Die existenzielle Frage »Sein oder Nichtsein?« hat die Ukraine klar beantwortet

Von Eduard Klein (Forschungsstelle Osteuropa an der Universität Bremen)

Zusammenfassung
Angesichts der militärischen Überlegenheit Russlands und der Wahrnehmung der Ukraine als fragiler Staat glaubten nur wenige an die Ukraine. Der ukrainische Widerstand und die gesellschaftliche Mobilisierung haben viele überrascht.

Der Krieg Russlands gegen die Ukraine geht am 24. Februar 2023 nicht, wie es aktuell oft heißt, in sein zweites Jahr, sondern in sein neuntes. Er begann bereits mit der militärischen Besetzung der Krim am 20. Februar 2014, ihrer völkerrechtswidrigen Annexion einen Monat später und den anschließenden Kämpfen im Donbas, die laut gängigen Definitionen bereits ein Krieg waren.

Die russische de jure Anerkennung der de facto längst kontrollierten »Volksrepubliken« in Donezk und Luhansk vor einem Jahr am 22. Februar 2022 führte schließlich zur großangelegten russischen Invasion, da Russland einen angeblichen »Genozid« dort verhindern wollte. Der Krieg wurde nun in einer völlig neuen Intensität geführt, denn Russland griff die Ukraine mit mehr als 150.000 Soldaten und deutlich überlegener militärischer Ausrüstung gleich von drei Seiten an. Das Ausmaß der Zerstörung ist immens, wie täglich neue Bilder aus der Ukraine zeigen. Die Brutalität und Gewalt der russischen Truppen gegenüber der ukrainischen Zivilbevölkerung hat – zahlreiche gut dokumentierte Kriegs- und Menschenrechtsverbrechen belegen dies – drastisch zugenommen. Das von Russland besetzte Territorium ist, trotz erfolgreicher Rückeroberungen durch die Ukraine, von sieben auf etwa 20 Prozent des Landes gestiegen. Die Zahl der Vertrieben und der Todesopfer hat sich vervielfacht (laut »offiziellen« Angaben der »Behörden« hatte es in der »Volksrepublik Luhansk« im gesamten Jahr 2021 nur ein (!) ziviles Todesopfer gegeben). Da es für Russland nach den ersten Wochen des Blitzkriegs militärisch nicht mehr gut lief und es sich aus der Hälfte der eroberten Gebiete wieder zurückziehen musste, änderte es in den vergangenen Monaten seine Taktik: Mit massiven Angriffen auf die kritische Infrastruktur, die eine humanitäre Krise herbeiführen sollten, versuchte man den Widerstandswillen der Bevölkerung zu brechen.

Als die großangelegte Invasion vor einem Jahr begann, trauten angesichts der klaren militärischen Überlegenheit Russlands und der Wahrnehmung der Ukraine als schwacher oder gar fragiler Staat nur wenige dem angegriffenen Land zu, länger als ein paar Wochen zu überleben. Der entschlossene Widerstand und die große gesellschaftliche Mobilisierung haben viele überrascht. Russland verfehlte seine Ziele klar, sowohl militärisch als auch politisch: Der Blitzangriff auf die Hauptstadt Kyjiw, der einen Regimewechsel zum Ziel hatte, wurde von den Ukrainer:innen erfolgreich abgewehrt. Präsident Selenskyj ist (trotz 12 Attentatsversuchen) weiterhin im Amt. Das von vielen als »in Ost und West gespaltene« bezeichnete Land ist nicht auseinandergebrochen, sondern hat sich vielmehr konsolidiert. Die Ukrainer:innen sind enger zusammengerückt und als politische Nation zusammengewachsen. Selbst die im Süden und Osten der Ukraine lebende russophile Bevölkerung, die Moskau angeblich »befreien« wollte, hat sich angesichts der erbarmungslosen Kriegsführung insbesondere in diesen Regionen endgültig von Russland abgewandt.

Die Existenz der Ukraine als Nation, die von Russlands Führung und Propaganda bestritten wird, ist international sichtbarer denn je. Das »Time« Magazin kürte den ukrainischen Präsidenten Wolodymyr Selenskyj zur »Person des Jahres«, der »Economist« die Ukraine zum »Land des Jahres« und das EU-Parlament verlieh den renommierten »Sacharow-Preis« an das gesamte »mutige ukrainische Volk«. Als Selenskyj am 21. Dezember 2022 bei seiner ersten Auslandsreise seit Beginn der Invasion vor dem US-Kongress in Washington sprach, erfuhr er einen Rückhalt wie vor ihm kaum ein anderer Staatschef – beim Zählen der »Standing Ovations« während Selenskyjs fulminanter Rede kamen Beobachter:innen gar nicht mehr hinterher.

