Relevant und resilient? Die ukrainische Zivilgesellschaft in der Krise

Von Susann Worschech (Europa-Universität Viadrina, Frankfurt (Oder))

Zusammenfassung
Die ukrainische Zivilgesellschaft ist nach dem Maidan vernetzter, pluralistischer und dezentralisierter geworden. Da sie auf öffentliche Sichtbarkeit und gesellschaftliche Interaktion angewiesen ist, aber das öffentliche Leben im Zuge der Coronavirus-Pandemie in der Ukraine stark eingeschränkt wurde, stellt die aktuelle Situation eine besondere Herausforderung für die Zivilgesellschaft des Landes dar. Besonders betroffen sind der kulturelle Sektor sowie soziale und kleinere, lokale Initiativen, deren Arbeit und Engagement durch die Restriktion stark eingeschränkt sind und die vor wirtschaftlichen Problemen stehen. Die folgende Analyse wirft einen Blick darauf, wie die Coronavirus-Pandemie sich auf die aktive Zivilgesellschaft in der Ukraine auswirkt – und wie diese mit den Folgen der Pandemiebekämpfung umgeht.

Einleitung

Seit dem 12. März gilt in der Ukraine eine weitreichende Quarantäneregelung. Wie in zahlreichen anderen Ländern Europas sind Bildungseinrichtungen geschlossen und es bestehen strenge Kontaktsperren, welche auch den Aufenthalt auf öffentlichen Plätzen auf ein Minimum reduzierten. Seit dem 12. Mai wurden einige Lockerungen der Einschränkungen eingeführt. So dürfen mittlerweile öffentliche Parks und Grünanlagen, Museen und Bibliotheken wieder betreten werden, und Kioske sowie Gartenrestaurants öffneten. Doch weiterhin sind Treffen von mehr als zwei Personen in der Öffentlichkeit verboten, und Menschen, die über 60 Jahre alt sind, müssen in häuslicher Selbstisolation bleiben. Was für das gesellschaftliche Leben allgemein belastend ist, stellt sich für die Zivilgesellschaft als besondere Herausforderung dar. Zivilgesellschaft ist auf öffentliche Sichtbarkeit, gesellschaftliche Resonanz und vielfältige Interaktionen angewiesen – insbesondere in jenen postsozialistischen Gesellschaften, in denen sich ein aktives Bürgertum erst seit gut drei Jahrzehnten entfalten konnte. Es stellt sich daher die Frage, welche Bedeutung der Corona-Krise für die ukrainische Zivilgesellschaft zukommt. Wo und wie sind deren Akteure besonders betroffen? Kann es gelingen, das vielfältige zivilgesellschaftliche Handeln, das sich insbesondere seit dem Euromaidan herausgebildet hat, aufrecht zu erhalten? Wie kann die ukrainische Zivilgesellschaft die Krise überstehen? Um die Auswirkungen der Pandemie auf die ukrainische Zivilgesellschaft zu verstehen, ist es notwendig, zu fragen, worin ihre spezifischen Schwächen bzw. Verletzlichkeiten bestehen, die von den Maßnahmen betroffen sein könnten. Auf der Basis einer solchen Vulnerabilitäts-Analyse kann dann eine Betrachtung aus der Perspektive der Resilienz erfolgen: Was braucht es, um die (potenziell gefährdeten) Kernelemente zivilgesellschaftlichen Handeln aufrecht zu erhalten? Worin begründet sich zivilgesellschaftliche Resilienz in der Ukraine angesichts der Pandemie?

