Trotz EU-Kurs: Homo- und Transphobie in der Ukraine wachsen

Von Conrad Breyer (München)

Zusammenfassung
Jahrzehntelang hat der ukrainische Staat die sexuellen Minderheiten im Land ignoriert, sogar wie Russland versucht, ihre »Propaganda« gesetzlich zu unterbinden, auch wenn das unter dem zunehmenden Druck einer agilen LGBT1 ihr Herz für Lesben, Schwule, Bisexuelle und Transgender. Präsident Petro Poroschenko wird zum Fürsprecher in erster Reihe. Auf Initiative der Regierungskoalition hat das Parlament Ende 2015 einen Diskriminierungsschutz für sexuelle Minderheiten am Arbeitsplatz gesetzlich verankert. Menschenrechtsaktivist*innen werten dies als Wendepunkt in der traditionell homophoben Politik des ehemaligen Sowjetstaates. Bis 2020, so sieht es ein Aktionsplan der Regierung vor, sollen in der Ukraine sogar gleichgeschlechtliche Lebenspartnerschaften eingeführt werden. Doch darf nicht vergessen werden, dass diese LGBT-freundliche Politik vor allem pragmatische Gründe hat. Zum einen macht die Europäische Union Druck. Von ihr erhofft sich die Ukraine finanzielle Hilfen, Visafreiheit und im Zuge der Assoziierung eine weitere Annäherung. Zum anderen will sich die Regierung in Kiew von Russland abgrenzen, das Teile des Landes besetzt hat. In der Bevölkerung allerdings verfängt die neue Politik nicht. Homo- und Transphobie nehmen zu. Rechtsradikale gehen offensiv gegen Lesben, Schwule, Bisexuelle und Transgender vor.

Einleitung

Die Abstimmung trug Züge eines Kulturkampfes. Immer wieder musste Parlamentssprecher Volodymyr Hroysman die Abgeordneten zur Disziplin aufrufen, bis schließlich – nach vier Runden und mehreren Tagen – eine knappe Mehrheit in der Werchowna Rada für die Vorlage der Regierung stimmte. So fügten die Parlamentarier am 12. November 2015 dem Arbeitsgesetz (no. 3442) einen Passus hinzu, nach dem nun künftig auch Menschen am Arbeitsplatz vor Diskriminierung geschützt werden, die sich einer bestimmten sexuellen Orientierung oder Gender-Identität verbunden fühlen. Im Vorfeld hatte Hroysman die traditionellen Familienwerte beschworen. »Das ukrainische Parlament wird niemals gleichgeschlechtliche Ehen unterstützen. Gott bewahre«, sagte er vor der Rada. Jetzt aber gehe es um visafreies Reisen in die Europäische Union. So hat er den Zusatz im Gesetz schließlich durchgesetzt.

Auf dem Weg der Ukraine zu einem visafreien Reiseregime hat das Land schon viele Reformvorhaben umgesetzt (s. Ukraine-Analysen 165). Der Diskriminierungsschutz sexueller Minderheiten am Arbeitsplatz war nur eines davon, wenn auch das umstrittenste. Dass sich das Parlament dazu durchringen konnte, grenzt an ein Wunder. Die Demonstrantinnen und Demonstranten vor der Werchowna Rada, neben den LGBT- auch zahlreiche Menschenrechtsaktivistinnen und -aktivisten, brachen in Jubel aus. Stundenlang hatten sie an diesem Tag im November vor dem Parlament im Regen ausgeharrt.

Das neue Antidiskriminierungsgesetz soll im Job für eine Gleichbehandlung aller Arbeitnehmer sorgen, unabhängig von Religion, Hautfarbe, politischer Überzeugung und jetzt auch sexueller Orientierung/Gender-Identität. Arbeitgeber, die dagegen verstoßen, müssen mit Sanktionen rechnen.

Beobachter werten das Gesetz als historischen Wendepunkt. Nie mehr seit 1991, als die Ukraine einvernehmlichen Sex unter Männern legalisierte, hat sich das Land in seinen Gesetzen explizit zur Existenz von LGBT und deren Rechten bekannt. Die offizielle Politik des Landes gegenüber Lesben, Schwulen, Bisexuellen und Transgender hat sich seit der Revolution der Würde, dem Maidan, vor zwei Jahren, radikal verändert – allerdings nur auf den ersten Blick. Denn die Menschen in der Ukraine stehen der gleichgeschlechtlichen Liebe feindselig gegenüber.

Blick durch die rosa Brille?

