Optionen der Übergangsjustiz für Russland

Von Monika Nalepa (Universität Chicago), Thomas F. Remington (Harvard Universität, Boston)

Zusammenfassung
Im Laufe des Krieges in der Ukraine haben die russischen Streitkräfte zahlreiche Grundsätze der rechtmäßigen Kriegsführung verletzt. Nach dem Ende des Krieges werden sich vor allem zwei Fragen stellen: 1) Wie können normale diplomatische und wirtschaftliche Beziehungen zu Russland wiederhergestellt werden? und
2) Wie können die Schuldigen für Kriegsverbrechen und Verbrechen gegen die Menschlichkeit zur Rechenschaft gezogen werden? Die Literatur zur Übergangsjustiz ist in Bezug auf beide Fragen aufschlussreich. Wir schlagen in diesem Artikel vor, wie die Grundsätze der Übergangsjustiz im Nachkriegsrussland angewendet
werden könnten, indem wir uns auf die Anwendung von Grundsätzen der Übergangsjustiz im Zuge der Konfliktbewältigung in einschlägigen historischen allbeispielen stützen.

Russische Kriegsverbrechen

Am 24. Februar 2022 begann der russische Präsident Wladimir Putin unter dem Vorwand einer »Spezialoperation« zur Verteidigung der in den Regionen Donezk und Luhansk ansässigen Russ:innen einen Großangriff auf den souveränen Staat Ukraine. Die als Blitzkrieg gedachte Offensive verlief allerdings nicht nach Putins Plan. Im weiteren Verlauf des Krieges verletzte die russische Armee fortlaufend Grundsätze der rechtmäßigen Kriegsführung.

Nach der Genfer Konvention ist es ein Kriegsverbrechen, bei militärischen Operationen Zivilpersonen ins Visier zu nehmen. Dennoch hat die Monitoringkommission für Menschenrechte der Vereinten Nationen seit dem Einmarsch Russlands in die Ukraine bis September 2023 fast 10.000 zivile Todesopfer und mehr als 17.000 Verletzte gezählt (https://news.un.org/en/story/2023/10/1141872).

Die erste Zahl umfasst Opfer in den Regionen Donezk und Luhansk (über 10.000 Tote), aber auch in anderen Regionen der Ukraine, die sich zum Zeitpunkt der zivilen Todesfälle und Verwundungen unter ukrainischer Kontrolle befanden. Dies bedeutet, dass sie durch Beschuss und Luftangriffe verursacht wurden.

Insgesamt wurden bis Herbst 2023 fast 500 Kinder getötet und mehr als 500 verletzt. Im September 2023 schätzten die Vereinten Nationen, dass fast 20.000 ukrainische Kinder entführt und nach Russland verschleppt wurden (https://www.ohchr.org/en/press-releases/2023/09/un-commission-inquiry-ukraine-finds-continued-systematic-and-widespread-use).

Die Schätzungen über die Zahl der getöteten Zivilist:innen gehen jedoch weit auseinander, einige Quellen berichten etwa von 87 000 getöteten Zivilpersonen allein in Mariupol (https://euromaidanpress.com/2022/08/30/87000-killed-civilians-documented-in-occupied-mariupol-volunteer/).

