Äußerst verhaltener Wirtschaftsausblick zwei Jahre nach dem Maidan

Von Gunter Deuber, Andreas Schwabe (beide Wien)

Zusammenfassung
In Bezug auf die Wirtschaftsentwicklung in der Ukraine sind derzeit einige positive, aber auch weiterhin negative Trends zu beobachten. Einerseits stabilisiert sich die Realwirtschaft nach einem heftigen Einbruch zögerlich, andererseits deuten andere Indikatoren und Entwicklungen weiter auf eine ernstliche Fragilität hin. Insofern wird es entscheidend sein, ob 2016 eine nachhaltigere ökonomische Stabilisierung gelingt oder nicht. Derzeit ist es noch zu früh, um von einem eindeutigen Umschwung zu sprechen. Extreme Einkommensrückgänge bzw. eine sehr hohe Schuldenlast im öffentlichen und privaten Sektor, Strukturschwächen, Reformblockaden und Ereignisrisiken lasten weiterhin auf der Ukraine. In einigen Bereichen gibt es sogar eine Fortführung alter Muster (etwa in der Währungspolitik oder bei der Reformierung des intransparenten Bankensektors).

Schwierige Ausgangslage

Um die wirtschaftlichen Herausforderungen der heutigen Ukraine verstehen zu können, ist ein Blick in die Vergangenheit unumgänglich. Bereits in den Jahren vor dem »Euromaidan-Winter« 2013/14 war die Ukraine von massiven außenwirtschaftlichen Ungleichgewichten bzw. einer ernstlichen Fragilität geprägt. Zudem befand sich das Land schon 2012 und 2013 in einer Stagnation. Gedämpfte Stahlpreise drückten die Exportgewinne, während die fixe Anbindung der überbewerteten Hrywnja an den US-Dollar den Güterimport begünstigte. Hiervon profitierte auch die Bevölkerung unmittelbar über eine positive nominale Lohnentwicklung, während die ausgewiesene Inflation (wohl nicht ohne Nachhelfen der Regierung) nahe der Nulllinie verharrte. Die durchschnittlichen monatlichen Bruttolöhne verdoppelten sich von 2009 bis 2013 auf (umgerechnet) fast 400 US-Dollar (s. Grafik 9 auf S. 18). Gleichzeitig trugen stark subventionierte Endverbraucher-Energiepreise zu einem überbordenden Haushalts- und Leistungsbilanzdefizit bei.

Das Staatsdefizit inklusive des Energieversorgers Naftogaz stieg auf über zehn Prozent des BIP, Staatsausgaben und -einnahmen in Relation zum BIP stiegen auf dem Niveau eines entwickelten Industrielandes. Die Zentralbank war zum Erhalt des Hrywnja-Festkurses zu fortlaufenden Verkäufen der Währungsreserven gezwungen, was bereits 2012/2013 die Sorge um eine Währungskrise nährte.

Diese gesamtwirtschaftliche Lage war nicht nachhaltig. Um den Status quo aufrechtzuerhalten, musste sich die Ukraine international verschulden. Eine Abkehr von der Wechselkurskursbindung oder Strukturreformen wurden indes nicht ins Auge gefasst – teils da der Status quo der Elite hohe Gewinne garantierte, teils da Präsident Wiktor Janukowytsch vor einer Währungsabwertung und schmerzhaften Strukturreformen zurückschreckte. Die Annahme eines russischen Hilfspakets über 15 Milliarden US-Dollar und eine erste Kredittranche über drei Milliarden US-Dollar im Dezember 2013 bei gleichzeitiger Ablehnung des EU-Assoziierungsabkommens waren sozusagen die Endpunkte einer komplett gescheiterten Wirtschaftspolitik, die das Entstehen des »Euromaidans« begünstigte.

Erste Stabilisierungsversuche scheiterten, realwirtschaftliche und makrofinanzielle Erholung seit Frühjahr 2015

Die auf den »Euromaidan« folgende Übergangsregierung unter dem auch derzeit amtierenden Premier Arsenij Jazenjuk war schon aufgrund der zuvor skizzierten Versäumnisse mit massiven ökonomischen Herausforderungen konfrontiert. Nicht umsonst stellte Jazenjuk sein Kabinett als »Kamikazetruppe« vor, die überfällige und schmerzhafte Reformen bzw. eine wirtschaftlich-institutionelle Tiefentransformation anpacken werde.