Im Aktionsplan der Regierung zur Umsetzung der nationalen Menschenrechtsstrategie bis 2020 vom 23. November 2015 stellt die Ukraine den sexuellen Minderheiten im Land weitreichende Rechte in Aussicht, etwa

den Schutz vor Diskriminierung aufgrund der sexuellen Orientierung/Gender-Identität in allen Aspekten des Lebens, die das Gesetz regelt,eine eingetragene Partnerschaft für gleichgeschlechtliche Paare,eine neue Gesetzgebung für Transgender, die ihr Geschlecht anpassen wollen,eine Berücksichtigung von Hassmotiven als erschwerende Umstände im Strafgesetzbuch und

ein Ende des Adoptionsverbots für Transgender.

Freilich ist der Aktionsplan lediglich ein Plan. Die Regierung muss die entsprechenden Gesetzesentwürfe ins Parlament einbringen. In der Volksvertretung wie sie jetzt besteht, dürften die Vorlagen keine Chance haben. LGBT-Aktivist*innen rechnen sich aber für die nächste Legislaturperiode durchaus Möglichkeiten aus, wenn noch mehr Politikerinnen und Politiker einer neuen Generation die alten, von Oligarchen-Interessen geleiteten Abgeordneten ablösen sollten.

Eine dunkle Historie

Wie radikal sich die Politik der Ukraine gegenüber ihren sexuellen Minderheiten verändert hat, macht erst der Vergleich mit der Vergangenheit deutlich. Die Errungenschaften des vergangenen Jahres, die Ergänzung des bestehenden Arbeitsrechts und der Aktionsplan für Menschenrechte bis 2020, schloss an eine Zeit an, mit Parlamentsinitiativen, die völlig gegensätzliche Ziele verfolgten. So sollte noch 2012 nach russischem Vorbild ein Anti-Gay-Propagandagesetz eingeführt werden. Das ist wenige Jahre her, dazwischen lagen Wahlen, vor allem aber eine Revolution.

Damals hatten alle Parteien, ob in Regierungsverantwortung oder in der Opposition, für ein Gesetz gegen so genannte Gay-Propaganda (no. 8711; ab 12.12.2012 no. 0945, ergänzt durch das Gesetz no. 1155) gestimmt. Der Entwurf sah ein Verbot jedweder positiver Information über Homosexualität vor, sei es in der Öffentlichkeit oder in den Medien. Es sollte ein Zuwiderhandeln mit bis zu fünf Jahren Haft bestrafen. In Russland ist ein ähnliches Gesetz in Kraft; es führt zu einer staatlicherseits geförderten Homo- und Transphobie und gilt auch auf der annektierten Krim. In den Gebieten der so genannten Volksrepubliken im Osten der Ukraine ist Homosexualität sogar wieder verboten.

Eine homo- und transphobe Ukraine

Die »Europäisierung« auf staatlicher Ebene hat die Gesellschaft selbst bislang wenig verändert – das Gegenteil ist der Fall. Bis heute könnte sich eine Politik wie oben beschrieben auf eine in der Bevölkerung weit verbreitete Ablehnung gegenüber LGBT stützen. Denn die ukrainische Gesellschaft war und ist – wie viele postsowjetische Länder – zutiefst lesben-, schwulen- und transfeindlich. Aktuellen Umfragen der LGBT-Organisation Nash Mir zufolge, die sie anlässlich der Konferenz »LGBT Issues and the European Integration of Ukraine« am 15. und 16. März 2016 in Kiew erhoben hat, sind die Menschen in der Ukraine nicht bereit, ihren Mitbürger*innen die gleichen Rechte zuzugestehen, wenn sie lesbisch, schwul, bisexuell oder transident sind (s. Grafik 4 auf S. 21). Nur 33,4 Prozent sagen, das sei nötig. 2002 waren es noch 43 Prozent. 69 Prozent sind außerdem dagegen, eine Homo-Ehe einzuführen. 2002 waren es nur 54 Prozent (s. Grafik 5 auf S. 22).

Homosexualität gilt vielen nach wie vor als Krankheit, Perversion, als westliche Mode. In einer von Wirtschaftskrisen, Krieg und Propaganda gezeichneten Gesellschaft erscheinen LGBT-Rechte wie ein Luxus, den sich das Land nicht leisten kann und will. Die Gesellschaft wirkt zunehmend polarisiert: Die einen streiten für vermeintlich liberale, europäische Werte, die anderen für traditionelle, ukrainische, ohne genau zu wissen, was das eigentlich bedeutet. Eine Diskussion um Menschen- und Bürgerrechte für alle findet nicht statt. Dabei hat sich der Maidan ja vor allem auf diese als Grundlage einer neuen Ukraine berufen. Vielleicht steht dahinter auch ein Generationenproblem: Immerhin kann sich heute jeder zweite junge Mensch in der Ukraine zwischen 14 und 35 Jahren schon vorstellen, Tür an Tür mit einem Homosexuellen zu leben (»Youth of Ukraine – 2015«, GfK Ukraine) – freilich lehnt das die andere Hälfte ab.