Auch sexuelle Gewalt gegen ukrainische Frauen durch russische Soldaten wurde häufig dokumentiert. Ein UN-Bericht fand in den von Russland besetzten Gebieten Beweise für Vergewaltigungen von Frauen im Alter von 4 bis 80 Jahren (https://news.un.org/en/story/2023/09/1141417https://www.ohchr.org/en/documents/reports/a77533-independent-international-commission-inquiry-ukraine-note-secretary). Ukrainische Ermittler:innen haben in allen Gebieten, die von Russland besetzt waren, Beweise für sexuelle Gewalt gefunden (https://www.nytimes.com/2023/01/05/world/europe/ukraine-sexual-violence-russia.html). Am 7. März 2023 verhängte die Europäische Union personenbezogene Sanktionen gegen zwei russische Kommandeure; im Falle eines Kommandeurs wurden die Sanktionen damit begründet, dass »Mitglieder seiner Einheit im März und April 2022 systematisch an sexueller Gewalt und Vergewaltigungen beteiligt waren« (https://www.reuters.com/world/europe/eu-sanctions-9-people-over-sexual-violenceviolating-womens-rights-2023-03-07/). Russland bombardierte überdies in großem Umfang zivile Wohngebiete, Schulen, Krankenhäuser und andere Objekte, die keine militärischen Ziele darstellen. Sich im Rückzug befindliche russische Streitkräfte hinterließen ebenso Beweise, die auf die Folterung von Zivilpersonen an Orten wie Butscha hindeuten. Sie gaben sich dabei wenig Mühe, ihre Spuren zu verwischen (https://www.ohchr.org/en/news/2023/02/ukraine-civilian-casualty-update-6-february-2023).

All diese Handlungen stellen nach dem Völkerrecht Kriegsverbrechen dar (https://www.un.org/en/genocideprevention/war-crimes.shtml). Die offiziell verlautbarten Schätzungen des Ausmaßes russischer Kriegsverbrechen stellen ohne Zweifel das absolute Minimum dar, da die genannten Zahlen nur auf dokumentierten Fällen beruhen. Das tatsächliche Ausmaß ist mit ziemlicher Sicherheit weitaus höher als die gemeldeten Zahlen.

In dieser Analyse betrachten wir eingehend, welche Optionen sowohl für die internationale Gemeinschaft als auch für jene russische Staatsführung, die nach dem Krieg an die Macht kommt, theoretisch zur Verfügung stehen und auch tragbar sein könnten, um das Putin-Regime für seine Verbrechen zur Verantwortung zu ziehen.

Der Krieg und das Putin-Regime

Das politische Überleben von Präsident Wladimir Putin und seines Regimes ist untrennbar an einen Sieg gegen die Ukraine gebunden. Jegliches Scheitern jenseits eines klaren Sieges stellt eine Bedrohung für seine Macht dar. Daher hängen ein Regimewechsel und eine Einstellung der Kampfhandlungen unmittelbar zusammen: Erreicht Putin seine Kriegsziele nicht, verliert er wahrscheinlich seine Macht. Ebenso werden seine Nachfolger:innen, sollte Putin gewaltsam entmachtet werden, wahrscheinlich nach einem Weg suchen, Russland aus diesem kostspieligen Krieg herauszuholen und sich vom Putin-Regime weitestgehend zu distanzieren. Sie werden Putin wohl vorwerfen, Russland in die Arme Chinas getrieben, einen unverhältnismäßig großen Teil der militärischen und wirtschaftlichen Ressourcen Russlands für einen unnötigen Krieg aufgewendet und den technologischen Fortschritt Russlands um Jahrzehnte zurückgeworfen zu haben.

Russland wendet inzwischen ein Drittel seiner öffentlichen Ausgaben und sechs Prozent seines Bruttoinlandsprodukts für das Militär auf (https://www.reuters.com/world/europe/russia-doubles-2023-defence-spending-plan-war-costs-soar-document-2023-08-04; https://www.ft.com/content/1e5d63a6-d5f8-4206-81fc-4ff324789ac3), was einheimische Produzenten zu immer höheren Abgaben zwingt und Kapitalkontrollen erfordert. Der Krieg belastet die Wirtschaft. Wenn Putins Nachfolger:innen Russland wieder in die Weltwirtschaft integrieren und die Aufhebung der Wirtschaftssanktionen erreichen wollen, müssen sie einen Weg finden, die Verantwortlichen für den Krieg und die Kriegsverbrechen zur Rechenschaft zu ziehen. Der Westen muss zu dem Schluss kommen, dass diese Maßnahmen hinreichend sind, damit Russland Fortschritte bei der Wiederaufnahme normaler wirtschaftlicher und politischer Beziehungen erzielen kann.