Strukturen der ukrainischen Zivilgesellschaft

Die ukrainische Zivilgesellschaft gilt als eine der aktivsten, am stärksten dynamischen Zivilgesellschaften im postsowjetischen Raum. Sie blickt auf eine lange Geschichte des zivilen Aktivismus zurück, denn schon zu Sowjetzeiten gab es in der Ukraine eine starke Dissident*innen-Szene, vergleichsweise hohen zivilen Ungehorsam und auch Proteste – man denke an die Streiks der Bergarbeiter im Donbas Ende der 1980er Jahre. Überproportional viele politische Häftlinge in der SU stammten aus der Ukrainischen SSR. Damit zeigt sich eine besondere Stärke der ukrainischen Zivilgesellschaft im Protest – was zugleich ihre größte Schwäche offenbart, denn der starken Protest-Zivilgesellschaft steht eine eher schwache Beteiligungs-Zivilgesellschaft gegenüber. Den vielen Initiativen, NGOs und sonstigen Vereinigungen ist es bisher kaum gelungen, sich nachhaltig und systematisch in politische Entscheidungsstrukturen einzubringen. Den Charakter der ukrainischen Zivilgesellschaft kann man mit der Formel »Strong moments, weak movements« beschreiben: Aus allen bisherigen ausdauernden, mutigen und breiten Protestwellen ist keine langfristige Bewegung entstanden, gründete sich keine demokratische und in der protestierenden Bevölkerung verankerte Partei wie in anderen postsozialistischen Ländern nach 1989. Die Stärke der Straße und dank der vielen Think Tanks auch kritischen Analyse hat sich nicht hinreichend ins Politische übersetzt. Der politische Raum war und ist von der Zivilgesellschaft mehr oder weniger entkoppelt. Dies änderten auch die unzähligen Programme externer Förderer zur Stärkung der Zivilgesellschaft nicht grundlegend – wenngleich es vor allem dieser Förderung zu verdanken ist, dass Organisationen und Initiativen mit einer gewissen Kontinuität arbeiten können und zivilgesellschaftliche Akteure selbst untereinander ausgesprochen gut vernetzt sind.

Durch die Revolution der Würde 2013/14 sind zudem zahlreiche lokale Initiativen und informelle Bündnisse von aktiven Bürger*innen entstanden, die der ukrainischen Zivilgesellschaft eine neue Qualität verliehen. Dass zivilgesellschaftliche Akteure in der Ukraine heute als relevante gemeinschaftsbildende Netzwerke und auch als treibende Kraft der Modernisierung und Europäisierung der Ukraine betrachtet werden können, geht in großem Maße auf die Organisation und den Zusammenhalt auf dem Maidan zurück.

Zugleich haben sich zahlreiche Initiativen gebildet, welche die desolate Armee und Freiwilligenverbände, die im Osten der Ukraine in Kämpfe gegen die von Russland unterstützten Paramilitärs eingesetzt waren, mit medizinischem Material, Schutzkleidung, Lebensmitteln und Ausrüstung sowie Spendengeldern unterstützten. Auch in diesen Gruppen entwickelte sich ein in dieser Stärke bislang unbekanntes Muster der Selbstorganisation und Verantwortungsübernahme. Die meisten dieser Initiativen lösten sich im Jahr 2016 wieder auf, als der ukrainische Staat die Verteidigungsaufgaben nach und nach wieder selbst übernehmen konnte. Über die Nachhaltigkeit dieser Gruppen gibt es bislang nur Hypothesen, die von lokalem Empowerment bis hin zur Militarisierung und gestiegenem Patriotismus reichen. Verlässliche Studien hierzu wären dringend nötig.

Schließlich hat sich die kulturorientierte Zivilgesellschaft in der Ukraine seither stark gewandelt. Zahlreiche Künstler*innen, Kurator*innengruppen, Initiativen und Organisationen aus dem Bereich Kunst und Kultur waren in den Maidan-Protesten aktiv und haben sich hier oder durch den Krieg im Donbas und die Annexion der Krim weiterhin politisiert. Seither sind Kunst und Kultur politischer, offener und kritischer geworden. Die freie Kunstszene hat im Gegensatz zum offiziellen, staatlichen Kultursektor an Bedeutung gewonnen und gilt als progressiver Schrittmacher der Gesellschaft. Insbesondere Kunst und Kultur aus und in der Ostukraine erlangten stärkere Aufmerksamkeit als je zuvor; zudem ist das Themenspektrum in der Kunst breiter geworden.