Wie ist das zu erklären? Wo doch viele der etablierten Politiker*innen, mit Ausnahme der Rechtsradikalen vom Rechten Sektor und Swoboda (Freiheit), heute differenziertere Sichtweisen auf das Thema einnehmen. Auch die Medien berichten inzwischen neutral, wie die Studie »The Ice is broken« von Nash Mir zur Situation von LGBT in der Ukraine 2015 zeigt.

Tatsächlich hat sich die Einstellung der politischen Klasse über Nacht nicht nachhaltig verändert. Sie handelt, abgesehen von einigen wenigen Ausnahmen, aus Kalkül. Die Ukraine hat sich nach der Revolution der Würde einem Westkurs verschrieben und kann nicht, wie noch vor dem Maidan, zwischen Russland und dem Westen hin und her lavieren. Von der EU erwarten die Regierenden Finanz- und Wirtschaftshilfe, Visafreiheit, eine Perspektive für einen zukünftigen Beitritt. Die Union kann ihre Bedingungen diktieren. Russland und die russische Welt stellen auf absehbare Zeit keine Alternative dar. Außer dem Präsidenten des Landes, Petro Poroschenko, der die Ukraine dezidiert gegen ein Europa Putin’schen Zuschnitts positioniert, machen sich nur wenige Politikerinnen und Politiker explizit für LGBT stark. Ausnahmen sind etwa Switlana Salischtschuk und Serhij Leschtschenko. Beide sind Abgeordnete des Blocks Poroschenko, die 2015 beim KyivPride mitgelaufen sind. Die Politik verurteilt die Gewalt rechtsradikaler Gruppen gegen sexuelle Minderheiten nur selten und lässt die Rechten gewähren. Denn, so ihr Argument, als Patrioten kämpften diese an der Front, Lesben und Schwule täten das nicht. Die Behauptung ist zwar falsch, sie beweist aber, wie tief die Vorurteile sitzen. Den Schutz der eigenen Bevölkerung überlässt der Staat damit der Europäischen Union, die für Diskriminierungsschutz eintritt. Ihre Forderungen gilt es zu erfüllen, wohl oder übel.

Ein großes Problem sind die Kirchen aller Konfessionen. Sobald es um LGBT-Rechte geht, fürchten sie um Moral, traditionelle Familienwerte und die ukrainische Identität. Die Kirchen sind sehr einflussreich in ihren Hassreden, ihrer Ablehnung und ihren Vorurteilen gegenüber Schwulen, Lesben, Bisexuellen und Transgender. Sie haben in den vergangenen Jahren stets gegen einen Diskriminierungsschutz gekämpft. Auch eine eingetragene Lebenspartnerschaft lehnen sie ab.

Ohne die EU keine Bewegung

Es ist deshalb aus Sicht vieler LGBT-Aktivist*innen auch in Zukunft entscheidend, dass die Europäische Union die Ukraine nicht aufgibt. »Ohne Europa keine LGBT-Bewegung«, sagt etwa Bogdan Globa, einer der profiliertesten LGBT-Aktivisten des Landes. Er hat sich 2013 als erster Homosexueller vor dem ukrainischen Parlament geoutet. Globa leitet die LGBT-Organisation Fulcrum/Tochka Opori in Kiew.

Allerdings darf man die Rolle der Zivilgesellschaft nicht unterschätzen. Den Menschenrechts- und LGBT-Organisationen ist es zu verdanken, dass die Regierung den genannten Aktionsplan für Menschenrechte in der dargestellten Form verabschiedet hat. Hinter der ukrainischen LGBT-Bewegung steht eine gut organisierte, hochmotivierte Community, die für ihre Rechte einsteht. Allein in Kiew gibt es acht große LGBT-Organisationen (siehe Tabelle auf S.22/23), in den Regionen kommen weitere hinzu: An ihnen kommt die Politik nicht vorbei, zumal sie mit anderen Menschenrechtsorganisationen auf nationaler wie internationaler Ebene bestens vernetzt sind.

