Welche Bedeutung hat das Ende der Sowjetunion für die heutige Ukraine?

Von Irina Starovoyt (Ukrainische Katholische Universität, Lviv)

Suche und Krise

Mit der Auflösung der Sowjetunion 1991 war für die Ukraine noch kein Platz in der Welt reserviert. Dem Land fehlten eine klare politische Vision und ein Plan für den inneren Wandel. Wir, die postsowjetischen Ukrainer, mussten eine Realität ausfüllen, zu der wir nicht gehörten und deren Regeln wir – ehrlich gesagt – nicht ganz verstanden hatten. Wir besaßen schon seit der Zeit der Sowjetunion Mitgliedschaft und Stimmrecht bei der UNO, aber kein einziges Flugzeug flog aus Kiew direkt ins Ausland, sondern nur über Moskau. In Moskau wurden alle wichtigen Entscheidungen in Bezug auf die sowjetische Ukraine getroffen.

Die Unabhängigkeit traf 1991 so auf drei unvereinbare Gemeinschaften ukrainischer Bürger: sowjetische, anti-sowjetische und nicht-sowjetische. Die sowjetische Gemeinschaft, die möglichst wenig Veränderungen wollte, war damals offensichtlich in der Mehrheit. Die anti-sowjetische Gemeinschaft war eine Minderheit, etwa ein Viertel der Bevölkerung, entsprechend dem Wahlergebnis von Wjatscheslaw Tschornowil bei der ersten Präsidentenwahl. Dann gab es noch diejenigen, die als nicht-sowjetisch einzustufen waren (ohne direkt anti-sowjetisch zu sein), und ihr Anteil wuchs nach der Unabhängigkeit schnell.

Die Unabhängigkeitseuphorie war schnell verflogen. Die Planwirtschaft brach bereits vor der Sowjetunion zusammen, aber die schockierenden Marktreformen und die plötzliche Massenarbeitslosigkeit der ersten Jahre der Unabhängigkeit brachten die Menschen an ihre Grenzen. Aufgrund der niedrigen Lebensqualität, der unzulänglichen medizinischen Versorgung und der Wirtschaftsmigration sank die Bevölkerungszahl der Ukraine noch vor dem Beginn der direkten russischen Aggression um mehrere Millionen. Die europäische Integration der Ukrainer fand »über den Hinterhof« statt: viele von uns sind ausgewandert für unqualifizierte Jobs und oft für Schwarzarbeit, also ohne soziale Absicherung.

Gesellschaft im Wandel

In der Ukraine gab es keine vollständige Restauration des KGB, keine systematischen Einschränkungen der Freiheiten und keine Festigung des Autoritarismus wie in Russland oder Belarus und keine aggressive Konsolidierung der Rechtspopulisten wie in Ungarn oder Polen. Stattdessen wurde die ukrainische Wirtschaft von Oligarchen übernommen und es dominierte die Korruption. Die Fragen fundamentaler Werte, der Identität und sogar der nationalen Subjektivität waren für die neuen ukrainischen Eliten von geringem Interesse oder unverständlich. Der Zynismus der Neureichen überwand schnell den Idealismus ehemaliger Dissidenten oder studentischer Unabhängigkeitskämpfer. Es gab keine Lustration in den staatlichen Behörden. Weder Beamte noch die post-kommunistische Elite, weder Richter noch Grenzbeamte wurden nach der Herkunft ihrer oft grotesk großen Vermögen gefragt.

Nach 30 Jahren müssen wir unsere Fehler und Niederlagen ehrlich eingestehen, die nicht so einfach auf das Erbe der UdSSR zurückzuführen sind: die Symbiose von Politik und Großunternehmen, die soziale Ungleichheit, verpasste Chancen auf Reformen, Schattenwirtschaft und Steuerhinterziehung, geringe Effizienz staatlicher Unternehmen, fehlender Rechtsstaat, der Verlust eines Teils des staatlichen Territoriums mit ungelösten Problemen der Zivilbevölkerung in den Frontzonen und der eineinhalb Millionen Binnenflüchtlinge. Schließlich dauert der Krieg mit all seinen Verlusten und Bedrohungen noch an.

Die Ukraine verändert sich und reift langsamer, als es ihren Freunden lieb ist, aber viel schneller, als ihre Feinde es wollen. Nachdem wir die Sowjetunion verlassen und ihre Existenz beendet hatten, haben wir im Laufe der Jahrzehnte eine politische Nation gebildet, die in der Lage ist, ihre Freiheit, Würde und zivilisierte Wahl zu verteidigen.

So kommen die Ukrainer gut mit der Demokratie zurecht, sind politisch und sozial aktiv und betrachten trotz aller Konflikte und trotz des Krieges die Demokratie als eine echte Errungenschaft der Unabhängigkeit. In 30 Jahren haben wir sechs Präsidenten gewählt, neun Parlamentswahlen abgehalten und 21 Ministerpräsidenten überlebt.

Wir haben die Institution des Privateigentums und den Respekt dafür wiederhergestellt. Wir haben mittelständische und kleine Privatunternehmen, ein geordnetes und modernisiertes Finanzsystem, gefragtes Unternehmertum und Einfallsreichtum erworben – es gibt einen schnell wachsenden Sektor innovativer Unternehmen einschließlich der IT. Es gibt immer mehr junge Menschen, die an den besten Universitäten der Welt studieren und in die Ukraine zurückkehren – 1991 gab es so etwas in der Ukraine überhaupt nicht.