Strukturell ist die ukrainische Zivilgesellschaft also in den letzten Jahren vernetzter, pluralistischer und dezentralisierter geworden. Die neu entstandenen Netzwerke von Aktivist*innen sind wichtig in der Krise, aber zugleich fragil. Die Gefahr, dass insbesondere informelle Bündnisse auseinanderfallen und sich erneut eine Hierarchie der etablierten NGOs einstellt, wie dies vor 2014 der Fall war, ist hoch. Auch Initiativen und Organisationen jenseits der urbanen Zentren könnten gefährdet sein, wenn hier der Austausch schwieriger wird und zugleich Zeit- und materielle Ressourcen durch die Krise knapper werden und somit bürgerschaftliches Engagement erschweren. Ein weiteres Problem ist es, Resonanz herzustellen, wenn politische Strukturen keine systematische Integration der Zivilgesellschaft vorsehen, öffentliche Aktivitäten aber zumindest in gewohnten Formen unmöglich sind.

Wandel des Aktivitätenprofils in der Krise?

Grundsätzlich bedeutet die Kontaktsperre für alle zivilgesellschaftlichen Aktivitäten einen großen Einschnitt. Zwar könnte es für NGOs, die in größeren Städten angesiedelt sind und die bereits stark digitalisiert und gut vernetzt arbeiten, vergleichsweise leichter sein, Treffen von Aktivist*innen oder das Erarbeiten von Positionen kontaktlos abzuhalten. Für soziale Organisationen, Wohlfahrts-NGOs und kleinere, lokale Initiativen könnte die Arbeit aufgrund der Kontaktbeschränkungen hingegen deutlich schwieriger werden. Und ähnlich wie in Deutschland sind jene Teile der kulturorientierten Zivilgesellschaft – Kulturorganisationen, Galerien, Künstler*innen – mit fehlenden Resonanzräumen sowie wirtschaftlichen Problemen konfrontiert.

Diese potenziellen Hürden für zivilgesellschaftliches Handeln in der Corona-Krise lassen sich derzeit empirisch noch nicht valide beschreiben. In einer Umfrage der Ilko Kucheriv Democratic Initiatives Foundation (DIF), eines sozialwissenschaftlichen Think Tanks aus Kiew, gaben nur etwa 50 Prozent der befragten NGO-Vertreter*innen an, dass die Corona-Krise einen Einfluss auf zivilgesellschaftliches Handeln hätte. Das Niveau zivilgesellschaftlicher Aktivitäten sei durchschnittlich, und auch die Effektivität und Relevanz der Zivilgesellschaft in der Krise erschien aus Sicht der Befragten noch unklar (siehe Grafik 1–3 auf S. 6–8).

In einer weniger empirisch basierten, sondern systematischen Betrachtung, stellt sich daher die Frage, welche konkreten Aktivitäten und Strukturen der Zivilgesellschaft durch die Maßnahmen zur Eindämmung der Pandemie auf welche Weise betroffen sind. Die Aktivitäten zivilgesellschaftlicher Akteure lassen sich anhand theoretischer Überlegungen zu den Funktionen der Zivilgesellschaft in der Demokratie betrachten. Hier gilt, dass Zivilgesellschaft erstens als Korrektiv formal-politischen und institutionellen Handelns relevant ist, weil Entscheidungen hinterfragt und kritisiert, bürgerliche Freiheitsrechte und Interessen geschützt und Machtstrukturen transparenter gemacht werden. Hierfür ist vor allem Öffentlichkeit im Sinne breit zugänglicher Diskurse sowie das Sichtbarwerden im öffentlichen Raum relevant – Proteste, Straßenkunst, Präsenz in der Öffentlichkeit und in Medien sind Orte dieses zivilgesellschaftlichen Handelns. Aber auch Netzwerke der Aktivist*innen und Organisationen untereinander sowie zu politischen Akteuren und Institutionen sind zentral, um Forderungen und Expert*innenwissen einbringen zu können und politische wie gesellschaftliche Resonanz zu erzeugen.

