Ukrainische Care-Migrantinnen in Deutschland: Prekäre Arbeitsbedingungen, lukratives Geschäft

Von Tetiana Goncharuk (Berlin)

Zusammenfassung
Die Care-Arbeit im 24-Stunden »Live-In-Format« wird im alternden Deutschland immer populärer. Für die Care-Arbeiterinnen, von denen viele aus Mittel- und Osteuropa kommen, geht diese Tätigkeit oft einher mit äußert schwierigen Lebens- und Arbeitsbedingungen bis hin zu Ausbeutung und Menschenrechtsverletzungen. Ukrainische Care-Migrantinnen, die wiederum einen großen Teil dieser Gruppe stellen, befinden sich in einer besonders prekären Lage: Sie arbeiten in einer Grauzone, sind in den meisten Fällen illegal beschäftigt und sozial und rechtlich kaum geschützt. Von dieser Situation profitieren Vermittlungsagenturen, die ihre eigenen Spielregeln festlegen.

Einleitung

Die Gesellschaft in Deutschland altert, weshalb dringend zusätzliche Pflegekräfte benötigt werden. Das Statistische Bundesamt nennt in seiner Pflegestatistik für 2019 die Zahl von bundesweit 4,1 Millionen pflegebedürftiger Menschen (https://www.destatis.de/DE/Themen/Gesellschaft-Umwelt/Gesundheit/Pflege/Tabellen/pflegebeduerftige-pflegestufe.html;jsessionid=E4AB0CFD45FA78DB103E492E61C563C1.live731); davon befinden sich drei Millionen Menschen in häuslicher Pflege. Laut einer Analyse der Bundesagentur für Arbeit 2021 setzt die Pflegebranche zur Abmilderung des Fachkräftemangels zunehmend auf ausländische Arbeitskräfte (https://statistik.arbeitsagentur.de/DE/Statischer-Content/Statistiken/Themen-im-Fokus/Berufe/Generische-Publikationen/Altenpflege.pdf?__blob=publicationFile&v=7). Der Mangel an Fachpersonal wird insbesondere durch osteuropäische Care-Arbeiterinnen abgedeckt. In einem 2016 erschienenen Buch zum Thema Ausbeutung in der Pflege wurde geschätzt, dass mindestens 300.000 Care-Arbeiterinnen aus Osteuropa in Deutschland tätig sind. Da es sich oftmals um illegale oder halblegale Beschäftigungsverhältnisse handelt, ist es schwierig, die genauen Zahlen zu erfassen. Die tatsächliche Anzahl der Care-Arbeiterinnen aus Osteuropa in deutschen Privathaushalten dürfte daher inzwischen darüber liegen.

Auch wenn es über ukrainische Care-Arbeiterinnen in Deutschland keine offiziellen Zahlen gibt, zählt die Ukraine neben anderen osteuropäischen Ländern zu den wichtigsten Herkunftsländern von 24-Stunden-Betreuerinnen im häuslichen Altenpflegebereich in Deutschland. Vermittlungsagenturen versorgen den deutschen Care-Arbeitsmarkt aktiv mit ukrainischen Betreuerinnen, da sie »eine gute Alternative« zu teuren deutschen Pflegekräften sind. »Die Kosten für eine sogenannte 24-Stunden-Pflege durch ukrainische Betreuerinnen sind deutlich geringer […]. Schon ab 70 Euro pro Tag ist eine Rundum-Betreuung möglich«, wirbt eine bekannte Vermittlungsagentur auf ihrer Web-Seite.

Darüber hinaus produzieren und reproduzieren die Vermittlungsagenturen auf ihren Web-Seiten ethnische Stereotype über ukrainische 24h-Betreuerinnen (aber auch über Pendelmigrantinnen aus Osteuropa insgesamt). Die ukrainischen Care-Arbeiterinnen werden als besonders herzlich, fleißig und fürsorglich dargestellt, anstatt mit der Professionalität ihrer Arbeit zu werben.