In Russland selbst sind immer mehr prominente Persönlichkeiten bereit einzugestehen, dass der Krieg ein Fehler war. Der aufständische Söldnerführer Ewgenij Prigoshin verurteilte die Kriegsentscheidung aufs Schärfste. Sein Urteil, dass »der Krieg notwendig war, damit ein Haufen Tiere sich einfach im Ruhm sonnen konnte«, bringt die Frustration vieler Russ:innen zum Ausdruck. Es ist die Frustration darüber, dass Russlands Menschen und Ressourcen verschlissen werden, dass Russland zum Vasallen Chinas verkommt und sich zusehends von der entwickelten Welt abwendet. Prigoshin ließ dieser Beschimpfung Taten folgen und schickte seine Söldnertruppe nach Norden in Richtung russische Hauptstadt. Natürlich kam ihm dieser bewaffnete Aufstand teuer zu stehen, aber seine Haltung steht sicherlich für viele andere, die sich nicht trauten, ihren Unmut öffentlich zum Ausdruck zu bringen. Viele Russ:innen erkennen zwar an, dass es töricht war, den Krieg zu beginnen, aber sie fürchten auch die Folgen einer Niederlage. Aus diesem Grund würden jegliche juristische Maßnahmen nach dem Krieg, die große Teile der Bevölkerung betreffen würden, für ein Nachkriegsregime wahrscheinlich destabilisierend wirken.

Daher ist es für die internationale Gemeinschaft von großer Bedeutung, wie sich ein Nachkriegsregime in Russland konstituiert. Wenn die Bevölkerung den Eindruck bekommt, dass die Nachkriegsregierung »Siegerjustiz« walten lässt, würde ein künftiges russisches Regime wahrscheinlich zu einer Politik der imperialen Aggression und Eroberungspolitik zurückkehren. Deutschland nach dem Ersten Weltkrieg ist ein typisches Beispiel: Die Überzeugung, dass Deutschland den Krieg nicht wirklich verloren hatte, sondern von Feinden im Inneren verraten worden war, nährte den militaristischen Nationalismus und war eine der Ursachen für den Zweiten Weltkrieg.

Doch selbst wenn Russland mit internationalen Kriegsverbrechertribunalen zusammenarbeitet oder im eigenen Land Prozesse gegen die ehemalige Führungsspitze führt, steht es vor der gewaltigen Aufgabe, sich mit Zehntausenden von Putins Unterstützer:innen auseinanderzusetzen.

Übergangsjustiz

Verschiedene Kräfte in Russland und im Westen mögen eine »Entputinisierung« fordern, vergleichbar mit der »Entnazifizierung« in Deutschland nach dem Zweiten Weltkrieg (siehe etwa Heusgen 2023). Dieser Prozess hatte jedoch kaum begonnen, als er im gegenseitigen Einvernehmen zwischen den Alliierten und der deutschen Nachkriegsführung wieder gestoppt wurde. Bundeskanzler Konrad Adenauer wehrte sich dagegen, indem er erklärte, dass »die Teilung des deutschen Volkes in Unschuldige und Schuldige endlich aufhören muss« und dass die »stillen Mitläufer« der Nazis in Ruhe gelassen werden sollten. Adenauer stellte ganz pragmatisch fest, dass Deutschland nicht auf das Fachwissen von Beamten verzichten könnte, die im alten Regime in der Verwaltung tätig gewesen waren. Es dauerte drei Generationen, bis sich die Deutschen der Aufarbeitung der NS-Vergangenheit stellten (Neiman 2019). Doch bis dahin war es Deutschland gelungen, die Grundlagen für eine stabile, wohlhabende demokratische Gesellschaft zu schaffen.

Eine tiefgreifende Entputinisierung scheint somit eher ausgeschlossen. Welche Methoden stehen nichtsdestotrotz für den Umgang mit Angehörigen und Mittäter:innen ehemaliger autoritärer Regime zur Verfügung stehen? In der Fachliteratur werden diese Verfahren als Übergangsjustiz (im Englischen als Transitional Justice) bezeichnet.