Angesichts des propagierten Reformwillens war der Internationale Währungsfonds (IWF) rasch bereit, mit einem Kreditpaket zu unterstützen. Die Krimkrise und der anschließende Konflikt in der Ostukraine lenkten allerdings die politische Aufmerksamkeit – in Kiew und auf internationaler Ebene – von den massiven wirtschaftlichen Transformationsherausforderungen ab, zumal sich die Wirtschafts- und Finanzsituation im Kontext der sicherheitspolitischen Eskalation rapide und dramatisch verschlechterte. Der militärische Konflikt in der Ostukraine verschärfte damit die sowieso nötige Anpassungsrezession, welche gemäß heutigem Stand fast zwei Jahre angedauert und beinahe ein Fünftel der Wirtschaftsleistung gekostet hat.

Die Aufgabe der Hrywnja-Festkursanbindung bzw. die zeitweise Einstellung von Stützungskäufen führte unter den skizzierten ökonomischen und sicherheitspolitischen Rahmenbedingungen zu einer mehrere Monate andauernden Abwertungsspirale bzw. letztendlich zum Verlust fast aller Währungsreserven. Der Hrywnja-Verfall konnte erst im Frühjahr 2015 bei einem Wertverlust von zwei Dritteln (gegenüber dem US-Dollar) und umfassenden Devisenmarktbeschränkungen gestoppt werden. Zudem kamen schon 2014 erste Überlegungen auf, ob die Regierung den Konflikt in der Ostukraine nicht zunehmend als Ausrede für stockende oder verschobene (Wirtschafts-)Reformen nutzen würde. Ökonomisch und im Hinblick auf wirtschaftspolitische Neuordnungen war 2014 ein verlorenes Jahr.

Seit dem Frühjahr 2015 zeichnet sich eine zögerliche gesamtwirtschaftliche Stabilisierung ab (s. Grafik 10 auf S. 18). Ab März kamen die Rückgänge von Industrieproduktion und Einzelhandelsumsätzen zum Erliegen. Der administrativ stabilisierte Wechselkurs ließ die Inflation (abgesehen von Sondereffekten wie Energiepreiserhöhungen) zurückgehen. Das zweite Quartal 2015 wies nur noch einen kleinen Rückgang des Bruttoinlandsproduktes auf, das dritte zeigte – bei einer Beruhigung der Konfliktlage in der Ostukraine – bereits ein bescheidenes BIP-Wachstum außerhalb der von den Rebellen kontrollierten Gebiete und der Krim.

Angesichts der sinkenden Inflation sowie der eingefrorenen Währung konnte die Notenbank der Ukraine den exzessiv hohen Leitzins von 30 % im Jahresverlauf ein wenig absenken – auf 22 %. Trotz heftigem Exportrückgang hat das Handelsbilanzdefizit mit der Rezession und damit noch drastischer fallenden Importen deutlich abgenommen und die Leistungsbilanz ist derzeit ausgeglichen. Diese Anpassung stabilisiert die außenwirtschaftliche Position der Ukraine, da sich die externen (Re-)Finanzierungserfordernisse reduzieren.

Im Jahresverlauf 2015 machte der IWF zudem einen neuen Anlauf zur Flankierung der nun anstehenden Transformation in der Ukraine und verkündete ein erneuertes und umfassendes Kreditprogramm mit vierjähriger Laufzeit (was also deutlich über eine kurzfristige makroökonomische Stabilisierung hinausgeht), dessen (Vorab-)Auflagen die Regierung zu ersten Reformschritten zwangen. Die Währungsreserven konnten durch die Kredittranchen des IWF und weitere bilaterale Unterstützung für die Regierung bzw. Notenbank (etwa aus den USA, China, Kanada, Deutschland, Japan oder Schweden) wieder aufgefüllt werden. Der Regierung gelang nach äußerst zähen Verhandlungen zudem die Restrukturierung von 15 Milliarden US-Dollar an Auslandsschulden, welche neben einer moderaten Kürzung der nominellen Schuldenlast vor allem eine signifikante Atempause bei den Tilgungen (zu leisten in knapper Fremdwährung) in den nächsten drei bis vier Jahren brachte.

