Leben im Schatten: Überlebensstrategien der Menschen in der »Volksrepublik Donezk«

Von Yana Lysenko (Forschungsstelle Osteuropa an der Universität Bremen)

Zusammenfassung
Die von prorussischen Separatisten kontrollierten Gebiete in der Ostukraine gelten weithin als »Blackbox«. Eine Einschätzung, was in den selbsternannten »Volksrepubliken« (»LNR« und »DNR«) tatsächlich geschieht, scheint von außen kaum möglich zu sein. Auf der Basis von qualitativen Interviews soll der Versuch unternommen werden, ein realistisches Bild der Lebensbedingungen der dort verbliebenen Bevölkerung zu zeichnen und ihre Überlebensstrategien aufzuzeigen.

Einleitung

Die Berichterstattung in den ukrainischen Medien zum Konfliktgeschehen in der Ostukraine stellt militärische Aspekte und die Rolle Russlands klar in den Vordergrund. Das Minsker Abkommen, die Vergabe russischer Pässe in den selbsternannten »Volksrepubliken«, die Schließung der Grenzübergänge und die eskalierende Lage an der russisch-ukrainischen Grenze waren die dominierenden Themen des vergangenen Jahres. Über die tatsächliche Lebenssituation der Bevölkerung in den besetzten Gebieten wurde kaum berichtet. Zumeist wird in der ukrainischen und auch in der westlichen Berichterstattung davon ausgegangen, dass die Menschen in den besetzten Gebieten der Ostukraine (den Donezker und Luhansker »Volksrepubliken« – sog. »DNR« und »LNR«) keine handelnden Akteure im aktuellen Konfliktgeschehen sind, sondern eher eine von russischer Propaganda beeinflusste anonyme Volksmasse darstellen, die Putin als Objekte seines Machtspiels mit der Ukraine benutzt.

Um die Lebensrealitäten der Bewohner der besetzten Gebiete am Beispiel der »Volksrepublik Donezk« (im Folgenden »DNR« genannt) abzubilden, wurden 2021/2022 mit Menschen, die zum Zeitpunkt des Gesprächs dort lebten, 20 tiefe leitfadengestützte Interviews mit dem Ziel der Beschreibung und Reflexion des Konfliktverlaufes und der aktuellen Lage geführt. Diese bilden die Grundlage der folgenden schlaglichtartigen Betrachtungen und Analysen. Konfliktbedingte Einschränkungen bei quantitativen Datenerhebungen, wie etwa Umfragen mit vorgegebenen Antwortmöglichkeiten, führten angesichts der Komplexität der untersuchten Fragestellung zu einer bewussten Entscheidung für eine qualitative Methodik. Damit war ein tieferer Einblick in die komplexen Gedankenkonstrukte der betroffenen Bevölkerung möglich.

Wer noch da ist und warum

Nach den Informationen des »staatlichen« Statistikdienstes der »DNR« für das Jahr 2021 leben in der »Volksrepublik« aktuell ca. 2,2 Millionen Menschen (»Staatlicher Statistikdienst« der »DNR«, 1.02.2021: http://gosstat-dnr.ru/pdf/naselenie/chisl_naselenie_010221.pdf ). Aus den offiziellen Daten der staatlichen ukrainischen Statistik für das Jahr 2013 (dem letzten Jahr vor dem Konflikt) geht hervor, dass allein die Stadt Donezk ca. 953.000 Einwohner hatte (Staatlicher Statistikdienst der Ukraine, 1.01.2013: http://database.ukrcensus.gov.ua/PXWEB2007/ukr/publ_new1/2013/sb_nnas_2012.pdf). Für das Jahr 2021 weist die Statistik der »DNR« für die Stadt Donezk mit 935.00 Menschen im Vergleich zu 2013 nur 20.000 Einwohner weniger aus.

