Gazprom vs. Naftogaz Ukrainy: die Schiedssprüche des Stockholmer Schiedsgerichts

Von Roland Götz

Die Gasverträge von 2009

Im Januar 2009 handelten Wladimir Putin und Julia Timoschenko Verträge für die Belieferung der Ukraine mit Erdgas sowie für den Gastransit durch die Ukraine aus, welche die Geschäftsbeziehungen zwischen Gazprom und Naftogaz Ukrainy bis Ende 2019 auf eine langfristig stabile Grundlage stellen sollten. Im Liefervertrag wurde der Gaspreis, ausgehend von einem Basispreis, der mit 450 US-Dollar pro 1000 Kubikmeter allerdings vergleichsweise hoch angesetzt war, vierteljährlich an die Entwicklung des Ölpreises gekoppelt. Eine Take-or-Pay-Klausel bestimmte, dass die Ukraine für 80 Prozent einer Richtmenge von 52 Milliarden Kubikmeter pro Jahr, also für 41,6 Milliarden Kubikmeter, auch dann zu bezahlen hat, wenn sie weniger Gas importiert. Im Transitvertrag war eine Mindestmenge des Gastransports durch die Ukraine in Höhe von 110 Milliarden Kubikmetern pro Jahr festgesetzt. Die von Gazprom zu bezahlende Transitgebühr sollte – ausgehend von einer Basisrate für 2010 in Höhe von 2,04 US-Dollar pro 1.000 Kubikmeter und 100 Kilometer Transportentfernung – von der Vorjahresinflationsrate in der EU und dem aktuellen Gaspreis in der Ukraine abhängen.

Schon 2010 stellte sich jedoch heraus, dass die im Liefervertrag enthaltene Preisformel die Wirtschaftskraft der Ukraine überforderte, was mehrfach Preisreduktionen erforderte, die mit politischen Gegenleistungen der Ukraine erkauft wurden. Außerdem waren sowohl die Mindestimportmenge der Ukraine als auch das garantierte Transitvolumen zu hoch angesetzt worden, weil man sowohl den Gasimportbedarf der Ukraine als auch die Entwicklung der Gasnachfrage der westeuropäischen Abnehmer überschätzt hatte. Außer im Jahr 2011 lag der Gasimport der Ukraine stets unterhalb der Schwelle der Take-or-Pay-Klausel, und das vorgesehene Volumen des Gastransits wurde seit 2009 überhaupt nie erreicht (siehe dazu die Grafiken am Ende des Textes). Weder Gazprom noch Naftogaz Ukrainy machten bis zum Ende des Janukowytsch-Regimes ihre aus diesen Vertragsverstößen resultierenden Ansprüche geltend und beschritten auch nicht den Weg der Vertragsrevision aus wichtigem Grund. Erst 2014 riefen beide Parteien das in den Verträgen bestimmte Schiedsgerichtsinstitut der Stockholmer Handelskammer an, um Vertragsklauseln aufheben oder abändern zu lassen und forderten jeweils Schadenersatz für die Nichteinhaltung der Vertragsbestimmungen. Nachdem es Stellungnahmen beider Seiten eingeholt und Ende Mai 2017 einen vorläufigen Schiedsspruch zum Liefervertrag erteilt hatte, verkündete das Schiedsgericht im Dezember 2017 und Februar 2018 die endgültigen Schiedssprüche, die von den Parteien nicht veröffentlicht wurden.

Der Schiedsspruch zum Liefervertrag

Das Gericht legte in seinem Schiedsspruch vom 22. Dezember 2017 fest, dass sich der Gaspreis für die Ukraine bis Ende 2019 nicht mehr am Ölpreis, sondern an dem Preis zu orientieren hat, der am virtuellen Gashandelspunkt »NetConnect Germany« (NCG-Hub) gilt. Für die nicht oder nur teilweise bezahlten Gaslieferungen zwischen November 2013 und Juni 2014 muss Naftogaz Ukrainy 2 Milliarden US-Dollar an Gazprom nachentrichten. Die Take-or-Pay-Klausel setzte das Gericht außer Kraft, mit der Einschränkung, dass die Ukraine 2018 und 2019 je 4 Milliarden Kubikmeter Gazprom-Gas importierten muss. Das Verbot des Reexports von Gazprom-Gas wird aufgehoben und Naftogaz muss nicht für das in die ostukrainischen Separatistengebiete gelieferte Gas zahlen.