Im häuslichen Pflegebereich handelt es sich fast immer um weibliche Arbeitskräfte, um sogenannte Pendelmigrantinnen: Frauen, die zwischen zwei Ländern bzw. zwei Haushalten wechseln. Im Rotationsformat üben ukrainische wie auch andere osteuropäische Betreuerinnen ihre Care-Arbeit im Pflegehaushalt für eine festgelegte Zeit aus – üblicherweise zwischen zwei und drei Monaten –, um dann in ihren eigenen Haushalt zurückzukehren. Im Pflegehaushalt werden sie dann von einer anderen Pflegerin ersetzt.

Die Besonderheit und Schwierigkeit der sogenannten »Live-In-Pflege« ist die Betreuung rund um die Uhr, 24 Stunden am Tag für mehrere Wochen am Stück, sowie das gemeinsame Leben in einem Haushalt mit den Pflegebedürftigen. Vielfach haben sich prekäre Arbeitsstandards in der privaten Pflege für immigrierte Pflegekräfte manifestiert, unter anderem ein extrem niedriges Gehalt und kaum sozialer Schutz.

Dieser Artikel basiert auf vier leitfadenzentrierten Interviews mit in Deutschland tätigen Care-Migrantinnen aus der Ukraine, die im Jahr 2019 im Rahmen der Projektarbeit »Lebens- und Arbeitsbedingungen von Care-Migrantinnen aus der Ukraine in Deutschland« durchgeführt wurden, auf Ergebnissen der Forschung »Das Potenzial von Social Media für das Empowerment von Care-Arbeiterinnen in Deutschland« und zusätzlichen persönlichen Gesprächen im Jahr 2020. Zum Schutz der Migrantinnen wurden alle Namen pseudonymisiert.

Ursachen der Care-Migration aus der Ukraine nach Deutschland

Verschiedene Faktoren begünstigen, dass ukrainische Frauen in anderen Ländern — insbesondere in Deutschland – ein besseres Leben suchen. Die schwierigen wirtschaftlichen Verhältnisse, die instabile politische Situation in der Ukraine sowie schlechte soziale und medizinische Versorgung und auch indirekt die militärische Aggression der Russischen Föderation in der Ostukraine führen zur Migration. Durch die Arbeit in Deutschland versuchen ukrainische Care-Workerinnen ihre wirtschaftliche Lage zu verbessern, ein Studium für ihre Kinder zu finanzieren oder für Investitionen in Wohneigentum zu sparen.

Frauen, die sich entschlossen haben, in Deutschland zu arbeiten, um ältere Menschen in Privathaushalten zu betreuen, sind in der Regel gut ausgebildet, haben Studienabschlüsse, aber der Mangel an Arbeit in ihrem Heimatland erlaubt es ihnen nicht, ein »normales« Leben zu führen. »Sie gehen, aber nur, weil es im Prinzip unmöglich ist, in unserem Land Geld zu verdienen. Für einen Menschen mit einem Studienabschluss in einer kleinen Stadt […], die von der Regierung, Gott und allen anderen auf der Welt vergessen wurde, gibt es keine Arbeit«, erzählt Jaroslawa, eine 52-jährige 24-Stunden-Betreuerin aus der Ukraine.

Lukratives Geschäft für Vermittlungsagenturen

Trotz der Tatsache, dass der Bereich der häuslichen Pflege in Deutschland recht groß ist und meistens von Migrantinnen abgedeckt wird, gibt es noch immer keine klare Gesetzgebung zum Einsatz solcher Pflegekräfte. Die Care-Migration befindet sich rechtlich in einer Grauzone voller juristischer Fallstricke. Ukrainische Care-Migrantinnen sind in einer noch kritischeren Arbeitssituation als Betreuerinnen aus osteuropäischen EU-Ländern, da es sich in den meisten Fällen um eine komplett illegale Beschäftigung handelt. Hintergrund dafür ist das komplizierte Verfahren für Menschen aus der Ukraine als sogenannter Drittstaat zur Erlangung einer Arbeitsgenehmigung für eine Beschäftigung im Privathaushaltsbereich.

