Russlands Passportisierung des Donbas: Von einer eingeschränkten zu einer vollwertigen Staatsbürgerschaft?

Von Fabian Burkhardt, Cindy Wittke, Elia Bescotti (alle Leibniz-Institut für Ost- und Südosteuropaforschung, Regensburg), Maryna Rabinovych (Universität Agder, Norwegen)

Warum ist die Passportisierung des Donbas von Bedeutung?

Die Passportisierung, d. h. die extraterritoriale und massenhafte, in einem Schnellverfahren durchgeführte Einbürgerung von Bewohner:innen des Donbas seit April 2019, zeigt, dass die russische Invasion der territorialen Integrität und Souveränität der Ukraine ein gradueller und kontinuierlicher Prozess ist, der nicht nur mit militärischer Gewalt erfolgt.

Bis Ende Januar 2022 haben nach Angaben der selbsternannten »Volksrepublik Donezk« (»DNR«) und »Volksrepublik Luhansk« (»LNR«) 635.000 ihrer Einwohner:innen russische Pässe erhalten. Je nach der Bevölkerungszahl, die man den Schätzungen zugrunde legt, verfügen somit zwischen 22 und 35 Prozent der Bevölkerung der »Volksrepubliken« über russische Pässe.

Gegenwärtig sind insbesondere die möglichen militärischen Folgen der Passportierung von Relevanz: Laut Verfassung ist die Russische Föderation verpflichtet, ihre Bürger:innen auch außerhalb des russischen Staatsgebiets zu schützen. Das föderale Gesetz »Über die Verteidigung« ermächtigt den Präsidenten, Truppen ins Ausland zu entsenden, um russische Staatsbürger:innen vor einem bewaffneten Angriff zu schützen. Russland berief sich bereits im Konflikt mit Georgien (2008) und der Ukraine (2014) auf dieses Gesetz, um militärische Interventionen zu rechtfertigen.

Vertreter der »DNR« und der »LNR« sowie russische Offizielle warnten wiederholt vor angeblichen »Provokationen« seitens der Ukraine oder Plänen zur gewaltsamen Rückeroberung der nicht von der ukrainischen Regierung kontrollierten Gebiete im Donbas, was zu einem »Völkermord« an der russischen Bevölkerung führen würde. Regierungsvertreter:innen der Vereinigten Staaten erklärten, dass Russland eine Operation unter falscher Flagge durchführen könnte, um einen Vorwand für eine Intervention zu schaffen.

Während international noch verhandelt wird und eine militärische Eskalation verhindert werden könnte, verändert Russland parallel den Status quo in den »Volksrepubliken« zu seinen Gunsten, indem es den Bewohner:innen des Donbas Pässe aushändigt und Sozialleistungen gewährt. Russland hat ihnen bereits das Wahlrecht für die Teilnahme am Verfassungsplebiszit 2020 und den Wahlen zur Staatsduma 2021 eingeräumt. Es bleibt aber festzuhalten, dass die Passportierung eindeutig ein Instrument des extraterritorialen Regierens ist, das die Integration der »Volksrepubliken« mit Russland vertieft. Dennoch wäre es fehlgeleitet, die Passportierung als Anzeichen für eine »schleichende Annexion« zu werten. Denn Moskau bevorzugt derzeit immer noch, den Donbas außerhalb von Russland als Druckmittel nutzen zu können, gerade weil die Frustration Russlands über die Minsker Abkommen gewachsen ist.

Die russische Staatsbürgerschaft wird für einen unbegrenzten Zeitraum verliehen, weshalb die Passportierung über die aktuelle politische Situation hinaus langfristige Auswirkungen haben wird. Das ist ein Umstand, der für jedes mögliche Nachkriegsszenario in Betracht gezogen werden muss. Die Auswirkungen auf die Souveränität der Ukraine sind somit von langfristiger Natur.

Russland gewährt vermehrt Sozialleistungen und Wahlrechte, die aus der Staatsbürgerschaft erwachsen

Die Passportierung des Donbas begann im April 2019, um Druck auf den neu gewählten ukrainischen Präsidenten Wolodymyr Selenskyj auszuüben. Die Ukraine lässt keine doppelte Staatsbürgerschaft zu und betrachtet die passportisierten Bewohner:innen des Donbas nach wie vor ausschließlich als ukrainische Staatsbürger:innen. Die Vereinigten Staaten und die Europäische Union erkennen diese Pässe nicht an und werten die Passportisierung als Verstoß gegen die Minsker Abkommen.

Im Laufe der Zeit hat die Passportierung dem russisch-ukrainischen Konflikt eine neue Dynamik verliehen, die von unten, also von den Ansprüchen, die sich aus der russischen Staatsbürgerschaft ableiten lassen, ausgeht. Die Bewohner:innen des Donbas werden nämlich nicht automatisch zu vollwertigen Mitgliedern des russischen Staates, sondern zu so genannten »eingeschränkten Bürger:innen« mit spürbar verminderten Ansprüchen auf Rechte und staatliche Leistungen. Dies hat insbesondere damit zu tun, dass viele Bürgerrechte an den Wohnsitz auf dem russischen Staatsgebiet gebunden sind. Doch die meisten Bewohner:innen des Donbas haben ihren Wohnsitz in den »Volksrepubliken«. Daher hatten die passportisierten Bewohner:innen des Donbas etwa keinen Anspruch auf russische Sozialleistungen. Wie wir in dem Forschungsbericht »Passportization, Diminished Citizenship Rights, and the Donbas Vote in Russia’s 2021 Duma Elections« zeigen, wirkte sich die eingeschränkte Staatsbürgerschaft auch auf das Wahlrecht bei den Parlamentswahlen aus. Die Bewohner:innen des Donbas mussten in die russische Region Rostow reisen, um ihre Stimme abzugeben, und sie durften nur für Parteien, nicht aber für Direktkandidierende in Einerwahlkreisen stimmen. Um die Wahlbeteiligung unter den Bürger:innen des Donbas zu steigern, ermöglichte Russland erstmals die elektronische Stimmabgabe in den »Volksrepubliken« über das russische e-Government-Portal Gosuslugi.

Aus unserer Analyse gehen mehrere Erkenntnisse über die politischen Präferenzen der Bevölkerung des Donbas hervor: Mit rund 200.000 abgegebenen Stimmen lag die Wahlbeteiligung unter den passportisierten Bewohner:innen des Donbas bei etwas mehr als 40 Prozent und damit höher als beim Verfassungsreferendum im Jahr 2020, als knapp über 10 Prozent ihre Stimme abgaben. Je nachdem, welche Annahmen man über die Bevölkerungszahl in den »Volksrepubliken« trifft, lag die Wahlbeteiligung in der Gesamtbevölkerung über 18 Jahren zwischen 8 und 14 Prozent. Unter den Wähler:innen im Donbas hat »Einiges Russland« einen Erdrutschsieg errungen. In Wahllokalen und Wahlbezirken, in denen sowohl Bürger:innen aus dem Gebiet Rostow als auch aus dem Donbas ihre Stimme abgaben, lag das Ergebnis für »Einiges Russland« im Durchschnitt um 25 Prozent höher als in solchen, in denen keine Bürger:innen des Donbas in das Wählerverzeichnis aufgenommen wurden. Selbst wenn man Wahlfälschung und Mobilisierung am Arbeitsplatz berücksichtigt, deutet dies darauf hin, dass die Wähler:innen im Donbas weitgehend kremlfreundlich eingestellt sind und für eine tiefere Integration mit Russland gestimmt haben. Die Ergebnisse zeigen jedoch auch, dass die Mehrheit der Bewohner:innen der »Volksrepubliken« ihren politischen Willen und den Wunsch nach einer tieferen Integration mit Russland bei den Dumawahlen nicht zum Ausdruck gebracht hat.

Dieser Befund deutet darauf hin, dass die Ukraine in den »Volksrepubliken« noch über beträchtliches Potenzial verfügt, um der Passportisierung in den nicht von der Regierung kontrollierten Gebieten entgegenzuwirken. Abgesehen von der Nichtanerkennung russischer Pässe fehlt es der Ukraine jedoch an einer kohärenten Strategie: Die vorgeschlagenen Maßnahmen reichen vom »Bau einer Mauer« zwischen den »Volksrepubliken« und dem Rest der Ukraine bis hin zu einer sogenannten »Konvalidierung«, d. h. der teilweisen Anerkennung einiger von den Verwaltungen in den »vorübergehend besetzten Gebieten« ausgestellten Dokumente, die die Reintegration in der Zukunft erleichtern könnte. Doch die Dauer des Konflikts, die Covid-19-Pandemie sowie der militärische Aufmarsch Russlands im Frühjahr 2021 und Winter 2021/2022 haben weiter zur Entfremdung der ukrainischen Regierung von ihren Bürger:innen in den »Volksrepubliken« beigetragen.

Russland ist nun bestrebt, die derzeit deutlich verminderten Rechte und Ansprüche der passportisierten Bewohner:innen des Donbas auszubauen. Nach Putins Treffen mit dem russischen Menschenrechtsrat im Dezember 2021 veröffentlichte der Präsident im Januar 2022 mehrere Verordnungen (http://www.kremlin.ru/acts/assignments/orders/67660): Demnächst sollen Bewohner:innen des Donbas über die russische e-Government-Plattform Gosuslugi russische Renten und Sozialleistungen wie das »Mutterkapital«, Covid-19-Einmalzahlungen oder eine medizinische Gesundheitsversorgung beantragen können, selbst wenn kein Wohnsitz in Russland vorliegt. Sogar der Grenzübertritt zwischen den »Volksrepubliken« und Russland könnte über das Gosuslugi-Portal erleichtert werden. Darüber hinaus sehen Putins Verordnungen auch eine Ausweitung des Wahlrechts vor, die es der Bevölkerung des Donbas ermöglichen würde, bei den nächsten Parlamentswahlen Kandidierende für Direktmandate in Einerwahlkreise zu wählen, ohne in die Region Rostow pendeln zu müssen. Diese erweiterten Rechte dürften die Beantragung der russischen Staatsbürgerschaft für immer mehr Bewohner:innen des Donbas attraktiv machen.

Passportisierung schafft Handlungsoptionen für Russland

Die Passportierung ist Teil der Strategie Russlands, die Souveränität der Ukraine zu untergraben. Sie hat kurzfristige Auswirkungen auf die Konfliktlösung im Rahmen des Minsker Prozesses, aber auch langfristige Folgen für die ukrainische Staatlichkeit nach einer möglichen Beilegung des Konflikts. Durch die Passportisierung schafft Russland sich vor allem Handlungsoptionen: Es kann die Verpflichtung, seine Staatsbürger:innen auch außerhalb des Staatsterritoriums zu schützen, als Vorwand für eine weitere Militärintervention missbrauchen. Außerdem könnte Russland Druck auf die Ukraine ausüben, die Minsker Vereinbarungen zu russischen Bedingungen umzusetzen, vor allem durch die Androhung militärischer Gewalt. Zusammenfassend lässt sich sagen, dass die Passportisierung anhaltende Auswirkungen auf die politischen Präferenzen der Einwohner:innen des Donbas hat: Die regionalen Verwaltungschefs sind Mitglieder von »Einiges Russland«, viele Wähler:innen stimmten bei den Duma-Wahlen für die Kreml-Partei, und ein großer Teil der Einwohner:innen besitzt schon einen russischen Pass und erhält Zugang zu russischen Sozialleistungen.

Je länger die Passportisierung der Bevölkerung andauerte, desto mehr baute Russland seinen Einfluss im Donbas aus und sorgte damit dafür, die Minsker Abkommen zu begraben.

Stand: 17. Februar 2022

Über die Autoren

Dr. Fabian Burkhardt ist Wissenschaftlicher Mitarbeiter am Leibniz-Institut für Ost- und Südosteuropaforschung (IOS) in Regensburg. In seiner Forschung beschäftigt er sich mit Exekutiv- und Digitalpolitik in postsowjetischen Ländern mit Schwerpunkt Russland und Belarus.


Dr. Cindy Wittke ist Leiterin der Politikwissenschaftlichen Forschungsgruppe am Leibniz-Institut für Ost- und Südosteuropaforschung (IOS) in Regensburg. Sie ist außerdem Leiterin des Projekts »Zwischen Konflikt und Kooperation
– Politiken des Völkerrechts im postsowjetischen Raum« (PolVR, FKZ 01UC1901), gefördert vom Bundesministerium
für Bildung und Forschung (BMBF).


Elia Bescotti, M.A., ist Wissenschaftlicher Mitarbeiter am Leibniz-Institut für Ost- und Südosteuropaforschung (IOS) in Regensburg und promoviert im Rahmen der vom BMBF geförderten Projektgruppe »Zwischen Konflikt und Kooperation:
Politiken des Völkerrechts im postsowjetischen Raum« an der Université Libre de Bruxelles (ULB) in Belgien. Seine Dissertation schreibt er über Politiken des Völkerrechts und der ontologischen Sicherheit in den Sezessionskonflikten
in Georgien und Moldau.


Dr. Maryna Rabinovych ist Postdoktorandin beim vom Norwegischen Forschungsrat geförderten Projekt »Sinkende Standards? Compliance-Verhandlungen und das Assoziierungsabkommen zwischen der EU und Ukraine« am Institut
für Politikwissenschaft und Management der Universität Agder in Norwegen. Sie kooperiert außerdem mit der Kyiv School of Economics (Ukraine). Maryna Rabinovych erhielt ihren Doktortitel im Bereich der Rechtswissenschaften von der Universität Hamburg.


Lesetipps / Bibliographie

Zum Weiterlesen

Artikel

Antirevolutionäre Revolutionserinnerungspolitik: Russlands Regime und der Geist der Revolution

Von Il’ja Kalinin
Russlands Führung steht im Jahr 2017 vor einer Herausforderung: Sie muss Erinnerung an die Oktoberrevolution in ein Geschichtsbild verpacken, das Revolutionen als solche ablehnt. Ihre zentrale Botschaft lautet: Versöhnung. Doch es geht nicht um den Bürgerkrieg 1917–1920. Die Vergangenheit ist nur vorgeschoben. Es geht darum, jede Form von Kritik am heutigen Regime als Bedrohung des gesellschaftlichen Friedens zu diffamieren und mit dem Stigma zerstörerischer revolutionärer Tätigkeit zu belegen. (…)
Zum Artikel auf zeitschrift-osteuropa.de

Logo FSO
Logo DGO
Logo ZOIS
Logo DPI
Logo IAMO
Logo IOS