Übergangsjustiz ist der breiteren Öffentlichkeit vor allem in Form von sogenannten Wahrheitskommissionen vertraut, eines der bekanntesten Beispiele ist die Wahrheits- und Versöhnungskommission (englisch: Truth and Reconciliation Commission, kurz TRC), die in Südafrika nach dem Fall des Apartheidregimes eingerichtet wurde. Die Palette der Mechanismen zur Aufarbeitung von Verbrechen, die von autoritären Regimen begangen wurden, ist jedoch viel breiter und umfasst auch die Entnazifizierung (eine Form der politischen Säuberung) oder möglicherweise die Entputinisierung.

Die Forschung zur Übergangsjustiz lehrt uns, Prozedere, die unangenehme Wahrheiten über die Vergangenheit ans Licht bringen, von Institutionen zu unterscheiden, die durch Gerichtsprozesse und politische Säuberungen für Gerechtigkeit sorgen (siehe Nalepa 2022). Michail Gorbatschows Glasnost-Politik ist ein gutes Beispiel für solche transparenzfördernden Prozedere. Die südafrikanische Wahrheits- und Versöhnungskommission, die nach dem Ende der Apartheid eingerichtet wurde, ist ein weiteres.

Indem sie die Wahrheit über die Vergangenheit offenlegen, machen es solche Transparenzinitiativen den Gegner:innen des neuen Regimes unmöglich, Politiker:innen mit der Drohung zu erpressen, belastende Geheimnisse aus ihrer Vergangenheit zu enthüllen (in postkommunistischen Gesellschaften bekannt als »Kompromat«, also kompromittierendes Material). Transparenz hält Personen mit einer schwerwiegenden Vorbelastung davon ab, verantwortungsvolle Positionen zu übernehmen, und sorgt somit für Ehrlichkeit innerhalb der politischen Elite. Transparenz kann, muss aber nicht mit Strafverfolgung einhergehen. In Südafrika haben sich Mitglieder des Apartheidregimes oder des Afrikanischen Nationalkongresses, die die Wahrheit über ihre Beteiligung an Gewalttaten verschwiegen haben, wissentlich der Gefahr ausgesetzt, strafrechtlich für Verbrechen verfolgt zu werden, die sie in der Vergangenheit begangen haben. Viele Akteure wie z. B. Winnie Mandela, die Ehefrau von Nelson, dem berühmten Dissidenten, saßen dann auf der Anklagebank. Diejenigen jedoch, die an den Anhörungen der Kommission teilnahmen und ihre Verantwortung für die Gewalttaten umfassend darlegten, wurden von der Strafverfolgung verschont.

Zu den Transparenzmechanismen gehören auch Lustrationen, bei denen nur Personen, die für ein öffentliches Amt kandidieren oder ein solches innehaben, eingehend durchleuchtet werden, ob sie mit dem alten Regime kollaboriert haben. Der Rest der Bevölkerung kann seine Geheimnisse wiederum für sich behalten. Politiker:innen, die dem ehemaligen Autokraten gedient haben, bleibt eine politische Laufbahn im postautoritären Staat verschlossen. Mehrere Länder, die in Osteuropa Lustrationen durchgeführt haben, haben mit dem Anreiz, die Wahrheit über die Vergangenheit zu enthüllen, einen ähnlichen Mechanismus wie die südafrikanische TRC eingeführt. In Polen zum Beispiel erlaubte das Lustrationsgesetz Politiker:innen die Kandidatur unter der Bedingung, dass er oder sie vollständig offenlegte, wie und wie lange er oder sie mit der Staatssicherheit zusammengearbeitet hatte. Kandidat:innen für politische Ämter standen also, ähnlich wie die Täter:innen in Südafrika, vor der Wahl: Entweder sie geben zu, dass sie »Leichen im Keller« hatten und dürfen dann kandidieren. Oder sie riskieren wiederum, dass diese »Leichen« im Lustrationsprozess ans Licht kommen. Im Falle der TRC-Anhörungen konnten die Täter:innen, die die Art ihrer Zusammenarbeit mit dem alten Regime offenlegten, strafrechtliche Verfahren vermeiden, zivilrechtlich konnten sie aber dennoch belangt werden.