Laut Google zählt die Suchanfrage »Ukraine« zu den Top-3 Suchbegriffen des letzten Jahres. Die ukrainische Sprache – aus russischer Sicht bloß ein russischer Dialekt – ist populärer denn je: Mehr als eine Million Menschen auf der ganzen Welt haben im letzten Jahr damit begonnen, Ukrainisch zu lernen. Es gibt ein gewachsenes Interesse an Konzerten, Lesungen und Ausstellungen ukrainischer Kulturschaffender, welche die ukrainische Kultur, die es laut Russland angeblich nicht gibt, in die ganze Welt tragen. Auch in meiner eigenen Zunft, der Osteuropaforschung, die sehr auf Russland fokussiert war, setzt ein Umdenkprozess ein: Die Ukraine tritt aus dem Schatten Russlands und rückt stärker in das Forschungsinteresse (wie andere unabhängige postsowjetische Staaten auch).

Je mehr Russland also versucht, die Ukraine als Staat, Nation und Volk gewaltsam zu zerstören, desto entschlossener nach innen und »existenter« nach außen wird sie. Der neoimperialistische Plan Putins, die freie und unabhängige Ukraine zu unterwerfen (und damit die aus seiner Sicht »größte geopolitische Katastrophe« des 20. Jahrhunderts ein Stück weit zu revidieren), ist angesichts der Resilienz der Ukrainer:innen, die ihre 1991 erlangte Unabhängigkeit und 2014 erkämpfte Würde nicht wieder aufgeben wollen, nicht aufgegangen. Statt des russischen »Empirebuildings« erleben wir ein ukrainisches »Nationbuilding«, zu dem Putin, entgegen seiner eigentlichen Ambitionen, selbst am meisten beigetragen hat. Und die Ukrainer:innen haben die existenzielle Frage »Sein oder Nichtsein?«, vor der sie angesichts der großangelegten Invasion vor einem Jahr standen, eindrucksvoll beantwortet: Ja, wir sind noch da oder wie US-Präsident Joe Biden es gerade bei seinem Überraschungsbesuch in der Ukraine formulierte: »Kyjiw steht, die Ukraine steht!«.

Trotz des hohen Blutzolls und der Sehnsucht nach Frieden und Normalität – die übrigens nirgends so groß sein dürfte wie in der Ukraine, was in der deutschen Debatte gern übersehen wird – lehnt die überwältigende Mehrheit der Ukrainer:innen territoriale Konzessionen als »Preis« für einen Waffenstillstand strikt ab. Denn sie wissen besser als alle anderen, dass ihnen unter russischer Besatzung Verfolgung, Folter, Deportation, Terror und Tod drohen.

Präsident Selenskyj hat eine »Friedensformel« mit 10 Punkten vorgelegt. Russland lehnt diese jedoch ab und besteht weiterhin auf seinen Maximalforderungen. Im Gegenteil, es deutet alles darauf hin, dass Russland seine militärischen Versuche in den kommenden Wochen und Monaten in Form einer neuen Offensive wieder intensiviert. Die Ukrainer:innen sind wiederum überzeugt, dass sie diesen Krieg mit westlicher Unterstützung, die in den kommenden Monaten neu eintreffen wird, gewinnen werden. Sie kämpfen daher weiter, für ihre Freiheit, ihre Würde und unsere gemeinsamen Werte.

Wenn wir die »Zeitenwende« sowie unsere europäischen und humanistischen Werte, die aktuell in der Ukraine auf dem Spiel stehen – einem europäischen Land, das inzwischen ein offizieller EU-Beitrittskandidat ist –, wirklich ernst nehmen, dann müssen wir die Ukraine bis zum Sieg und zu einem gerechten Frieden entschlossen und konstant unterstützen, und zwar humanitär, wirtschaftlich, finanziell, politisch und angesichts der fortdauernden russischen Angriffe vor allem auch: militärisch.

Tun wir das nicht, verraten wir nicht nur unsere eigenen Ideale und 40 Mio. Ukrainerinnen und Ukrainer, die ihre Hoffnungen auf uns setzen. Sondern wir schaffen uns, sollte Russland gewinnen, für die nächsten Jahre und vielleicht sogar Jahrzehnte ein noch größeres sicherheitspolitisches Problem in Europa.

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Analyse

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Von Nikolay Mitrokhin
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