In den vergangenen Jahren hat die Community mit spektakulären Events im ganzen Land auf ihre Anliegen aufmerksam gemacht und für Diskussionen in ihrem Sinne gesorgt. Seit dem Maidan ist sie noch sichtbarer geworden. Sie treibt den politischen Diskurs, weil sie verstanden hat, LGBT-Rechte in den Kontext allgemeiner Menschenrechtsarbeit zu setzen. Zu ihrem größten Erfolg zählte 2015 der KyivPride in Kiew. Am »Marsch der Gleichheit« in Kiew, einer Demonstration für gleiche Rechte für alle, nahmen in der ukrainischen Hauptstadt am 6. Juni 2015 Hunderte Menschen teil. Es war der erste Pride nach dem Sturz des Janukowitsch-Regimes, unter dem noch 2013 ein allererster Marsch stattgefunden hatte. Die Polizei wollte den KyivPride 2015 erst schützen, als sich der Präsident des Landes, Petro Poroschenko, vor die Veranstaltenden stellte. Eine Reporterin fragte ihn am Rande einer Pressekonferenz, ob er beim »Marsch der Gleichheit« mitlaufen werde. Poroschenko antwortete: »Ich betrachte den Marsch der Gleichheit als ein christlicher und ein europäischer Präsident. Beide Dinge sind kompatibel. Ich nehme nicht teil, aber ich sehe keinen Grund ihn in Frage zu stellen, denn es ist das verfassungsmäßige Recht jedes ukrainischen Bürgers.« Die Polizei hat dieses verfassungsmäßige Recht dann auch gegen Angreifer verteidigt. Rechtsradikale haben den Marsch attackiert. Im Nachgang sind viele verletzt worden, darunter auch Polizisten, einer von ihnen schwer.

Nie zuvor in der Geschichte des Landes hat sich ein ukrainischer Präsident derart dezidiert für LGBT-Rechte ausgesprochen. Auf der Sicherheitskonferenz in München im Februar 2016 legte Poroschenko noch einmal nach und forderte die Europäer auf, sich geeint gegen Russland zu stellen, das für ein Europa unter anderem der Homophobie stehe. Der Schutz sexueller Minderheiten wird damit zu einer Art Staatsräson im Sinne europäischer Werte, für die es sich zu kämpfen lohnt. Die LGBT-Community hat die Äußerungen Poroschenkos dankbar aufgenommen und wird ihren Präsidenten daran messen, solange dieser im Amt ist.

Gefahr durch radikale Kräfte

Das alles zeigt, wie wendig die ukrainische LGBT-Community inzwischen ist. Es darf aber nicht darüber hinwegtäuschen, in welch schwierigem Umfeld ihre Organisationen und Gruppen arbeiten. Zunächst einmal ziehen sich internationale Geldgeber wie der Global Fund aus der HIV-Prävention im Land zurück. Dieses Geld fehlt den LGBT-Organisationen, die ihre Mittel nun fallweise besorgen müssen, wenn es um konkrete Projekte geht. Hier sind vor allem die EU-Botschaften in Kiew oder auch die Swedish International Development Agency SIDA gefragte Partner. So finanzierten 2015 beispielsweise die norwegische Botschaft und SIDA über die Gay Alliance Ukraine indirekt den KyivPride mit.

Ein weiteres Problem ist die Mobilisierung. Die meisten LGBT-Aktivist*innen leben von Geld, das sie bei internationalen Gebern beschaffen. Das Ehrenamt setzt sich erst langsam durch. Langfristige gesellschaftliche Veränderungen aber können nicht Berufsaktivist*innen überlassen werden, sondern sind Sache der Grassroot-Bewegung. Die Gay Alliance Ukraine, größte LGBT-Organisation des Landes, hat das erkannt. Sie schult zusammen mit ihren Partnern in München seit einiger Zeit gezielt Ehrenamtliche für den Job in der Ukraine am Beispiel der Szene in der bayerischen Landeshauptstadt. In Deutschland tragen ja vor allem Ehrenamtliche die Community-Arbeit.