Der Schiedsspruch zum Transitvertrag

Das Gericht bestimmte in seinem Schiedsspruch zum Transitvertrag vom 28. Februar 2018, dass Gazprom wegen der Unterschreitung des Transitminimums (allerdings nur für den Zeitraum 2012 bis 2017) Schadenersatz in Höhe von 4,6 Milliarden US-Dollar zu leisten hat. Nach Saldierung mit der Nachzahlung aus dem Liefervertrag hat Naftogaz somit einen Anspruch auf 2,6 Milliarden US-Dollar, für den bei Zahlungsverzug eine Strafzahlung in Höhe von 500.000 Dollar pro Tag fällig wird. Die Berechnungsformel für die Transitgebühr wurde entgegen dem Wunsch der ukrainischen Seite vom Gericht nicht beanstandet. Ebenso wurden vom Gericht die an der Ostgrenze der Ukraine befindlichen Gasübergangspunkte nicht in Frage gestellt, deren Verlegung an die Westgrenze – zusammen mit der Übertragung des Gastransits an einen nach EU-Regeln verfahrenden Betreiber – Naftogaz beantragt hatte.

Zweierlei Maß?

Während Naftogaz keinen Schadenersatz wegen des Verstoßes gegen die Take-or-Pay-Klausel leisten muss, wurde Gazprom wegen Unterschreitung des Mindesttransits zu Schadenersatz verpflichtet. Gazprom-Chef Alexej Miller nannte den Schiedsspruch zum Transitvertrag deswegen »asymmetrisch« und kündigte Widerspruch dagegen an. Obwohl der Eindruck einer Ungleichbehandlung vergleichbarer Fälle besteht, lässt sich die vom Schiedsgericht vorgenommene Bewertung der Verstöße beider Seiten gegen die Vertragsbestimmungen nachvollziehen: Die Unterschreitung der Take-or-Pay-Schwelle des Gasimports hatte, abgesehen von der ab 2013 von Naftogaz Ukrainy eingeleiteten Ersetzung des Gases aus Russland durch Importe aus der EU, ihre Ursache im Rückgang des Gasverbrauchs in der Ukraine und war insofern unvermeidlich. Dagegen war die Unterschreitung der Mindesttransitmenge nicht nur durch einen Rückgang der Gasnachfrage in der EU, sondern auch durch Verlagerung von Transitlieferungen auf die Nord-Stream-Pipeline verursacht worden, was zwar dem ökonomischen Kalkül Gazproms entsprach, aber nicht zwingend erforderlich war.

Regelungsbedarf

Die Weigerung Gazproms, die Ukraine gemäß Schiedsspruch zum Liefervertrag noch bis Ende 2019 zu beliefern, hat keine relevanten Auswirkungen, da die Ukraine vom Gasimport aus Russland ohnehin unabhängig bleiben will. Weil das Gericht an der Mindestgrenze für den Gastransit festhielt, könnte Naftogaz Ukrainy wegen der auch für 2018 und 2019 absehbaren Unterschreitung dieser Grenze erneut Schadenersatz fordern. Außerdem will Naftogaz Ukrainy nochmals die Anhebung der Transitgebühr einklagen sowie Gazprom-Vermögen beschlagnahmen lassen, um seinen Schadenersatzanspruch durchzusetzen. Gazprom wiederum will sowohl den Transitvertrag als auch den Liefervertrag mit der Begründung kündigen, dass beide für das Unternehmen wirtschaftlich nicht mehr vorteilhaft seien. Freilich ist angesichts der Dauer von Schiedsgerichtsverfahren zweifelhaft, ob die Klagen beider Seiten vor Ende 2019 Wirkung entfalten werden.

Die juristischen Aktivitäten der Kontrahenten zielen auf Nebensächlichkeiten, während die Lösung eines viel brisanteren Problems ansteht: Die bisher über die Ukraine erfolgenden Transitlieferungen werden, selbst wenn die neuen Pipelines fristgerecht fertig gestellt werden, nach dem Auslaufen des Transitvertrags Ende 2019 nicht in vollem Umfang auf »Nord Stream-2« und »Turkish Stream« verlagert werden können, weil deren Anbindungsleitungen (in Deutschland »EUGAL«) dann noch nicht oder zumindest nicht mit voller Kapazität zur Verfügung stehen. Deswegen müssen sich im Interesse der EU, aber auch im wohlverstandenen Interesse Russlands und der Ukraine, Gazprom und Naftogaz Ukrainy rechtzeitig auf ein Transitregime für die Zeit ab 2020 einigen. Dabei wird ihnen das Stockholmer Schiedsgericht, das sich der Beilegung von Wirtschaftsstreitigkeiten widmet, jedoch nicht helfen können.

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