Letzteres ist für das Vertrauen in die makrofinanzielle Stabilität sehr wichtig. Positiv ist auch, dass der zentrale Staatshaushalt (d. h. ohne Regionen und Naftogaz) in den ersten drei Quartalen des Jahres 2015 einen Überschuss aufwies (auch wenn saisonal mit einer Verschlechterung der Haushaltslage zu rechnen ist). Im Vergleich zum Vorjahr fällt die wirtschaftliche bzw. wirtschaftspolitische Bilanz für 2015 deutlich positiver aus. Trotz einiger positiver Trends ist aber auch zu betonen, dass sich die Wirtschaft derzeit nur auf einem sehr niedrigen Niveau stabilisiert. Die Abwertung und die hohe Inflation haben zu deutlichen Reallohneinbußen geführt, der umgerechnete durchschnittliche Monatslohn liegt unter 200 US-Dollar im Vergleich zu 400 US-Dollar in 2013 (s. Grafik 9 auf S. 18).

Wirtschaftsausblick 2016

Unser Wirtschaftsausblick für 2016 ist sehr zurückhaltend. Wir erwarten ein bescheidenes BIP-Wachstum von ein bis zwei Prozent pro Jahr (s. Grafik 1 auf S. 14) Diese Rückkehr zum Wirtschaftswachstum basiert vor allem auf dem niedrigen Ausgangsniveau und der Annahme, dass es nicht zu neuerlichen negativen Schocks kommt. Normalerweise wäre nach so einem heftigen BIP-Rückgang und einer so drastischen Währungsabwertung wie in der Ukraine mit einem stärkeren »BIP-Rückprall« bzw. einem höheren BIP-Wachstum zu rechnen. Für einen starken und nachhaltigen Wachstumsimpuls sehen wir derzeit aber keine fundamentale Basis. Die Schätzungen des IWF, der Europäischen Bank für Wiederaufbau und Entwicklung (EBWE) und der Ukrainischen Nationalbank für das 2016er BIP-Wachstum liegen im Bereich zwischen zwei und 2,4 Prozent pro Jahr, der mittlere Erwartungswert aus Schätzungen von in- und ausländischen Bankökonomen und Wirtschaftsforschungsinstituten liegt nur bei 1,2 %. Dieser sehr verhaltene Ausblick spiegelt die zahlreichen und im Folgenden dargestellten Herausforderungen wider.

Wir gehen maximal von graduellen Fortschritten bei der politischen Lösung durch ein »Einfrieren« des Konflikts in der Ostukraine aus. Beim letzten Treffen im Normandie-Format wurde der Minsk-II-Prozess bis Mitte 2016 verlängert. Doch auch in diesem Zeithorizont scheint dessen vollständige Umsetzung sehr fraglich. Zudem widerspricht die aktuelle sicherheits- und sozialpolitische Lage im Konfliktgebiet eher einer nachhaltigen Beruhigung. Damit bleibt der Konflikt in der Ostukraine ein negativer Faktor sowohl für das heimische Investitions- und Geschäftsklima als auch für das Vertrauen in die Währung – zumal es auch Anzeichen dafür gibt, dass die ukrainische Seite nicht eindeutig an einer Deeskalation im Konfliktgebiet interessiert ist. So agiert die Ukraine etwa in Wirtschaftsfragen im Rahmen der trilateralen OSZE-Kontaktgruppenarbeit nicht immer pragmatisch bzw. blockiert teils Lösungen, die den (sozialen) Alltag im Konfliktgebiet erleichtern könnten. Insofern verdeutlichte die trilaterale OSZE-Kontaktgruppe unlängst, dass sich die humanitär-soziale Lage trotz Kooperationsversuchen derzeit nicht verbessert. Zudem hat sich an der Kontaktlinie eine erhebliche Schattenwirtschaft (z. B. mit Zahlungen fürs Passieren dieser Linie) etabliert, in die auch ukrainische Sicherheitskräfte involviert sind, während die Ukraine an der Wirtschaftsblockade der nicht-kontrollierten Gebiete festhält. Teils fühlen sich hier auch ukrainische Firmen, die sich ordnungsgemäß auf kontrolliertem Gebiet registriert haben und Interessen beiderseits der Kontaktlinie haben, de jure und v. a. de facto diskriminiert.Nach einem guten Start des IWF-Kreditprogramms im März verzögern sich die Auszahlungen wieder zunehmend. Schon die für Juni geplante zweite Kredittranche wurde erst im August ausgezahlt, für die dritte (für September geplante) Tranche gibt es nach dem jüngsten Besuch einer IWF-Mission noch immer kein grünes Licht auf Arbeitsebene. Stolpersteine sind die geforderte Verabschiedung einer Steuerreform sowie die Erstellung eines mit dem IWF-Programm kompatiblen Staatshaushalts für 2016 (mit einem Defizit von maximal 3,7 % des BIP bzw. 3,9 % inklusive Naftogaz im Gegensatz zu Werten von sieben bis zehn Prozent in 2014 und 2015).

