse, Institutionen und Praktiken. Er hat Auswirkungen auf die gesellschaftliche Position von Mädchen und Frauen wie auch die der Frauenbewegung. Der Krieg hat den ukrainischen Feminismus vor zahlreiche Herausforderungen gestellt. Es gibt eine Reihe struktureller Veränderungen in Bezug auf Frauenrechte: Leben und Sicherheit sind gefährdet, die wirtschaftliche Lage von Frauen verschlechtert sich, es gibt genderbasierte Gewalt, es mangelt an Angeboten zur Kinderbetreuung, die Sozialausgaben für Frauen und vulnerable Gruppen werden gekürzt, und es erfolgen neoliberale Arbeitsmarktreformen des. Diese Herausforderungen dürften während des Krieges und beim anschließenden Wiederaufbau den Ausgangspunkt für politische Forderungen und die Aktivitäten von feministischen Organisationen bilden. Für diese Probleme Lösungen zu erreichen, wird die Möglichkeiten der Frauenbewegung allein bei Weitem übersteigen. Ich bin jedoch überzeugt, dass eine kraftvolle feministische Frauenbewegung als Garantin gegen einen konservativen Rückschlag auftreten wird, der nach dem Ende des Krieges als dessen Folge zu erwarten ist und wieder gut besuchte landesweite Frauenmärsche für eine freie, friedliche – und gender-gerechte – Ukraine organisieren wird.

Übersetzung aus dem Englischen: Hartmut Schröder

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