Zweitens ist die Funktion der Gemeinschaftsbildung zentral für zivilgesellschaftliches Handeln. Die Formierung politischen Willens und kollektiver Interessen, deren (demokratische) Verhandlung und gemeinwohlorientierte Umsetzung sind grundlegende Pfeiler für den Aufbau von generalisiertem Vertrauen und Sozialkapital. In dieser Perspektive wird Zivilgesellschaft auch als ‚Schule der Demokratie‘ bezeichnet.

Wie stark zivilgesellschaftliche Organisationen von den Corona-Maßnahmen betroffen und in ihren Aktivitäten eingeschränkt werden, hängt also durchaus davon ab, ob sie sich eher als Korrektiv der Politik oder als gemeinschaftsbildende Organisationen verstehen. Erste Beobachtungen aus der oben zitierten Umfrage deuten darauf hin, dass viele NGOs derzeit ihren Fokus verschoben haben und verstärkt in der Information und Aufklärung bezüglich der Pandemie aktiv sind. Die Befragten betonten aber, dass ukrainische NGOs vor allem in der Verteidigung von Bürgerrechten, in der Bereitstellung von Analysen und Reformvorschlägen aktiv werden sollten. Zugleich sprach sich nur eine Minderheit von ca. 20 Prozent der Befragten dafür aus, dass die Zivilgesellschaft aktiv konstruktive Kritik üben solle – in der Krise käme es darauf an, dass zivilgesellschaftliche Akteure und staatliche Institutionen gemeinsam und nicht ‚gegeneinander‘ handelten. In dieser widersprüchlichen Aussage, dass zivilgesellschaftliche Akteure zwar ihre Korrektiv-Funktion wahrnehmen, aber zugleich gemeinsam mit staatlichen Strukturen agieren sollten, zeigt sich die derzeitige Unsicherheit in der ukrainischen Zivilgesellschaft, wie sie sich angesichts der Krise positionieren sollte.

Sowohl die Korrektiv- als auch die Gemeinschaftsfunktion sind auf Öffentlichkeit und Interaktion angewiesen, um ihre Wirkung zu entfalten. Sofern sich diese Öffentlichkeit auf kontaktlose Formate übertragen lässt, können beide Funktionen aufrechterhalten oder sogar intensiviert werden: kritische Diskussionen in Videokonferenzen und Beiträge in Print-, Online- und anderen Medien würden die Korrektiv-Funktion erhalten; Gemeinschaftsaktionen wie Nachbarschaftshilfe und soziale Unterstützung könnten das Sozialkapital fördern. Wenn sich jedoch solche Resonanzräume für zivilgesellschaftliches Handeln nicht herstellen lassen, könnte dies zu einer deutlichen Schwächung der Zivilgesellschaft führen. Dies gilt insbesondere für die nach wie vor relativ entkoppelten Sphären von Politik und Zivilgesellschaft und betrifft damit vor allem die Korrektiv-Funktion.

Resilienz der Zivilgesellschaft?

Um nun die Resilienz der Zivilgesellschaft zu analysieren, sind zwei Schritte nötig. Der erste bezieht sich auf das Gegenstück zur Resilienz, nämlich die Frage nach der spezifischen Vulnerabilität. Wie ich in den vorangegangenen Abschnitten zeigen konnte, beziehen sich die vulnerablen Punkte auf die fragilen informellen Netzwerke, eine schwache Ressourcenbasis und fragliche gesellschaftliche wie politische Resonanz entsprechend der funktionalen Ausrichtung als Korrektiv oder Gemeinschaft.

Resilienz bezieht sich im sozialwissenschaftlichen Sinne auf drei Fähigkeiten sozialer Einheiten, unter Beibehaltung zentraler bzw. relevanter Funktionen auf Krisen zu reagieren. Erstens besteht Resilienz in der Fähigkeit, unmittelbar mit Schocks und disruptiven Ereignissen so umgehen zu können, dass die Kernfunktionen der sozialen Einheit nicht beeinträchtigt werden. Zweitens gilt es, sich vorausschauend auf das potenzielle Eintreten von Krisen und disruptiven Ereignissen einzustellen und Strukturen entsprechend anzupassen, sodass die Krise die jeweilige soziale Einheit nicht wirklich beeinträchtigen kann. Drittens geht es um das Transformationspotenzial von gesellschaftlichen Einheiten, welches auf bisherige Krisenerfahrungen aufbaut und in einem langfristigen sozialen Wandel nicht nur den Erhalt, sondern auch die Verbesserung sozialer Gegebenheiten zu erreichen versucht.