Seit Juni 2017 sind Ukrainer*innen von der Visumspflicht in allen Schengen-Ländern befreit und haben somit das Recht, sich alle sechs Monate für 90 Tage in der Europäischen Union aufzuhalten. Die Visumsfreiheit berechtigt allerdings nicht zur Aufnahme von Erwerbsarbeit. Dennoch wird die Möglichkeit der erleichterten Einreise genutzt, um Personal aus der Ukraine für die Altenpflege in deutschen Familien anzuwerben. Da die direkte Anstellung von Pflegekräften aus der Ukraine in den meisten Fällen unmöglich ist, nehmen Frauen die Dienste von Vermittlungsagenturen oder -personen in Kauf. Die Anwerbung wird in den meisten Fällen über Polen organisiert, da es zwischen Polen – wo weit mehr als eine Million Menschen aus der Ukraine arbeiten – und der Ukraine ein Arbeitsmigrationsabkommen gibt. Allerdings berechtigt das polnische Arbeitsvisum Ukrainer*innen nicht dazu, in Deutschland zu arbeiten. In diesen Fällen handelt es sich um illegale Beschäftigung. Die ukrainisch-polnischen sowie polnisch-deutschen Vermittlungsagenturen überzeugen die Frauen jedoch vom Gegenteil und informieren sie oft nicht darüber, dass die polnische Arbeitserlaubnis nicht die Erwerbstätigkeit in Deutschland erlaubt. So berichtet eine ukrainische 24-Stunden-Betreuerin, die einen Arbeitsvertrag mit einer Vermittlungsagentur hat:

»Als sie mich an der deutsch-polnischen Grenze kontrollierten, sagte ich, dass ich in Deutschland arbeiten werde und zeigte den Arbeitsvertrag von der Agentur. Ich war mir sicher, dass die Agentur mich legal beschäftigte. Am Ende wurde ich abgeschoben und erhielt fünf Jahre lang ein Einreiseverbot für alle EU-Länder«.

Ein weiterer kritischer Aspekt ist die Entlohnung der Pendelmigrantinnen, die sich nicht am aktuellen gesetzlichen Mindestlohn in Deutschland orientiert, sondern von den Agenturen festgesetzt wird (Anm. d. Red.: der Artikel wurde verfasst, noch bevor das Bundesarbeitsgericht am 24. Juni 2021 in einem Grundsatzurteil unter anderem entschied, dass ausländischen Pflegekräften, auch für den Bereitschaftsdienst, der Mindestlohn zusteht). Ein Teil des Verdienstes der Frauen geht regelmäßig an die Agenturen. Je mehr Vermittlungsagenturen ins Spiel kommen, desto niedriger ist das tatsächliche Gehalt für die Care-Workerinnen. Darüber hinaus hängt die Bezahlung vom Niveau der Deutschkenntnisse ab und wird für jede Mitarbeiterin unterschiedlich berechnet.

Die Bezahlung, die die Frauen tatsächlich erhalten, liegt meistens zwischen 800 und 1.500 Euro pro Monat (Anm. d. Red.: der Durchschnittslohn in der Ukraine liegt aktuell bei knapp 400 Euro monatlich). Ausgehend vom gesetzlichen Mindestlohn in Deutschland müsste die Vergütung für eine 24-Stunden-Betreung ohne freies Wochenende auch abzüglich von Kost und Logis um ein Vielfaches höher sein. Vermittlungsagenturen profitieren in hohem Maße von dieser Situation, da sie sich so ein profitables Geschäft aufbauen können.

Ein weiterer Weg in den deutschen Care-Arbeitsmarkt erfolgt über private Vermittlungspersonen. Für die Vermittlung sind zwischen 100 und 350 Euro zu zahlen. Es gibt auch Fälle, in denen die Bezahlung für die Vermittlung von privaten Personen die Voraussetzung für die Fortsetzung der Beschäftigung war. Jaryna, eine 47-Jährige Care-Arbeiterin aus der Ukraine, behauptet, dass dies häufig vorkomme. Die Betreuerinnen müssen alle zwei oder drei Monate einen Teil ihres Verdienstes an die Vermittlungspersonen abgeben, sonst erhalten sie keine Arbeit mehr und ihre Stellen würden dann einer anderen Person angeboten.