Weitere Hilfszahlungen im Bereich von etwa einer Milliarde US-Dollar hängen an der Auszahlung der September- und Dezember-IWF-Tranchen. Aber selbst wenn die derzeit strittige Tranche noch bis Ende 2015 gezahlt werden kann, ist der Fahrplan zur Aufstockung der Währungsreserven nicht mehr haltbar (geplant waren 18 Milliarden US-Dollar zum Jahresende 2015, bei aktuell 13 Milliarden US-Dollar).

Wir gehen derzeit zwar nicht davon aus, dass der IWF sein Hilfsprogramm für die Ukraine vorschnell abbrechen wird; die aktuellen Schwierigkeiten erinnern jedoch stark an die Probleme früherer Programme, die allesamt nach Auszahlung weniger Tranchen eingestellt wurden. Zudem läuft das aktuelle IWF-Programm noch bis 2018 und obgleich man sich über Details und Umfang der Haushaltskonsolidierung streiten kann, ist zu betonen, dass die Fortführung des IWF-Programms von zentraler Bedeutung ist, damit es in der westlichen Staatengemeinschaft weiter Bereitschaft zu bilateraler Hilfe gibt (in den letzten zwölf bis 18 Monaten kamen so immerhin drei bis fünf Milliarden Euro aus verschiedensten EU-Quellen und bilateralen Förderprogrammen zusammen).

Weitere auch vom IWF geforderte Reformen kommen vor allem aufgrund von Widerständen des »alten Systems« nur langsam voran. Ein Beispiel sind die Verzögerungen bei der Etablierung einer wirksamen Behörde zur Korruptionsbekämpfung – nach langem Ringen wurde ein spezielles Korruptionsbüro geschaffen, die Auswahl und Bestellung eines speziellen Staatsanwalts für Korruptionsbekämpfung verzögert sich jedoch zusehends. Trotz aller Lippenbekenntnisse scheint die aktuelle Administration nur ein begrenztes Interesse an einer wirklich unabhängigen Justiz und harter Korruptionsbekämpfung auf hoher Ebene zu haben.

Insgesamt scheint der politische Neuanfang (Elitenwechsel) nach dem Maidan nur partiell gelungen zu sein. Die beiden führenden Politiker des Landes, Präsident und Premier, waren bereits vor dem »Euromaidan« Teil der politischen und/oder wirtschaftlichen Elite. Bei den Regionalwahlen im Oktober/November 2015 hat die Partei des Präsidenten zwar etwas mehr Abgeordnetensitze errungen, die Partei des Premiers schreckte hingegen aufgrund der äußerst niedrigen Popularität Jazenjuks vor einer Teilnahme zurück. Währenddessen versucht sich die Heldin der Orangenen Revolution von 2004, Julia Timoschenko, mit populistischen Botschaften an einem politischen Comeback. Unbelastete Newcomer aus der Zivilgesellschaft scheinen in dem noch immer von oligarchischen Interessen bestimmten Politikgefüge dagegen weiterhin wenig Gewicht zu besitzen.

Wegen Sorgen um eine weitere Abwertung rückt der Übergang zu einem flexibleren Wechselkurs in zunehmende Ferne. Die bereits erfolgte massive Hrywnja-Abwertung der letzten Jahre sollte an sich einen gewissen Puffer gegen weiteren Abwertungsdruck schaffen. Dennoch gab es in den letzten Monaten immer wieder Phasen mit erneutem Druck auf die Hrywnja. Die Währung kann derzeit nur durch drastische Maßnahmen der Devisenbewirtschaftung bzw. substanzielle Restriktionen beim Kapitalverkehr sowie einem Zwang zum Verkauf von Fremdwährungseinnahmen bei Exporteuren stabil gehalten werden.