Die in den Interviews erhobene Einschätzung der Menschen vor Ort widerspricht deutlich der »offiziellen« Statistik. Die Befragten gehen davon aus, dass bis zu zwei Drittel der Menschen die besetzten Gebiete zumindest zeitweise verlassen haben. Diese Einschätzung basiert auf Rückgängen bei beobachtbaren Passanten und Straßenverkehr, aber auch auf verbliebenen persönlichen Kontakten mit Freunden, Nachbarn und Kollegen im Vergleich zu 2013.

Die Befragten sind sich aber auch einig, dass jetzt immerhin wieder mehr Menschen in den Städten zu sehen sind als zu Beginn des Konflikts 2014/15. In der Beschreibung dieser ersten Phase kommen in fast allen Interviews Aussagen wie »leere Städte«, »alles wie ausgestorben« vor. Diese Auswanderungswelle der Anfangsphase entspricht auch der Berichterstattung der internationalen Presse. Aus den Einschätzungen der Interviewpartner geht hervor, dass sich ab 2018 die Städte der »DNR« allmählich wieder gefüllt haben, die reale Einwohnerzahl aber weit unter dem Niveau vor dem Konflikt liegt.

Eine der möglichen Erklärungen der Differenzen von Statistik und Wahrnehmung könnte die Tatsache sein, dass viele Menschen in der Tat nicht vor Ort leben, sich aber in der »DNR« aus bestimmten Gründen nicht abgemeldet haben. Ein Grund dafür könnte etwa das Eigentum an einer Immobilie sein, die unter den aktuellen Bedingungen einen beinahe kompletten Wertverlust erlitten hat. Daher stehen viele Wohnungen einfach leer, während ihre Eigentümer in Wirklichkeit nicht in der »DNR«, sondern woanders (meistens in Russland oder in der Ukraine) leben und arbeiten. Die Neben- oder Betriebskosten werden in dieser Zeit von Verwandten oder Nachbarn bezahlt, die auf die Wohnung aufpassen. Eine Meldeadresse in der »DNR« ermöglicht es zudem, jederzeit ohne Beantragung einer Einreiseerlaubnis in die »Volksrepublik« einzureisen. So erscheint es plausibel, dass diese »Phantom-Bewohner« in die »offiziellen« Statistiken der »DNR« einfließen.

Dennoch wird in den Interviews auch vielfach berichtet, dass eine Mietwohnung in den großen Städten wie Makijiwka und Donezk schwer zu finden ist. Dies könnte auf eine sich verstärkende Binnenmigration in der »DNR« hinweisen. Offensichtlich versuchen die Menschen, die geblieben sind, eine Wohnmöglichkeit in einer der Städte mit weniger Beschussgefahr und mehr Arbeitsmöglichkeiten zu finden. Das in der Region vor dem Konflikt übliche Pendeln ist aufgrund von Umwegen, die öffentliche Verkehrsmittel und PKWs aufgrund der Kontaktlinie mit den von der Ukraine kontrollierten Gebieten fahren müssen, nicht mehr selbstverständlich. Der Nahverkehr ist ausgedünnt, die Fahrzeiten wesentlich länger geworden.

Die Republik der Rentner und Kinder

Viele Interviewpartner nehmen wahr, dass Kinder und Jugendliche im Schulalter sowie Rentner die dominierenden Bevölkerungsgruppen in der »DNR« bilden. Die Bevölkerung im Alter zwischen 35 und 55 Jahren wird im Vergleich als kleiner eingeschätzt, ebenso wird vermutet, dass junge Menschen von 18 bis ca. 35 Jahre vor Ort stark unterrepräsentiert sind. Somit entsteht für die Befragten der Eindruck, dass nur ein kleinerer Teil der Bevölkerung vollständig berufstätig ist. Die Einschätzungen von im öffentlichen Dienst tätigen Interviewpartnern ist, dass vor allem in zentralen Bereichen staatlicher Dienstleistungen (Medizin, Bildung, öffentliche Verwaltung usw.) junges und gut qualifiziertes Personal fehlt, das massiv entweder nach Russland oder in Richtung der Ukraine und der EU ausgewandert ist.