Prekäre Arbeitsbedingungen

In den meisten Fällen arbeiten und leben die ukrainischen Care-Migrantinnen unter prekären Bedingungen. Die Analyse der Interviews zeigte, dass die ukrainischen Care-Arbeiterinnen in der Regel keinen normierten Arbeitstag haben. Obwohl es in einigen Fällen eine Einigung über Pausen gibt, müssen die Betreuerinnen faktisch rund um die Uhr an sieben Tage in der Woche arbeiten: »Es gibt keine klaren Grenzen. (…) Es dauert jeden Tag von morgens bis abends, so lange bis die Oma schlafen geht. Und dann… falls es nötig ist, muss ich auch in der Nacht aufstehen, wenn sie mich ruft. Falls sie etwas braucht, falls ich ihr etwas geben muss oder mit etwas helfen sollte«, erzählt Natalija, eine 52-jährige Care-Arbeiterin aus der Ukraine. Das gilt meist auch am Wochenende, wie Iryna berichtet, die täglich lediglich zwei Stunden Mittagspause hat, auch am Sonntag. Sie führt es auf die Tatsache zurück, dass »die Oma zu alt [ist]. Sie möchte essen. Ich muss ihr die Tabletten geben. Oder Wasser.«

Care-Arbeiterinnen müssen ebenfalls die nächtliche Betreuung übernehmen, die nicht zusätzlich bezahlt wird: »Manchmal muss ich nur einmal nachts aufstehen, manchmal muss ich überhaupt nicht aufstehen, weil sie [Pflegebedürftige] gut schläft. Und manchmal muss ich dreimal aufstehen. Sie ist ein großes Baby: Manchmal schläft es, manchmal schläft es nicht«, sagt Iryna. Darüber hinaus wird die Arbeit von Iryna mit einer Videokamera überwacht. Die Kamera ist im Zimmer der pflegebedürftigen Frau installiert und wird regelmäßig von deren Ex-Mann, der die Pflege organisiert hat, überprüft. Die Betreuerin nimmt diesen Zustand in Kauf aus Sorge, ihre Arbeit zu verlieren.

Die Pflegerinnen sind nicht nur für die Pflege, sondern oft auch für weitere Aufgaben zuständig, die im Haushalt einer pflegebedürftigen Person anfallen. In vielen Fällen dürfen die Care-Migrantinnen auch nicht das Haus verlassen, weil Angehörige verlangen, dass sie immer bei der pflegebedürftigen Person bleiben, wie Jaryna berichtet: »Bei meiner ersten Arbeit durfte ich das Haus nicht verlassen. Der Sohn von jener Oma kam nur am Wochenende nach Hause. Dann durfte ich für eine halbe Stunde zu Besuch zu einer anderen [Pflegerin aus Polen] gehen. (…) Es war im Dorf und es war eine sehr harte Arbeit. Jetzt würde ich nicht mehr so arbeiten«.

Sozialleistungen wie Urlaub und Beiträge in die gesetzliche Kranken- und Rentenversicherung sind nicht vorgesehen. Der Krankenversicherungsschutz wird von den Arbeitsmigrantinnen über ukrainisch-polnische Privatversicherungen selbst organisiert. Sie empfinden dies als keine zuverlässige Absicherung: »Ich bin privat versichert und habe zusätzlich eine Versicherung über die Agentur. Aber das ist eine nebulöse Versicherung. Sie bringt nichts…«, erklärt Jaroslawa. Manchmal sind die Frauen gar nicht versichert. Vielfach haben sie aufgrund ihrer illegalen Beschäftigung Angst, in Deutschland zum Arzt zu gehen: »Obwohl ich eine Versicherung habe, gehe ich hier nicht zum Arzt. Mein Mann schickt mir per Post die Medikamente, falls ich welche benötige«, so Jaroslawa.

Fälle, in denen Löhne nicht vollständig gezahlt werden, kommen von Zeit zu Zeit vor. Die Beschäftigung bei Familien im ländlichen Bereich werden von Ukrainerinnen als besonders hart und schlecht bezahlt empfunden: »Ein weiterer Arbeitsplatz war so anstrengend, dass ich die ganze Nacht arbeiten musste. Dies ist während der fünf Wochen jede Nacht passiert. Ich sagte, ich würde gehen. Deswegen haben sie [die Familie] mir mein Gehalt nicht in voller Höhe gegeben«, berichtet Jaryna von ihrer Erfahrung. Der Arbeitgeber einer anderen Care-Arbeiterin, Halyna, zahlte während der fünf Monate, in denen sie für ihn tätig war, regelmäßig nicht den ursprünglich vereinbarten Betrag. Als Grund wurde ihr erklärt, dass der Arbeitgeber nicht genügend Geld hatte und das so akzeptiert werden sollte. Als Halynas Gehalt wieder einmal nicht in voller Höhe ausgezahlt wurde, wechselte sie die Familie. Sie würde gerne ihren nicht gezahlten Lohn erhalten, hat aber Angst, vor Gericht zu gehen, weil sie illegal in Deutschland arbeitet. Eine andere Care-Migrantin wurde Opfer eines Betrugs, wodurch sie 5.000 Euro verlor. Da sie keine Arbeitserlaubnis hat, hat auch sie keine Anzeige bei der Polizei erstattet.

Im Vergleich zu Care-Arbeiterinnen aus osteuropäischen EU-Ländern befinden sich ihre ukrainischen Kolleginnen in einer noch schwierigeren Situation: Ihre Arbeit ist noch schlechter bezahlt, ihr Aufenthaltsstatus ist unsicherer und sie haben daher praktisch keine Möglichkeiten sich juristisch für ihre Arbeits- und Sozialrechte einzusetzen. Die Forderung nach mehr Rechten wird von Jaroslawa wie folgt zusammengefasst: »Wir machen die ganze Drecksarbeit und besser als die Anderen. Und wir haben absolut keine Rechte!«.

Covid-19-Pandemie und Care-Migration

Die durch die Covid-19-Pandemie verursachte Schließung der Binnen- und Außengrenzen der Europäischen Union hat die Art und Weise der Organisation von Pflege in Privathaushalten sowie das Rotationssystem von Pendelmigrantinnen beeinflusst. Darüber hinaus hat die Pandemie die langfristigen Probleme im Bereich der häuslichen Pflege verdeutlicht. Die Diskrepanz zwischen Angebot und Nachfrage wurde noch größer und die osteuropäischen Care-Arbeiterinnen mussten noch mehr arbeiten als zuvor.

Viele ukrainische Betreuerinnen wechseln sich mit polnischen Kolleginnen ab. Nachdem die Grenzen von Mitte März bis Mitte Juni 2020 geschlossen wurden, konnte der Wechsel in dieser Zeit nicht erfolgen. Entweder mussten die Pflegebedürftigen alleine gelassen werden, oder die anwesende Betreuerin musste bleiben. Die befragten ukrainischen Care-Arbeiterinnen konnten in den meisten Fällen ihren Aufenthalt (ohne Arbeitserlaubnis) verlängern, was aber zusätzlichen Stress und Angst verursachte, dass der wahre Zweck ihres Aufenthalts im Land aufgedeckt werden könnte. Laut eigener Aussagen verlängerten viele der Befragten ihren Aufenthalt in Deutschland aus Loyalität gegenüber den Pflegebedürftigen. Infolgedessen betreuten die Ukrainerinnen die Pflegebedürftigen sechs bis sieben Monate – statt der üblichen zwei bis drei – rund um die Uhr ohne Rotation und Erholungstagen sowie Krankenversicherung. Ihre ohnehin begrenzten sozialen Kontakte wurden weiter reduziert, da Kontakte und Besuche von Dritten wegen des Covid-19-Infektionsrisikos weitgehend vermieden wurden; ihre Familien bzw. Kinder in der Ukraine bleiben in der Zeit ohne Frauen und Mütter.

Online-Selbsthilfe-Netzwerke

Die Angst, wegen illegaler Beschäftigung aus Deutschland abgeschoben zu werden, führt dazu, dass die ukrainischen Care-Migrantinnen Unterstützung nicht bei Polizei und Beratungsstellen suchen, sondern in den Sozialen Medien. Ein Chat-Freundeskreis im Chat-Dienst »Viber« wurde von Care-Migrantinnen gegründet, um sich auszutauschen und Informationen über unehrliche, skrupellose deutsche Arbeitgeber*innen und Familien sowie Vermittlungsagenturen zu sammeln. Darüber hinaus tauschen sich Care-Arbeiterinnen regelmäßig in ukrainisch- und russischsprachigen Facebook-Gruppen aus. Eine ehemalige Care-Arbeiterin betreibt einen eigenen YouTube-Kanal, auf dem sie über die Risiken bei der Inanspruchnahme von Vermittlungsagenturen sowie die Besonderheiten der Pflegearbeit in deutschen Familien spricht und Deutsch-Videokurse für 24-Stunden-Betreuerinnen anbietet. Das Online-Selbsthilfe-Netzwerk der Care-Migrantinnen war besonders während der Covid-19-Pandemie nachgefragt. Der Aufbau einer Solidaritäts- und Selbsthilfestruktur bleibt fast die einzige Möglichkeit für ukrainische Care-Arbeiterinnen, sich gegenseitig zu unterstützen und zu verteidigen. Auf institutioneller Ebene gibt es nur wenige Beratungsstellen, die rechtliche oder soziale Unterstützangebote für Care-Arbeiterinnen, insbesondere aus nicht EU-Ländern, anbieten. Nicht zuletzt sind auch die deutschen Gewerkschaften ganz allgemein wenig aufmerksam für die Thematik der migrantischen Care-Arbeit.

Fazit

Ukrainische 24-Stunden-Betreuerinnen sind zu einem festen Bestandteil der deutschen Versorgungsrealität geworden. Bislang wurde ihr Beitrag auf staatlicher Ebene jedoch nicht anerkannt. Obwohl wissenschaftliche Studien über die dringliche Notwendigkeit von strukturellen Veränderungen und Reformen im häuslichen Pflegebereich berichten sowie klare rechtliche Regulierungen fordern, gibt es praktisch keine politische Debatte zu diesem Thema. Auch die deutsche Öffentlichkeit interessiert nur wenig, wie Deutschland seinen Bedarf an billigen 24-Stunden-Pflegekräften aus Osteuropa deckt und unter welchen Lebens- und Arbeitsbedingungen diese Menschen leiden. Diese Situation ermöglicht den Vermittlungsagenturen sowie -personen lukrative Geschäfte und führt dazu, dass ukrainische und andere osteuropäische Care-Arbeiterinnen in Deutschland weiter ausgebeutet werden.

Sprachredaktion: Dr. Eduard Klein

Lesetipps / Bibliographie

  • Bomert, Christiane / Schilliger, Sarah (2021): Infrastruktur der Solidarität im Kontext transnationaler Care-Arbeit. In: Stauber, Barbara / Bomert, Christiane / Lohner, EvaMaria / Landhäusser, Sandra (Hrsg.): Care. Zum Verhältnis von Sorge und Sozialer Arbeit. Wiesbaden: Springer VS.
  • Emunds, Bernhard (2016): Damit es Oma gut geht: Pflege-Ausbeutung in den eigenen vier Wänden. 1. Auflage. Frankfurt am Main: Westend Verlag.
  • Goncharuk, Tetiana (2020): »Der deutsche Staat gibt vor, dass wir nicht existieren«: Die Arbeits- und Rechtssituation von ukrainischen Care-Migrantinnen in Deutschland. In: Migration und Soziale Arbeit, 2020, Ausgabe 3, Beltz Juventa, S. 243 – 250.
  • Goncharuk, Tetiana (2020a): Das Potenzial von Social Media für das Empowerment von Care-Arbeiterinnen in Deutschland. Masterarbeit. Berlin: MRMA.
  • Lutz, Helma (2018): Die Hinterbühne der Care-Arbeit. Transnationale Perspektiven auf Care-Migration im geteilten Europa / On the road. Die Versorgungskette der Care-Arbeiterinnen zwischen Deutschland, Polen und der Ukraine. Weinheim: Beltz Juventa S. 21–44.
  • Schilliger, Sarah (2012): »Polinnen sind günstig und fürsorglich« – Ethnische und geschlechtliche Segregation des Arbeitsmarktes für 24h-Betreuung. In: TANGRAM 29/2012, Eidgenössische Kommission gegen Rassismus, Bern, S. 68–71.
  • Wissenschaftlicher Dienst des Deutschen Bundestages (2016): »24-Stunden-Pflege in Privathaushalten durch Pflegekräfte aus Mittel- und Osteuropa. Rechtslage in ausgewählten EU-Midgliedsstaaten«. URL: www.bundestag.de/blob/480122/ele7b32064927dbba950d380980b6c3f/wd-6-078-16pdf-data.pdf.

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