Mittelfristig sollen diese Restriktionen abgebaut werden; bis dato wurden nur weniger massive Restriktionen im Devisenbereich für Privatpersonen partiell abgebaut. Im derzeitigen Umfeld und angesichts des insgesamt herausfordernden Wirtschaftsausblicks rückt aber der komplette Abbau der Devisenbewirtschaftung, v. a. aus Sorge um eine erneute Abwertung angesichts von aufgestautem Umtauschbedarf, in immer weitere Ferne. Insofern scheint es so, als gäbe es in diesem wirtschaftspolitischen Bereich (wenn auch nicht ganz freiwillig) ein gewisses Zurück zu alten Mustern.

Vermeintliche Stabilität könnte wieder mit einem nicht nachhaltigen Festkurssystem – auch gegenüber der Bevölkerung – vorgegaukelt werden (was dann immer wieder größere Abwertungswellen implizieren würde). Insofern passt es ins Bild, wenn zunehmend auch reformorientierte Stimmen aus dem Umfeld der Notenbank betonen, dass man sich mit einer Neuorientierung in der Wechselkurspolitik wohl länger Zeit lassen wird. Letztendlich zeigt die Währungsthematik, dass sich auch im wirtschafspolitischen Bereich der Neuanfang schwierig gestaltet.

Der Verschuldungsgrad (Staats- und Außenschuld) ist hoch und steigt weiter. Kurzfristig sind unmittelbare Zahlungsschwierigkeiten der Ukraine in Bezug auf die Staats- und Auslandsschulden, also in den kommenden zwei bis drei Jahren, angesichts der jüngsten Umschuldung bzw. Schuldenstreckung unwahrscheinlich. Vorerst hat die Umschuldung von staatlichen und privaten Auslandsschulden (im Rahmen des IWF-Pakets) finanziellen Spielraum geschaffen. Die für 2015 bis 2023 anstehende Rückzahlung von erheblichen Summen an Auslandsschulden wurde durch die Umschuldung im Herbst auf die Jahre 2019 bis 2027 verschoben.

Allerdings waren die Details der Umschuldung eher gläubigerfreundlich (etwa musste bei Fremdwährungsstaatsanleihen »nur« ein Forderungsverzicht von 20 % geleistet werden, während die Zinslast der international begebenen Staatsanleihen sogar leicht heraufgesetzt wurde). Die eher marktfreundliche Umschuldung lässt sich damit erklären, dass sich die Ukraine gemäß Annahmen des aktuellen IWF-Programms in den nächsten Jahren wieder mit erheblichen Summen international am Markt finanzieren muss. In den Jahren 2017 bis 2020 soll sie gemäß Planungen im IWF-Programm bereits sieben Milliarden US-Dollar am internationalen Kapitalmarkt aufnehmen. Diese nach einer Umschuldung recht schnell geforderte Rückkehr an den Kapitalmarkt drückt auch die weiterhin limitierte Bereitschaft zur größer angelegten finanziellen Stützung in der westlichen Staatengemeinschaft aus.

Angesichts der gläubigerfreundlichen Umschuldung lastet auf der Ukraine weiter eine hohe Staatsschuld bzw. ein hoher externer Schuldenstand. Unter Einrechnung bereits geflossener IWF-Gelder, weiterer bilateraler Unterstützung und der Aussicht, dass weiterhin Risiken für die Staatsfinanzen bestehen (etwa im Bankensektor), können sich die Staatschulden schon 2016 oder 2017 etwa 90 bis 100 % des BIP annähern (s. Grafik 3 auf S. 15).

Im Kontext der bereits hohen Staatschulden und Konsolidierungserfordernisse sind auch die für Westeuropäer eher befremdlichen Äußerungen ukrainischer Politiker zu verstehen, die EU könne zur Finanzierung höherer Gehälter für Staatsbedienstete beitragen. Die Auslandsschulden der Ukraine (inklusive des privaten Sektors) liegen sogar noch höher als die reine Staatschuld – bei knapp 150 % des BIP (s. Grafik 4 auf S. 15). Plakativ gesprochen liegt die Summe aus Staatsschulden und privaten Krediten auf einem leicht höheren Niveau als in Deutschland (s. Grafik 8 auf S. 17), obwohl die Schuldentragfähigkeit etwas mit den Einkommensniveaus zu tun hat. Die Auslandsschulden sollten selbst unter optimistischen Annahmen (wie im IWF-Programm) nur sehr langfristig auf etwa 100 % des BIP sinken. Auch wenn der IWF längerfristig ein Absinken der Staats- und Auslandsschulden erwartet, sind solche Verschuldungsniveaus nahe oder über kritischen Schwellenwerten nur tragfähig, wenn sich die Ukraine auf einen nachhaltigen makroökonomischen Expansionspfad begibt, der nach einer moderaten Erholung 2016 in nachhaltige BIP-Wachstumsraten von im Schnitt drei bis vier Prozent über dem Wirtschaftszyklus mündet. Nur so kann die Ukraine – bei moderater Neuverschuldung – aus der Überschuldung herauswachsen. Jeder erneute wirtschaftliche Schock – sei es in der Ukraine oder der Weltwirtschaft – wird indes sofort erneute makrofinanzielle Instabilität mit sich bringen.