In Russland hat die Welle der Enthüllungen über viele dunkle Seiten der sowjetischen Geschichte in den späten 1980er Jahren nicht dazu geführt, dass die Verantwortlichen für diese Verbrechen zur Rechenschaft gezogen worden wären. Auch während Boris Jelzins Amtszeit wurde keine aktive Politik betrieben, sowjetische Straftaten mit rechtsstaatlichen Mitteln gerichtlich zu bestrafen. Dennoch hat das Erbe von Glasnost einige Wahrheiten ans Licht gebracht, die nicht wieder begraben werden konnten.

Ein anderer Ansatz wurde nach einem anderen berühmten Regimewechsel im antiken Griechenland gewählt. Nach der Niederlage Athens im Peloponnesischen Krieg zwang das siegreiche Sparta Athen ein tyrannisches oligarchisches Regime auf, das als »die Dreißig« in die Geschichte einging. Ihre Herrschaft war brutal: Unter »den Dreißig« starben so viele Athener:innen wie während des gesamten Peloponnesischen Krieges. Die Tyrannen wurden von einem großen Netzwerk athenischer Mittäter:innen unterstützt. Als die Herrschaft »der Dreißig« schließlich endete, musste sich Athen nicht nur mit den Tyrannen, sondern auch mit ihren zahlreichen Mittäter:innen auseinandersetzen.

In dem Bestreben, sich wiederholende Zyklen von Regimezusammenbruch und Vergeltung zu verhindern, die andere griechische Stadtstaaten plagten, entwickelten die Athener:innen eine innovative Lösung, die auf ihrer bestehenden Praxis basierte, Beamte am Ende ihrer Amtszeit für die Verwendung öffentlicher Mittel zur Rechenschaft zu ziehen, ein Verfahren, das als Euthuna bekannt war. Die Athener:innen passten dieses Verfahren an, indem sie eine geringe Anzahl von Gerichtsverfahren mit einer Amnestie für die übrigen Beamten kombinierten. So wurden »die Dreißig« selbst und der sie unterstützende Elferrat angeklagt und überwiegend zum Tode verurteilt. Alle 3000 Anhänger:innen wurden amnestiert und durften außerhalb Athens Zuflucht suchen, mit einer Ausnahme (»Wenn sie einen anderen Menschen eigenhändig getötet hatten«). Darüber hinaus wurden die Beamten der »Dreißig«, die vor Gericht gestellt und wegen Straftaten verurteilt wurden, vor die Wahl gestellt. Sie konnten das Exil akzeptieren, oder sie mussten jede Strafe hinnehmen, die das Gericht für sie verhängte, wenn sie in Athen bleiben wollten. Gleichzeitig war es allen Mitgliedern der Versammlung verboten, öffentlich »an vergangene Missstände zu erinnern«. Racheakte gegenüber jenen, die sie früher repressiert hatten, waren per Gesetz verboten.

Diese Regelungen ermöglichten es Athen, den allzu bequemen Mythos zu bedienen, dass die meisten von ihnen Opfer »der Dreißig« gewesen wären und nicht aktive oder passive Mittäter:innen. Die Athener:innen warben für ihre Art des Umgangs mit der Übergangsjustiz als herausragendes Beispiel ihrer demokratischen Überzeugung (Wolpert 2002; Lanni 2010).

Schlussfolgerung

Wir sind uns darüber im Klaren, wie weit diese Vorstellungen von der heutigen Situation entfernt sind. Sollte sich der Krieg, wie von vielen befürchtet, in einer Pattsituation befinden, könnte Putin auf die Erschöpfung der Ukraine und die Erosion der Unterstützung für die Ukraine im Westen setzen. Der Krieg könnte noch jahrelang fortdauern. Die Kosten, die für Russland durch die Fortführung des Krieges entstehen, sind jedoch hoch, sowohl hinsichtlich der Truppenstärke als auch der Finanzen. Der Inflationsdruck steigt, und das Regime bereitet sich auf die nächste Präsidentschaftswahl im Jahr 2024 vor. Es gibt zu viele Unwägbarkeiten, um Prognosen darüber abzugeben, wann und wie der Krieg enden könnte. Wir wollen hier keine Prognose abgeben, sondern einen Weg skizzieren, wie ein Nachkriegsregime nach Putin die Verantwortlichen für die Kriegsverbrechen zur Rechenschaft ziehen und gleichzeitig eine neue Basis für seine Legitimität schaffen könnte.