Ein Nebeneffekt all dieser Prozesse war das Aufblühen der Kultur ohne Druck und Zensur sowie die Entwicklung einer Kulturpolitik und die Entstehung von Institutionen, die sie unterstützen. Es reicht aus, verschiedene Bewertungen von Nachwuchskünstlern zu lesen, um zu sehen, wie globalisiert und erfolgreich die ukrainische Jugend in den letzten Jahren geworden ist. Hierfür gibt es auch Unterstützung. So hat das Ukrainische Buchinstitut beispielsweise das Übersetzungsprogramm »Translate Ukraine« ins Leben gerufen, das Verlagen die Kosten für die Übersetzung und Veröffentlichung eines ukrainischen Buches in einer Fremdsprache erstattet. Das Ukrainische Institut hat in Partnerschaft mit PEN Ukraine den ersten Drahoman-Preis für die Übersetzung eines Buches aus dem Ukrainischen an die deutsche Übersetzerin Claudia Dathe verliehen. Dies ist ein wirksames Instrument zur Unterstützung des kulturellen Dialogs und des Eintritts ukrainischer Autoren in den Mainstream.

Historische Narrative

Die Ukraine ist ein Land, in dem historische Narrative geschickt manipuliert wurden, um die Gesellschaft zu polarisieren und zu spalten. Die Debatte um den Holodomor, der von der sowjetischen Regierung organisierten Großen Hungersnot von 1932–33, und die Kontroverse um die zweifache Besetzung der Ukraine während des Zweiten Weltkriegs wurden von Nostalgie für die Sowjetunion begleitet, wo Gagarin ins All flog und die Eiscreme die leckerste war. Doch in den sowjetischen Schulen stand nicht auf dem Lehrplan und im Fernsehen wurde nicht gezeigt, dass der Konstrukteur der Rakete, mit der Gagarin erfolgreich abhob, Sergei Koroljow, ein politischer Gefangener war, dass es einen Eisernen Vorhang und den Gulag gab, dass die sowjetische Armee in Ungarn und der Tschechoslowakei einmarschierte, um populäre Reformen zu unterbinden und sogar in der Zeit von Glasnost wurde zuerst versucht, die Tragödie von Tschernobyl zu verschweigen. So standen sich verschiedene historische Narrative und verschiedene gesellschaftliche Gruppen in der post-sowjetischen Ukraine feindlich gegenüber.

Nicht nur Zynismus, sondern auch Zweisprachigkeit, religiöse Vielfalt, extreme soziale Ungleichheit und die unausgesprochenen Erinnerungen an die Täter und Opfer des gewalttätigen 20. Jahrhunderts haben der verarmten und enttäuschten Ukraine wenig Chancen auf ein gemeinsames Narrativ und ein Zukunftsbild gelassen. Alles hier ist kompliziert und erfordert einen langen, inner-ukrainischen Dialog. Aber eins ist klar, falls Ukrainer Russen oder Bürger von Neu-Russland (Noworossija) hätten sein wollen, dann wären sie in diesen 30 Jahren welche geworden.

Als die Erinnerungskriege von einer kognitiven Metapher zur Realität wurden, die zur Annexion der Krim und zum bewaffneten Konflikt im Donbas führten, konnten die Ukrainer in den meisten Teilen des Landes den Diskurs doch noch auf eine andere Ebene heben. Die starke politische Konfrontation zwischen den pro-russischen und pro-europäischen Narrativen im Allgemeinen wurde nach 2014 zugunsten europäischer Werte, Lebensstile und Arbeit sowie universeller Menschenrechte gelöst. Gleichzeitig wurden in Russland – gefördert durch die politische Führung – Sowjet-Nostalgie, imperialer Mythos und der Glaube an einen »besonderem Weg« immer stärker. Diese Agenda erhält in der Ukraine bei freien Wahlen etwa 10–12 % der Stimmen. Diese Wähler sind gegen die Staatlichkeit der Ukraine eingestellt, sie wollen in die UdSSR zurückkehren oder – besser gesagt – die eigene Jugend zurückbekommen. Ihr Anteil wird jedoch immer kleiner.

In der ukrainischen Gesellschaft entstand so nach 2014 ein breiter Konsens über die Sowjetunion als repressives System und Stalin als »effektiven Manager« von kollektivem Leiden, Zwangsarbeitslagern und Massenrepression – auch wenn bekannt ist, dass Ukrainer aktiv beim Ausbau der UdSSR mitgewirkt haben, als Soldaten der Roten Armee und als prominente Parteiführer nach dem Krieg. Wir verstehen jetzt, dass der Staat für seine Tätigkeit dem Volk gegenüber rechenschaftspflichtig ist. Es gilt aber weiterhin was Patriarch Josyph Slipyj über Flüchtlinge und ehemalige politische Gefangene aus der UdSSR sagte: »Wir alle haben die UdSSR verlassen, aber die UdSSR hat uns nicht verlassen.«

So bedeutet die vom ukrainischen Parlament im Jahr 2015 beschlossene Politik der Dekommunisierung nicht nur die Umbenennung von Städten, Dörfern und Straßen, die Demontage von Denkmälern des totalitären Regimes durch lokale Gemeinschaften sowie den freien Zugang zu Archiven kommunistischer Verbrechen. Dies ist der Beginn eines langen Bemühens, die abscheulichsten Symbole der damaligen Zeit und der totalitären Praktiken an allen Orten, wo der Staat mit den Bürgern interagiert, endlich loszuwerden: in Bildung, Gesundheitswesen, Kinderbetreuung, Selbstverwaltung, öffentlichen Empfängen. 30 Jahre nach dem Fall der UdSSR haben die Ukrainer die Fähigkeit bewiesen, sich selbst und anderen ihre Würde zurückzugeben, aus ihren eigenen Fehlern und denen anderer zu lernen und trotz widriger Umstände weiterzukommen.

Übersetzung aus dem Ukrainischen: Lina Pleines

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