Insofern ist es auch nicht verwunderlich, dass der IWF bei all seinen Verschuldungsprojektionen eher Abwärtsrisiken sieht. Angesichts der massiven Verschuldung des Landes ist auch nicht auszuschließen, dass in Zukunft mit einem weiteren Forderungsverzicht – auch bei den internationalen Unterstützungsgeldern – für die Ukraine zu rechnen ist. In eine ähnliche Richtung deuten aktuelle Bewertungen durch die internationalen Ratingagenturen. Sie haben die Ukraine-Ländereinschätzung – was so üblich ist – nach der Umschuldung wieder heraufgestuft. Allerdings waren die Heraufstufungen insgesamt moderat und blieben unter den Heraufstufungen in ähnlichen Fällen (nach Umschuldungen), was eine gewisse Skepsis gegenüber der Tragfähigkeit der Staatsschulden und der externen Schuldenlast ausdrückt. Letztendlich liegt die internationale Länderrisikoeinschätzung nur dort, wo sie vor etwa zwölf bis 18 Monaten war.

Bei der Bankensektor-Restrukturierung gibt es einige Fortschritte, aber Risiken bestehen weiter. Angesichts der sehr schwierigen ökonomischen Rahmenbedingungen und einer desaströsen Profitabilität (der Bankensektor leidet derzeit stärker als in der Krise 2008/09) ist die Anzahl der im Land operierenden Banken in den letzten zwölf bis 18 Monaten drastisch gefallen (von fast 200 auf etwa 140 Banken). Diese Konsolidierung ist notwendig, um die Transparenz im Wirtschaftsbereich zu erhöhen, denn viele kleinere und mittelgroße intransparent agierende Banken mit extremen Klumpenrisiken in Bezug auf die selektive (Insider-)Finanzierung (das sogenannte »related party lending«) einzelner Firmen haben über Jahre die ineffektiven und oligarchisch geprägten Wirtschaftsstrukturen der Ukraine aktiv unterstützt. Nun müssen die ukrainischen Banken unter dem Druck der neuen Zentralbankführung Details zu diesen Finanzierungspraktiken bzw. deren Umfang offenlegen. Vor allem wurden nicht nur kleinere Banken geschlossen, sondern auch größere sogenannte Oligarchenbanken.

Allerdings ist auch die Bankensektor-Reformierung ein zweischneidiges Schwert. Teils vermischen sich hier objektive Restrukturierungsagenden mit innenpolitischen Machtspielen; das zeigt sich etwa an der Privatbank, der dem Oligarchen Kolomojskyi gehörenden größten Bank im Land mit 30 % Marktanteil bei den Einlagen. Finanziell und in Bezug auf das Geschäftsmodell hätte man das Kreditinstitut schon länger als Teil der Bankensektor-Restrukturierung sehen müssen. Der Fokus der Behörden auf die Privatbank nahm aber erst zu, als es zu Konflikten zwischen Bankeigentümer und aktuellen Eliten kam (zuvor wurde das Kreditinstitut durch umfassende Notenbankhilfe unterstützt). Zudem spiegelt die Situation im Bankensektor die allgemein immensen Restrukturierungsanforderungen wider. Denn auch die Privatbank weist Charakteristika einer Oligarchenbank (mit erheblichen Klumpenrisiken) auf. Hier ist aber eine Abwicklung bzw. Schließung nicht einfach möglich, denn solch ein Szenario würde angesichts der bereits angespannten Lage der Staatsfinanzen wieder erhebliche makrofinanzielle Risiken mit sich bringen.