Unser Rückblick auf Praktiken in der Vergangenheit bietet einige Anregungen. Das Nachkriegsrussland könnte in Erwägung ziehen, Transparenzmechanismen wie Glasnost mit einer begrenzten Anzahl von Gerichtsverfahren und Mechanismen zu kombinieren, die ehemalige Beamte der Putin-Ära dazu verpflichten, dem Staat unter dem neuen Regime so weit wie möglich ehrenhaft zu dienen. Wenn der Westen diese Strategie akzeptiert, könnte dies dazu beitragen, das erste Nachkriegsregime nach Ende der Kampfhandlungen zu stabilisieren. Dies wäre zumindest ein notwendiger Schritt, bevor Russland die weitaus mühsamere und langwierigere Aufgabe der Neugestaltung seiner politischen Kultur in Angriff nehmen könnte.

Eine längere Version dieses Artikels erschien in Post-Soviet Affairs, 39:6 (2023), frei zugänglich unter https://doi.org/10.1080/1060586X.2023.2265253

Lesetipps / Bibliographie

  • Charap, Samuel. 2023. “An Unwinnable War: Washington Needs an Endgame in Ukraine,” Foreign Affairs, 102 (4): 22–35.
  • Heusgen, Christoph. 2023. Führung und Verantwortung: Angela Merkels Außenpolitik und Deutschlands künftige Rolle in der Welt. Kindle. München: Siedler Verlag.
  • Lanni, Adriaan. 2010. “Transitional Justice in Ancient Athens: A Case Study.” University of Pennsylvania Journal of International Law 32 (2): 551–594.
  • Malkisian, Carter. 2023. “The Korea Model: Why an Armistice Offers the Best Hope for Peace in Ukraine,” Foreign Affairs, 102 (4): 36–51.
  • Nalepa, Monika. 2022. After Authoritarianism: Transitional Justice and Democratic Stability. Cambridge: Cambridge University Press.
  • Neiman, Susan. 2019. Learning from the Germans: Race and the Memory of Evil. New York: Farrar, Straus and Giroux.
  • Wolpert, Andrew. 2002. Remembering Defeat: Civil War and Civic Memory in Ancient Athens Baltimore: Johns Hopkins University Press.

Zum Weiterlesen

Analyse

Vorerst gescheitert: »Pussy Riot« und der Rechtsstaat in Russland

Von Caroline von Gall
Die Bilder der »Pussy Riot«-Musikerinnen Nadeschda Tolokonnikowa, Jekaterina Samuzewitsch und Maria Alechina auf der Anklagebank im Moskauer Chamowniki-Gericht gingen um die Welt. Wie kein anderes Verfahren bestimmte der Prozess die politische Debatte in diesem Sommer und rief auch in Deutschland starken öffentlichen Protest hervor. Aus juristischer Perspektive zeigt das Verfahren dagegen nur exemplarisch die bekannten Mängel der russischen Strafjustiz: Die russische Verfassung und die Europäische Konvention für Menschenrechte (EMRK) sowie die Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (EGMR) werden bei der Auslegung der relevanten Normen nicht beachtet. Die Auseinandersetzung mit den Tatbestandsvoraussetzungen bleibt in Anklage und Urteil an der Oberfläche. Wenn auch in diesem Fall eine politische Einflussnahme nicht nachgewiesen werden kann, fehlt es den politischen Eliten seit langem am erkennbaren Willen, die Strafjustiz zu professionalisieren, die Urteile des EGMR systematisch umzusetzen und die Unabhängigkeit der Justiz deutlich zu verbessern. (…)
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