Und schließlich ist LGBT-Aktivismus in der Ukraine nach wie vor nicht ungefährlich. Radikale Minderheiten in der Ukraine gehen offensiv und mit Gewalt gegen Einrichtungen der Community sowie Einzelpersonen vor. Im Herbst 2014 haben Rechtsradikale das Kino Schowten in Brand gesteckt, als dort im Rahmen des Filmfestivals Molodist ein französischer Film über Drag Queens lief. 2015 wurden neben dem KyivPride die Queer Homes in Odessa und Kryvyi Rih angegriffen sowie eine Bar in Odessa. Die Queer Homes sind Kommunikations- und Kulturzentren für die Szene, die die Gay Alliance Ukraine in verschiedenen Städten betreibt. Die Organisation Nash Mir in Kiew, die sich auch als Dokumentationsstelle einen Namen gemacht hat, zählt für 2015 genau 71 Diskriminierungsfälle und Hassverbrechen aufgrund von Homo- oder Transphobie auf. Im Vorjahr waren es 54. Darunter sind immer auch Morde. Über die einschlägigen Dating-Portale werden vor allem schwule Männer in Fallen gelockt, überfallen, verprügelt und nicht selten umgebracht. Die Polizei interessiert sich nicht für diese Fälle.

Im März 2016 konnte in Lwiw aufgrund von Protesten Rechtsradikaler das von der LGBT-Organisation Insight um die bekannte LGBT-Aktivistin Olena Schewtschenko geplante »Equality Festival« nicht stattfinden, das derzeit durch die Ukraine tourt. Nach einer Bombendrohung am Austragungsort brachen die Veranstaltenden das Event ab. Vor dem Hotel bewarfen Protestierende die etwa 70 Teilnehmer*innen mit Rauchgranaten, Steinen, Feuerwerkskörpern und grüner Farbe. Die Stadt und die Polizei weigerten sich, für die Sicherheit der Teilnehmer*innen zu garantieren. Lwiws Bürgermeister Andriy Sadowyj sitzt der europafreundlichen Partei Samopomitsch (Selbsthilfe) vor, die bis vor Kurzem der Regierungskoalition in Kiew angehörte.

Es ist deshalb kein Wunder, dass trotz aller auch positiver Entwicklungen viele LGBT-Aktivist*innen der älteren Generation ausgewandert sind, die explizit Bedrohungen ausgesetzt waren. Bekanntestes Beispiel war 2015 sicher Taras Karasiitschuk, Ex-Chef der Gay Alliance Ukraine. Er setzte sich im Sommer nach New York ab, um dort politisches Asyl zu beantragen. Karasiitschuk war Opfer von Überfällen und Morddrohungen. Mit ihm verließ einer der profiliertesten LGBT-Aktivisten der Ukraine das Land. Karasiitschuk war es, der 2012 die Pride-Bewegung überhaupt erst ins Leben gerufen hat. Seit 2015 führt Wolodymyr Naumenko die Gay Alliance Ukraine. Immerhin konnte sich die Bewegung so insgesamt erneuern. Menschen mit frischen Ideen stehen bereit und machen sich an die Arbeit.

Fazit und Ausblick

Der Kampf um die Rechte sexueller Minderheiten in der Ukraine bleibt auf absehbare Zeit schwierig. Erst wenn es gelingt, Frieden im Land zu schaffen und die nötigen Wirtschaftsreformen umzusetzen, dürfte für die Menschenrechtsarbeit ein günstigeres Umfeld entstehen. Dafür braucht die Ukraine idealerweise eine europäische Perspektive, die den Menschen Hoffnung auf eine bessere Zukunft macht und damit die Härten des laufenden Reformkurses erträglich. Nur so werden die LGBT-Organisationen des Landes mehr Verständnis für ihre Belange erwarten können. Für die Community selbst sind Lobbying, Mobilisierung vor allem von Ehrenamtlichen, Dialog und Sichtbarkeit wichtig, idealerweise zusammen mit einer politischen Kraft wie dem Block Petro Poroschenko, der einzigen einigermaßen LGBT-freundlichen Partei im Parlament. Gemeinsam sollten sie versuchen, das Land aus der künstlichen Wertedebatte Europa versus Ukraine zu führen; beides widerspricht sich nicht. Die Ukraine gehört zu Europa, Menschen- und Bürgerrechte gelten für alle. Politik und Zivilgesellschaft müssen deutlich Stellung beziehen, wenn es um die Gewalt rechtsradikaler Kräfte im Land geht. So könnten in den kommenden zehn Jahren entscheidende Veränderungen erlangt werden, vergleichbar etwa mit den Entwicklungen, die die EU-Beitrittskandidaten Osteuropas erlebt haben, als sie 2004 zur Europäischen Union kamen. Ob das alles tatsächlich so kommt, ist fraglich, zumal es in der Ukraine am politischen Willen fehlt, das Land tiefgreifend zu verändern. Auch der Faktor Russland bleibt unkalkulierbar. Es wird von den Aktivist*innen und den ausländischen Partnern noch viel Geduld erfordern, das Land auf seinem Weg nach Europa zu begleiten.

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