Des Weiteren ist gerade der Bankenmarkt von besonderen Komplexitäten in Bezug auf die Wirtschaftsbeziehungen zu Russland geprägt. Banken mit russischem Kapital haben eine starke Stellung auf dem lokalen Bankenmarkt (mit einem Marktanteil zwischen 15 und 20 Prozent, unter den zehn größten Banken des Landes sind vier mit russischem Kapital), die wohl eher noch an Bedeutung gewinnen sollte. Auch wurde den Kreditinstituten mit russischem Kapital in den letzten Monaten jederzeit die nötige Rekapitalisierung von ihren Mutterkonzernen bereitgestellt (etwa zwei Milliarden US-Dollar). Perspektivisch stellt sich indes die Frage, ob Banken mit russischem Kapital die richtigen Akteure sind, um eine nachhaltige Umgestaltung der ukrainischen Wirtschaft zu finanzieren. Allerdings tun sich russische Banken in dem derzeit schwierigen Umfeld im Land leichter als westeuropäische.

Westliche Banken ziehen sich hingegen weiterhin eher aus dem Land zurück (die italienische UniCredit möchte ihre Ukrainetochter verkaufen, ggfs. an ein russisches Kreditinstitut) bzw. Auslandsbanken tun sich angesichts der Risiken schwer, weitere Finanzierungen für die Ukraine gegenüber Aktionären bzw. Gläubigern zu rechtfertigen. Bei der Raiffeisen Bank Aval, einer Tochter der österreichischen Raiffeisen Bank International, ist die EBWE daher nun mit einem signifikanten Kapitalanteil (30 %) vertreten und diese Kapitalbeteiligung könnte angesichts der schwierigen Rahmenbedingungen auf Jahre angelegt sein. Bei der Ukrsibbank, einer Tochter der französischen BNP Paribas, hat die EBWE unlängst ihren Kapitalanteil von 15 auf 40 Prozent aufgestockt.

Insgesamt ist der private Sektor in der Ukraine überschuldet, es sind zu viele Kredite vergeben worden und etwa die Hälfte der Kredite ist notleidend (s. Grafik 6 auf S. 16). Daher kann nicht ausgeschlossen werden, dass 2016 oder 2017 zusätzliche Mittel (von der Ukraine bzw. im Rahmen des IWF-Programms) zur Sanierung oder Abwicklung von Banken aufgewendet werden müssen. Und angesichts der schwierigen Lage im Bankensektor ist hier wohl mehr aktives Engagement von internationalen Gebern bzw. Förderinstitutionen zur Finanzierung der wirtschaftlichen Erholung notwendig (etwa über die Unterstützung von Mikrokreditprogrammen oder Risikoteilungen mit Geschäftsbanken).

Bis dato verläuft die Entwicklung der Exporte eher schleppend bzw. der einseitig gewährte Marktzugang in die EU (seit April 2014) hat bis dato – trotz massiv verbesserter preislicher internationaler Wettbewerbsfähigkeit – keine eindeutigen Wachstumsimpulse für den Außenhandel generiert. Trotz einiger weniger Erfolgsbeispiele zeigt die Exportentwicklung (trotz Verschiebung der Außenhandelsgewichte durch die tiefe Rezession in Russland sowie Hindernisse im Marktzugang nach Russland), dass der ukrainischen Wirtschaft in der Breite wettbewerbsfähige Produkte für den EU-Binnenmarkt fehlen. Zudem lasten die Negativschlagzeilen in Bezug auf die Landeswährung und den Kapitalverkehr auf dem Willen, sich mit ukrainischen Handelspartnern einzulassen. Des Weiteren sind viele ukrainische Firmen außerhalb der westlichen Landesteile mit den Praktiken und Gepflogenheiten im Wirtschaftsaustausch mit Westeuropa wenig vertraut (etwa im Vergleich zum russischen Markt oder den Bedingungen in anderen Ex-Sowjetrepubliken).