Die ukrainische Zivilgesellschaft hat in bisherigen Krisen eine erhebliche Resilienz der ersten Kategorie – des kurzfristigen Umgangs mit Krisen – gezeigt, indem weder langanhaltende Repression noch die aktive Bedrohung von Protesten zivilgesellschaftlichen Aktivismus vermindert hat. Aktuell scheinen die informellen und formellen Netzwerke vor allem unter den Organisationen selbst das zivilgesellschaftliche Engagement zu tragen. Die Kooperation mit politischen Akteuren und die Vernetzung in die Gesellschaft hinein ist aber weiterhin fragil und lückenhaft – und die bereits genannte Umfrage der DIF zeigt, dass NGO-Repräsentant*innen die Verantwortung hierfür vor allem in mangelndem Interesse und Transparenz auf staatlicher Seite sowie in der indifferenten bis desinteressierten Haltung der Bevölkerung sehen. Dies stellt ein problematisches Hindernis für den Aufbau neuer Netzwerke und Resonanzstrukturen dar. Zugleich wird aber unter den befragten Expert*innen die Notwendigkeit gesehen, jetzt zügig neue – digitale – Formate zu etablieren und zugleich die eigenen Aktivitäten den neuen Anfordernissen anzupassen. Dies ist zum Teil bereits geschehen, indem NGOs sich stärker für den Schutz vulnerabler sozialer Gruppen einsetzen, Informationen zur Pandemie bereitstellen und damit auch Falschinformationen bekämpfen.

Auch in der zweiten Perspektive, der Anpassung und Antizipation, war die ukrainische Gesellschaft bisher vergleichsweise erfolgreich, da einerseits Netzwerke die Akteure und Organisationen miteinander verbinden, und andererseits die bestehenden Modelle vor allem extern basierter Förderung eine wichtige Basis darstellen. Damit zeigt sich allerdings auch die schwächste Stelle, denn die Abhängigkeit von externer Finanzierung dürfte mittelfristig eher zu- als abnehmen. Wenn dann aufgrund der pandemiebedingten Wirtschaftskrise Fördermittel entfallen, fehlen der ukrainischen Zivilgesellschaft zentrale materielle Ressourcen, die durch individuelle Ressourcen – beispielsweise ehrenamtliche Mitarbeit – kaum kompensiert werden können. Die Ressourcenfrage ist also der kritischste Punkt in einer mittelfristigen Resilienz-Perspektive.

In der dritten, langfristig-transformatorischen Perspektive, müsste es der Zivilgesellschaft besser als bisher gelingen, die eigenen Ressourcen, Wissensbestände und Handlungsrepertoires systematisch an politische und gesellschaftliche Strukturen zu koppeln, um in beiden Bereichen stabile Resonanzräume zu etablieren. Dazu gehören Netzwerke, die unterschiedliche (digitale und präsenzbasierte) Formate einschließen und die zugleich materielle und Zeitressourcen bereitstellen können, indem beispielsweise ehrenamtliche Arbeit stärker integriert wird.