Finanziell war und ist ein Umzug nicht für jede Familie in der »DNR« realistisch. Die häufigste Antwort auf die Frage »Warum sind Sie noch nicht umgezogen?« lautete »Wohin denn? Wer wartet da auf uns?«. Ein Umzug impliziert einen kompletten Neuanfang am neuen Ort: finanziell, beruflich, sozial und emotional. Ein weiterer belastender Faktor besteht im Wertverlust von Immobilien und Wertsachen und der Tatsache, dass vielfach das notwendige Startkapital für einen Umzug fehlt. Darüber hinaus sind sich viele Menschen nicht sicher, ob sich dieses »Opfer« letztendlich lohnt, da die Arbeitgeber z. B. in Russland und in der Ukraine hohe Ansprüche an Arbeitssuchende stellen. Deswegen entscheiden sich überwiegend Menschen unter 30 für den Umzug aus der »DNR«, da sie weniger zu »verlieren« haben und sich bessere Chancen auf ausländischen Arbeitsmärkten ausrechnen.

Finanzielle Überlebensstrategien in der »DNR«: »Staatsdiener« und Schattenwirtschaft

Für das Überleben im Konfliktgebiet sind die Einwohner der »Volksrepublik« vielfach auf die Suche nach unkonventionellen Verdienst- und Überlebensmöglichkeiten angewiesen, da mit der Isolierung der Gebiete ein massiver Einbruch der Industrieproduktion und der Wegfall ganzer Branchen wie des internationalen Handels einherging. Als wenig einträglich erweisen sich »klassische« Überlebensstrategien wie Arbeitstourismus und Kleinunternehmertum. Unkompliziert, aber wenig lukrativ scheint eine Gastarbeit in Russland zu sein. Saisonarbeit in der russischen Tourismusbranche wurde in den Interviews als Möglichkeit ebenso erwähnt wie Kleinhandel mit aus Russland importierten Mangelgütern.

Auf zwei gegensätzliche Strategien, den eigenen Lebensunterhalt in dysfunktionalen Gebieten wie den »Volksrepubliken« zu sichern, soll im Folgenden schlaglichtartig eingegangen werden.

Die »Staatsdiener«

Eine der erfolgreichsten Überlebensstrategien scheint tatsächlich eine Anstellung bei den von der DNR organisierten öffentlichen Institutionen zu sein, da das Gehalt, das deutlich über dem durchschnittlichen Einkommen in der Region liegt, monatlich konstant bleibt und zumeist pünktlich ausgezahlt wird. Die von den Interviewpartnern geschätzten Gehälter von durchschnittlich ca. 20.000 Rubel (ca. 227 Euro) im öffentlichen Dienst entsprechen im Durchschnitt auch den Entgeltgruppen, die vom »Finanzministerium der DNR« veröffentlicht wurden (von 9.326 bis 32.286 Rubel entspricht ca. 106 bis 366 Euro) (»Dekret« der »DNR«-Führung, 18.06.2021: https://pravdnr.ru/npa/postanovlenie-pravitelstva-doneczkoj-narodnoj-respubliki-ot-18-iyunya-2021-goda-%e2%84%96-41-3-o-vnesenii-izmenenij-v-postanovlenie-prezidiuma-soveta-ministrov-doneczkoj-narodnoj-respubliki-ot-1/).

Diese finanzielle Sicherheit wird auch in den Interviews von ehemaligen und aktiven »Staatsdienern« als wesentlicher Grund für die Bewerbung bei den von der »DNR« organisierten Institutionen genannt. Durch die massive Abwanderung kommt es dazu, dass vielfach professionelle Eignung und Berufserfahrung im Einstellungsverfahren vernachlässigt werden. So seien auch Führungspositionen direkt nach dem Universitätsabschluss erreichbar. Berichtet wird vielfach von »Vetternwirtschaft«, so dass Effizienz und Qualität der Arbeit sinken.