Obwohl nun zum Jahresanfang 2016 die formelle Implementierung des umfassenden Freihandelsabkommens mit der EU ansteht, ist daher Skepsis in Bezug auf die kurzfristigen positiven Wirkungen, etwa in Bezug auf die Handelsumlenkung und v. a. zusätzliche Exporterlösgenerierung, angebracht. Kurzfristig ist sogar eher mit verstärktem Gegenwind im Russlandhandel oder auch mit Belarus zu rechnen. In den letzten Wochen zeigte sich in Bezug auf diesen Faktor auch eine Beunruhigung unter Offiziellen in der Ukraine. Die EU hat allerdings klargemacht, dass sie keine unmittelbare finanzielle Entschädigung für drohende potenzielle Verluste in Betracht zieht. Insofern ist hier mit weiteren kurzfristigen Anpassungskosten auf Seiten der Ukraine zu rechnen, während die potentiellen mittelfristigen Vorteile des EU-Binnenmarktzugangs (bestenfalls) erst viel langfristiger wirken. Zumal ein erhöhter Zufluss von Ausländischen Direktinvestitionen in die Ukraine (wie oftmals bei anderen Ländern mit erschlossenem Zugang zum EU-Binnenmarkt) angesichts der noch sehr fragilen Gesamtlage derzeit nicht realistisch erscheint.

Wirtschaftslage und Politikumfeld bleiben aus Sicht von Auslandsinvestoren fragil

Die gesamtwirtschaftliche Situation der Ukraine ist derzeit von äußert schwierigen Bedingungen im Land (extrem hohe Inflation, Behinderung des Wirtschaftslebens durch den Konflikt im Ostteil des Landes, erhebliche gesamtwirtschaftliche Umstrukturierung) sowie herausfordernde Umfeldbedingungen (v. a. niedrige Rohstoffpreise, Probleme beim Zugang auf den russischen Markt, keine Expansionswelle europäischer Firmen und Banken wie zu »Hochzeiten« der EU-Osterweiterung vor zehn Jahren) gekennzeichnet. Insofern sind die erheblichen Verluste an Wirtschaftskraft und Kaufkraft nicht überraschend, vor allem nicht für internationale Investoren mit (Krisen-)Erfahrungen in Osteuropa.

Aus internationaler Investorensicht ist es eher beunruhigend, dass die Anzeichen einer extrem schleppenden Reformierung zunehmen und dies obwohl aus politökonomischer Perspektive jetzt klare Reformschritte zu unternehmen wären, denn die schwierige Wirtschaftslage setzt viele traditionell starke Vetoakteure unter Druck. Bei weiter wenig durchgreifender Reformierung ist indes unklar, ob das noch bis Jahresende 2018 laufende IWF-Programm durchgehalten werden kann. Bei zunehmender Unsicherheit in Bezug auf das IWF-Programm wird auch die weitere kontinuierliche Bereitstellung von bilateraler westlicher Finanzhilfe – auch wenn diese sowieso zögerlich verläuft – schwieriger.

Ohne kontinuierliche internationale Unterstützung bzw. den Anker des IWF-Programms wird eine nachhaltige wirtschaftliche Gesundung der Ukraine aber kaum möglich sein. Des Weiteren nähren aktuelle Entwicklungen in Bezug auf den Konflikt im Osten der Ukraine und bezüglich der Umschuldung der bilateralen Schulden der Ukraine mit Russland nicht das Verständnis dafür, dass die aktuellen Machthaber angesichts der durchaus fragilen innenpolitischen Lage eindeutig an politischen Kompromisslösungen bzw. einer Deeskalation der Lage interessiert sind.

Noch mehr in den Vordergrund könnten (innen-)politische Risiken in dem nicht unwahrscheinlichen Szenario einer graduell-pragmatischen Annäherung zwischen Russland und der EU rücken (auch im Wirtschaftsbereich); begünstigt wird solch ein Szenario auch durch eine langsam zunehmende Enttäuschung in Westeuropa in Bezug auf die politische Reformierung in der Ukraine. Angesichts der skizzierten Gesamtlage bleibt die Ukraine damit – wie in der Vergangenheit – weiterhin anfällig für Ereignisrisiken. Eine nachhaltige ökonomische Stabilisierung (auch mit Hilfe ausländischer Investoren) bleibt so ein mit hoher Unsicherheit belastetes Unterfangen. Dies gilt v. a. vor dem Hintergrund, dass auch beim Ausbleiben weiterer heftiger militärischer Konfrontation in der Ostukraine der Wirtschaftsbereich oft von (partiellen) Eskalationen im Kontext der ukrainisch-russischen Beziehungen insgesamt geprägt ist (z. B. Überflugrechte, Energieversorgung, Blockade an der Kontaktlinie etc.).

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