Zusammengefasst lässt sich festhalten, dass die Zivilgesellschaft in der Ukraine gegenüber politischen Schocks und Umbrüchen resilient ist, da sie den (durchaus disruptiven) sozialen Wandel in ihre Handlungserwartungen und -optionen integriert hat und aufgrund der engen Vernetzung der Aktivist*innen untereinander vielfältige Kommunikations- und Handlungsoptionen aufgebaut hat. Zugleich ist sie aber weniger resilient gegenüber dem potenziellen Wegfall externer Förderung, da es keine eigene Förderinfrastruktur gibt und die Zivilgesellschaft zu großen Teilen aus professionalisierten Organisationen, weniger aus ehrenamtlichem Engagement, besteht. Ebenfalls kritisch zu betrachten ist die Frage der Resonanz und damit der gesellschaftspolitischen Relevanz: Vor allem in der Korrektiv-Funktion droht ein Bedeutungsverlust der Zivilgesellschaft, wenn sie nicht auch in Krisenzeiten eine kritische Stimme gegenüber politischen Strukturen bleiben kann. Wie jedoch die DIF-Umfrage zeigt, sind zivilgesellschaftliche Akteure hier selbst unsicher und sehen sich eher in der Verantwortung, gemeinsam mit staatlichen Strukturen zu agieren.

Folgen für die ukrainische Zivilgesellschaft

Schätzungen zufolge könnte die Hälfte der ukrainischen Bevölkerung durch die Corona-Krise unter die Armutsgrenze rutschen. Was das bedeutet für ein Land, dessen Gesellschaft und auch Wirtschaft noch immer von einem andauernden Krieg geprägt sind, kann man sich kaum ausmalen. Die ukrainische Wirtschaft hat es nach Jahren der Rezession – bedingt durch die Krim-Annexion und den seit 2014 Krieg – gerade wieder geschafft, in den Wachstumsbereich zu kommen. Diese Erfolge sind nun zunichte gemacht, und es gibt kaum Reserven, um Übergangslösungen zu finanzieren und entstehende soziale Notlagen abzufedern.

Für die Zivilgesellschaft ist dies ein großes Problem. Ehrenamtliches Engagement benötigt zeitliche Ressourcen, die geringer werden, je stärker sich Menschen auf ihre Erwerbsarbeit fokussieren müssen. Insofern ist vor allem ein Einbruch zivilgesellschaftlicher Aktivitäten dort zu erwarten, wo gerade erst ehrenamtliche Arbeit zunahm – in lokalen Initiativen und Bündnissen, in ehrenamtlicher sozialer Arbeit etc.

Inwiefern sich die Strukturen auch in der professionalisierten Zivilgesellschaft ändern, hängt davon ab, ob sich externe Förderer aus Kostengründen zurückziehen oder aber ihre Förderung gleichbleibend aufrechterhalten können. Dennoch könnte eine Auswirkung auf den professionellen NGO-Sektor sein, dass die dort Beschäftigten sich entweder (auch angesichts inflationsbedingt höherer Preise) besser bezahlte Tätigkeiten suchen oder gleich auf ausländische Arbeitsmärkte abwandern.

Als eines der am deutlichsten pro-europäischen Länder in Europa muss die Ukraine weiterhin im Fokus europäischer Bemühungen der Förderung einer pluralistischen, demokratischen Gesellschaft stehen. Konkret bedeutet das, die künftige Förderung stärker an der Herstellung von Resilienz bezüglich der besonders gefährdeten Aspekte der Zivilgesellschaft auszurichten: Netzwerke, Resonanz und Ressourcen. Die Förderung sollte in ihrer quantitativen Dimension mindestens aufrechterhalten, in qualitativer Hinsicht aber angepasst werden: Zivilgesellschaftlichen Organisationen könnte mehr Eigenverantwortung zugestanden werden, wenn Mittel weniger projektspezifisch zugewiesen würden. Vernetzung und Austausch sowohl auf nationaler und internationaler Ebene könnten weiter gefördert werden, indem in alle Kooperationsprogramme eine starke Digitalisierungskomponente eingebaut wird. Und schließlich sollte der Aspekt lokalen Engagements stärker fokussiert werden, da Kommunen und lokale Netzwerke als Schlüssel gesellschaftlicher Resilienz gelten. Konkret bedeutet das, Kommunen auch hinsichtlich ihrer Außenbeziehungen und Städtepartnerschaften so zu unterstützen, dass der Austausch (auch digital) aufrechterhalten wird und transnationale Netzwerke resilienter Städte und Kommunen in Europa aufgebaut werden können.

Mitarbeit: Karoline Gil

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