Die Tätigkeit in diesen Strukturen erfordert allerdings eine echte oder zumindest scheinbare Loyalität gegenüber dem »Apparat« der »Volksrepublik«, die sich etwa in der (oft erzwungenen) Teilnahme an Paraden und im aktiven Wegsehen bei Korruption durch die Machteliten zeigt.

Facetten der Schattenwirtschaft

Auch ungewöhnliche Überlebensstrategien bei der Erwerbstätigkeit in der »DNR« werden verfolgt. So etwa die Arbeit als Freelancer für ausländische Auftraggeber, auch aus Westeuropa, die sich vor allem für jüngere Menschen mit guten IT-Kenntnissen anbietet. Die einzigen Bedingungen sind ein stabiler Internetanschluss und die EC-Karte einer Bank, die Mitglied im internationalen SWIFT-System ist. Die Kommunikation mit dem Auftraggeber erfolgt online, ein Vertrag wird nicht immer abgeschlossen. Das Geld wird im Falle russischer Auftraggeber direkt auf ein russisches Online-Bankkonto überwiesen, bei nichtrussischen Kunden erfolgt der Umweg etwa über einen PayPal-Account, der mit einem Konto aus dem SWIFT-System verknüpft ist. Durch Wechselkurs-Verluste beim Online-Bezahldienst (ca. 3 Prozent) und Abhebungsgebühren vor Ort (max. 10 Prozent) verliert ein Freelancer im negativsten Falle ca. 13 Prozent seines Verdienstes; da die ausländischen Auftraggeber sich bei IT-Dienstleistungen an internationalen Preisen orientieren, sind sie im Vergleich zu den Gehältern in der »DNR« attraktiv und Freelancer gehören damit vermutlich zu den Top-Verdienern in der »DNR«.

Das gesamte Gebiet der »DNR« ist vom SWIFT-Zahlungssystem ausgeschlossen. Vor Ort existieren nur Geldautomaten der »Zentralen Republikanischen Bank«, die sich in den Filialen ehemals ukrainischer Banken eingerichtet hat und lediglich Zahlungsverkehr innerhalb der »Volksrepublik« anbietet. Geld von ukrainischen oder russischen Konten kann hier nicht abgehoben werden. Speziell zu diesem Zweck hat sich ein weiterer Zweig der Schattenwirtschaft gebildet, der vielfach auch von Rentnern genutzt wird.

Kriegszustand und Isolation eröffnen vielfältige Möglichkeiten, mit der Manipulation von Finanzströmen und Dokumenten Geld zu verdienen. Neben halboffiziellen Abhebungsbüros gibt es Menschen, die »schwarze Abhebungsdienstleistungen« zu niedrigeren Gebühren anbieten. Unabhängig vom »Anbieter« sieht das Verfahren ähnlich aus: der Kunde bekommt eine Kontonummer, auf die er per Online-Banking die zum Abheben gewünschte Geldsumme überweist, nach der Bestätigung der Überweisung (ca. fünf Minuten) bekommt er dann diese Summe bar ausgezahlt. Da die Gebühren in den Abhebungsbüros aktuell bei ca. 6–8 Prozent der Abhebungssumme liegen, gewinnen »schwarze Dienstleistungen« an Beliebtheit, da sie diesen Service für 1–2 Prozent anbieten.

Für Menschen ohne Möglichkeiten zum Online-Banking gibt es auch ein konventionelleres Verfahren: die ukrainische EC-Karte wird dann dem »Finanzdienstleister« mitgegeben, der in die Ukraine einreist und von allen mitgebrachten EC-Karten gegen eine individuell vereinbarte Gebühr (ca. 10 Prozent) das Geld abhebt. Der nicht-offizielle Status eines solchen Finanzdienstleisters scheint die Kunden nicht abzuschrecken, seine Verlässlichkeit wird in der Regel über Mundpropaganda bestätigt. Dieser Wirtschaftszweig gewann offenbar in der Coronavirus-Pandemie an Bedeutung, da sich vor allem die Schließung der Grenzübergänge zur Ukraine stark auf die Mobilität der Menschen aus der »DNR« auswirkte.

Darüber hinaus existieren »Dokumentendienstleister«, die etwa zum Rentenbezug oder zur Passverlängerung in der Ukraine notwendige Papiere vorbereiten. Sie übernehmen gegen Gebühr ggf. auch den Kontakt zu den ukrainischen Behörden und ersparen den Antragstellern die teure und beschwerliche Ein- und Ausreise. Eine Absicherung gegen etwaige Fälschungen besteht allerdings nicht.

Die Stadt in den Köpfen

Die Einschätzung ihrer Lebensrealität speist sich für viele der Interviewten stark aus Vergleichen, wie ihr Leben vor dem Konflikt war und wie es heute aussieht. Aus ihren Erzählungen entsteht der Eindruck, dass sie die letzten Jahre der Amtszeit von Präsident Wiktor Janukowytsch als Entwicklungshöhepunkt aller Lebensbereiche im Donbas bewerten. In ihren Erinnerungen beziehen sie sich vielfach auf ein Bild der Stadt Donezk im Jahre 2012. In den Köpfen der Menschen ist diese als ein auf Hochglanz polierter Ort verankert, der die Fußballfans aus der ganzen Welt bei der Europameisterschaft 2012 begrüßte und mit einem Neubauboom und vielfältigen Konsummöglichkeiten alle Annehmlichkeiten einer modernen Millionen-Metropole zu bieten schien. Im Vergleich dazu bewerten viele der Befragten den heutigen Eindruck als trist und glanzlos. Die gut bekannten Weltmarken sind in Donezk nicht mehr zu finden und wurden zum Teil durch »DNR«-Analoge ersetzt. So wurde aus »McDonald’s« »DonMak« und die russische Supermarktkette »Pjatjorotschka« ist in der »DNR« unter dem Namen »Sjemjorotschka« präsent. Den Bekleidungsmarkt dominieren statt internationaler Marken in Einkaufszentren wieder Märkte unter freiem Himmel und Geschäfte mit billiger asiatischer Ware. Das zentrale Statussymbol der Stadt Donezk, die »Donbas Arena« wurde am 2. Mai 2014 zum letzten Mal für ein Fußballspiel genutzt. Seitdem steht das Stadion leer und die umliegenden Parkanlagen verfallen – ein augenfälliges Sinnbild für den Verfall der Stadt.

Die greifbaren Zeichen des Aufschwunges, die vor der Selbstproklamierung der »DNR« für die Bevölkerung sichtbar waren, wurden durch einen weitgehend leeren »Staats«-Patriotismus ersetzt, der sich etwa in Flaggen, Bannern und Großplakaten mit patriotischen Parolen und einem Gedenkort für den ermordeten Separatistenführer Sachartschenko zeigt. Die Bezeichnung »republikanisch« wird häufig wie eine Marke genutzt, die auch in den Namen von Unternehmen die Nähe zum System dokumentieren soll. Neben der Symbolik der »DNR« werden Glaube an und Dankbarkeit gegenüber Russland öffentlich im gleichen Ausmaß postuliert (wie etwa auf Großplakaten mit Parolen wie »Unsere Wahl ist Russland«). Öffentliche Reden und Verlautbarungen über den offiziellen Kurs in Richtung einer Integration in die Russische Föderation erzeugen ein Bild der »DNR«, die sich in einem Zwischenstadium zwischen einer verlassenen Hölle in der Ukraine und einem versprochenen Paradies in Russland befindet. Scheinbar versucht die Führung der »DNR«, die große Leere der faktischen Isolation durch eine künstliche Betonung der eigenen Staatlichkeit zu füllen. Sie erhält – unabhängig von der Konfliktentwicklung – ein Bild der Ukraine als Feind aufrecht, da Mangel und Misswirtschaft vielfach mit Verweis auf den Krieg legitimiert werden.

