»Nein zum Karpfen«: Stiller Protest im heutigen Russland

Von Vera Dubina (Forschungsstelle Osteuropa an der Universität Bremen und Humboldt-Universität zu Berlin), Alexandra Arkhipova (Laboratoire d’Anthropologie Sociale, Paris)

Zusammenfassung
Die russische Gesellschaft von heute lehnt den Einmarsch in die Ukraine nicht sichtbar ab. Es gibt weder Barrikaden noch Massenproteste auf den Straßen, selbst die Teilmobilmachung hat nicht zu einer offenen Konfrontation zwischen der Bevölkerung und den Behörden geführt. