Die Ukraine ist an einem Scheideweg in ihrer Erdgaspolitik

Von Margarita M. Balmaceda (Seton Hall University; Harvard Ukrainian Research Insititute)

Sieben Jahre nach der Revolution der Würde von 2014 befindet sich die Ukraine an einem wichtigen Scheideweg in ihrer Energiepolitik, insbesondere der Erdgaspolitik. Die jüngste Ankündigung von Preisobergrenzen für Erdgas, das von Privathaushalten bezogen wird, ist nur ein Beispiel für die tiefgreifenden Herausforderungen, vor denen die ukrainische Gaspolitik steht. Die entschlossenen Schritte der Ukraine in Richtung Transparenz seit dem Jahr 2014 ermutigten damals viele Beobachter:innen. Das Aushängeschild dieser Reformbemühungen war das transparente staatliche Beschaffungssystem ProZorro, das 2015 eingeführt wurde. Im Nachhinein muss wohl konstatiert werden, dass der Erfolg der ukrainischen Reformen des Gas- und Energiemarktsektors nach 2014 überbewertet worden ist. Zwar gab es in diesem Zeitraum in einigen Bereichen bedeutende Fortschritte, aber es bestehen eben immer noch erhebliche Hürden für grundlegende Reformen. Die ukrainische Elektrizitätsbranche steht angesichts der wichtigen Rolle von Erdgas bei der Stromerzeugung in unmittelbarem Zusammenhang mit der Erdgaspolitik. Und gerade in der Elektrizitätsbranche sind aufgrund von mangelnder Transparenz und der möglichen Kaperung von staatlichen Regulierungsbehörden durch Partikularinteressen seit 2014 schwere Bedenken hinsichtlich des Umfangs und der Wirksamkeit der Reformen aufgekommen.

So konnte das Firmen-Konglomerat des Oligarchen Rinat Achmetow aufgrund seines Einflusses auf die Regulierungsbehörde NKRE (Nationale Kommission für Elektrizitätsregulierung) bewirken, dass die gesetzlichen Vorschriften geändert wurden, sodass die wachsende Kontrolle seines Unternehmens über den Stromversorger Oblenergos eine legale Grundlage bekommen hat. Die Obergrenze für den Anteil eines einzelnen Unternehmens am gesamten Stromerzeugungsmarkt wurde damit von 25 auf 33 Prozent angehoben.

Allerdings haben politische Interventionen schon vor 2020–2021 stattgefunden. Erinnern wir uns an das Drama im Jahr 2019: Damals versuchten zwei zwielichtige Geschäftsleute, die mit Rudolf Giuliani, dem damaligen persönlichen Anwalt von Präsident Trump, in Verbindung standen, die Leitung des staatlichen ukrainischen Energieunternehmens NAK Naftohas auszutauschen. Damit wollten sie erreichen, dass große Mengen an US-amerikanischem LNG eingekauft würden, das von Unternehmen stammte, die mit diesen zwei Personen verbunden waren. Sie übten Druck auf die ukrainische Regierung aus, damit diese den reformwilligen Geschäftsführer von Naftohas, Andriy Koboljew, durch einen anderen leitenden Angestellten von Naftohas, den US-Bürger Andrew Faworow, zu ersetzen, der ihren Vorschlägen als zugeneigt angesehen wurde.

Ein weiteres, sehr ernstes Thema sind die Preisobergrenzen für private Erdgasverbraucher. Dies könnte langfristige Auswirkungen auf NAK Naftohas und die Reform die Erdgasbranche haben. In der Tat sind Subventionen nicht nur ein Problem, weil sie einen Mangel an Verantwortung bei der Energienutzung fördern, sondern weil sie traditionell von gut platzierten Akteuren als Quelle für Rent-Seeking genutzt wurden. Darüber hinaus wissen wir aus der Geschichte seit der Gründung von NAK Naftohas im Jahr 1998, dass die Public Service Obligation (d. h. die gesetzliche Verpflichtung, Haushalte zu niedrigen, staatlich regulierten Preisen zu versorgen, die die Importpreise meist nicht vollständig abdecken) zu chronischen Problemen bei der Bezahlung der Importe und des Unternehmens beigetragen hat. Es ist offensichtlich, dass weitere Erhöhungen der Preise für die Versorgung der Haushalte angesichts sinkender Reallöhne infolge der COVID-19-Pandemie eine ernsthafte Belastung für die Haushalte darstellen. Der Konsens unter Expert:innen ist jedoch, dass gezielte Subventionen für besonders gefährdete Gruppen eingeführt werden sollten, anstatt pauschale Preisobergrenzen einzuführen. Denn diese stellen keine effektive Politik der öffentlichen Hand dar, sondern sind weitestgehend Populismus.

Die mögliche Übertragung des Gasnetzbetreibers OHSU (Operator hasotransportnoji systemy Ukrainy; Gas Transmission System Operator of Ukraine, GTSOU) aus der Zuständigkeit des Finanzministeriums in die des Energieministeriums gibt Anlass zur Sorge. Die Einrichtung dieses unabhängigen Netzbetreibers erfolgte erst Ende 2019 nach vielen Jahren politischen Drucks seitens der Europäischen Union. Sowohl die Mitgliedschaft in der Energiegemeinschaft als auch das Assoziierungsabkommen mit der EU brachten für die Ukraine die Verpflichtung mit sich, die Entflechtungsvorschriften der EU umzusetzen. Diese trafen jedoch auf großen Widerstand seitens NAK Naftohas: Das Unternehmen hoffte darauf, weiterhin einen Teil des Gasnetzes zu kontrollieren, anstatt dieses einem völlig unabhängigen Unternehmen zu übertragen. Einige der wichtigsten Elemente dieser Entflechtung, zu der insbesondere die Unabhängigkeit des Netzbetreibers gehört, sind gefährdet. Die Zuständigkeit des Finanzministeriums, und nicht des Energieministerium, sollte diese Unabhängigkeit gewährleisten. Ob diese Entwicklungen von der russischen Gasprom ausgenutzt werden könnte, um den Ende 2019 unterzeichneten Fünfjahresvertrag mit der Ukraine in Frage zu stellen, ist derzeit unklar. Aber da sich Russland und die Ukraine nach der Unterzeichnung des Vertrags in einem brüchigen »Waffenstillstand« befinden, könnten unerwartete Änderungen für die Ukraine zu einer Herausforderung werden, um ausreichende Transitmengen durch ihre Pipelines sicherzustellen. Dies ist ein ernstzunehmendes Problem, das nicht nur die Ukraine als Transitland für Erdgas betrifft, sondern auch die Sicherheit der Versorgung ukrainischer Verbraucher gefährdet.

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