Die offiziellen Nachrichtenagenturen der »DNR« berichten in einem staatstragenden Stil über die »offiziellen Besuche«, »Staatspartnerschaften« und den »Regierungskurs« der »Republik« im Miniaturformat. »Offiziell« wird dann häufig eine Schule oder ein Erntefeld besucht, unter »Staatspartnerschaften« die Beziehung zur »LNR« und unter dem »Regierungskurs« die Aufnahme der »DNR« in die Russische Föderation verstanden.

All dies macht deutlich, dass Propaganda eine der Kernsäulen der »Republik« bildet, die ohne die permanente Darstellung eines Feindes von außen und die Ideologie der »russischen Welt« (»Russkij Mir«) nicht lebensfähig wäre. Denn die in der Selbstdarstellung der »DNR« postulierte Einheit von »Republik« und Donbas scheint nicht ganz der Wahrnehmung der Bewohner zu entsprechen. Es fällt auf, dass auch die gegenüber der »DNR« loyalsten Interviewpartner sich im Gespräch vom Begriff »DNR« distanzieren und ihn eher im negativen Kontext erwähnen, während »Donezk« und »Donbas« meistens positiv konnotiert sind. Ein Hinweis darauf, dass es an Identifikation in der Bevölkerung fehlt, ist die Tatsache, dass auch die neu eingeführte Symbolik der DNR keinen Zuspruch selbst unter den loyalsten Befragten findet. Die ursprünglich rot-blaue Farbkombination der Flagge der Ukrainischen Sowjetrepublik, die um einen schwarzen Streifen als explizitem Symbol der Kohlevorkommen im Donbas ergänzt wurde, wird in den Interviews meist als »unattraktiv« und »traurig« bezeichnet und hat in den Köpfen der Menschen keine Verbindung zu ihrer Heimatregion. Die stark ausgeprägte regionale Identität, die sich etwa aus der Industriehistorie der Region, den Erfolgen der regionalen Fußballmannschaft »Schachtar« oder dem Image von Donezk als »Stadt der Rosen« speiste, spiegelt sich in der offiziellen Symbolik nicht wider, sondern scheint wie abgeschnitten.

Überleben in den Köpfen

Die in einigen Interviews geäußerten kritischen Haltungen zur »DNR« beziehen sich vor allem darauf, dass Staatsfunktionen nur imitiert, alles Ukrainische verteufelt und alles »Republikanische« und Russische gepriesen werden. Zugleich erleben diese Menschen eine offensichtliche Dysfunktion aller Lebensbereiche vor Ort. Diese kognitive Dissonanz führt dazu, dass kritisch gesonnene Bewohner der »DNR« in einen Zwiespalt zwischen Angst und innerlicher Revolution geraten. Einerseits würden sie ihre kritische Haltung gerne öffentlich zeigen, doch unter dem Eindruck von Lebensbedrohung durch Kriegshandlungen und unterdrückter öffentlicher Meinung tragen sie ihre Nichtakzeptanz der »DNR« weiter still im Kopf.

Unbestritten ist, dass die Propaganda einen großen Einfluss auf die allgemeine Stimmung der Bevölkerung in der »DNR« nimmt. Viele dem »Staat« gegenüber loyale und der Ukraine gegenüber kritische Menschen lassen sich dennoch nicht eindimensional als pro-russische Propaganda-Opfer darstellen. Sie erlebten die höchste Emotionalisierung in der ersten Phase des Konflikts ab 2014, als das Propaganda-Gerüst der »DNR« noch lange nicht so stark ausgebaut war. Auch bei ihnen lässt sich vielmehr eine kognitive Dissonanz feststellen. Diese ergibt sich daraus, dass ihre Wahrnehmung des Beschusses von ukrainischer Seite als konkrete Bedrohung ihres Lebens nicht mit der Darstellung ukrainischer und internationaler Medien übereinstimmt, die Russland und die Separatisten als Aggressor bezeichnen. Das Gefühl, dass ihre Lebensgefahr von außen kleingeredet und dem falschen Akteur zugewiesen wird, bringt die Menschen dazu, Sympathie gegenüber dem wahrgenommenen Verteidiger zu empfinden.

Die beiden unterschiedlichen Haltungen weisen einige Gemeinsamkeiten sowohl in ihren Wahrnehmungen, als auch in den Verhaltensweisen auf. Es fällt auf, dass die Menschen unabhängig von ihrer Haltung im ständigen Gefühl der Lebensbedrohung leben, das nicht nur aus militärischen Handlungen resultiert. Während die Beschüsse eine erlebte Erfahrung darstellen, die die Menschen in ihrer Wahrnehmung der Gefahr abgehärtet hat, hat die empfundene Bedrohung, die von der »DNR« selbst ausgeht, keine klare Form und kein Bild.

Die offizielle Rhetorik der »DNR« ist autoritär geprägt und kennt keine Zwischentöne, daher ist ihr Diskurs reich an Ausdrücken wie »Feind«, »Verräter«, »Faschist« oder »Nationalist«. Diese Begriffe werden von der Führung der »DNR« auf diejenigen angewandt, die sich gegen die »Republik« wenden oder sie in Frage zu stellen scheinen. Die Gefahr, auf diese falsche Seite zu geraten, ist in ihren Folgen für Leib und Leben nicht abschätzbar, da die »Organe« der »DNR« willkürlich und kaum auf der Basis nachvollziehbarer gesetzlicher Vorgaben agieren.

So entsteht in der Bevölkerung eine Strategie, die aus der Distanzierung von der politischen Agenda vor Ort und dem Schweigen zu allen kritischen Themen besteht. Die meisten Interviewpartner gaben daher im Gespräch zu, dass sie zum ersten Mal seit Beginn des Konflikts überhaupt mit jemandem über dieses Thema sprechen. Ihr Schweigen scheint dabei nicht nur mit der realen Angst vor einer Bestrafung für ihre Aussagen zusammenzuhängen, sondern auch mit dem Bemühen, die Ereignisse der letzten Jahre aus dem Kopf zu verdrängen. Das wird auch daran deutlich, welche Themen die Interviewpartner im Gespräch aus eigener Initiative ansprechen. Materielle Aspekte des Lebens in der »DNR« sowie erlebte Absurditäten und »Erfolge« im selbstproklamierten »Staat« werden zumeist offen von den Interviewpartnern ins Gespräch gebracht. Verdrängung scheint dazu zu führen, dass sich Interviewpartner rein auf die Gestaltung ihrer privaten Lebenssituation konzentrieren.

Auf den ersten Blick scheinen die jubelnden Menschenmassen bei öffentlichen Veranstaltungen in der »DNR« (wie etwa bei Auftritten russischer Stars) das Bild einer homogenen und führungstreuen Bevölkerung in die Außenwelt zu senden. Doch dieses scheinbar kritiklose Mitmachen in der »DNR« kann nicht allein den »Erfolgen« der Propaganda zugerechnet werden. Um in der neuen Realität zu überleben, scheint es vielmehr notwendig zu sein, sich anzupassen und den nicht ausgesprochenen Regeln zu folgen: das Politische wird verdrängt, Kritik nicht geäußert, und jede Fluchtmöglichkeit aus dem tristen Alltag wird ohne Nachfragen angenommen.

Zum Weiterlesen

Analyse

Die Silowiki in den »Volksrepubliken« Donezk und Luhansk: Entstehung der bewaffneten Einheiten

Von Andreas Heinemann-Grüder
Nach anfänglicher Konkurrenz anerkannten die meisten separatistischen Feldkommandeure ab Herbst 2014 ein quasi-staatliches Gewaltmonopol der »Volksrepubliken«. Für die Führung und den Unterhalt der Silowiki im Donbas sind in Moskau mehrere, zum Teil konkurrierende Fallmanager (»kuratory«) zuständig. Die Silowiki in den Separatistengebieten gewährleisten die autokratische und kleptokratische Herrschaft der De-facto-Regime und sind entscheidend für deren Steuerung durch Russland.
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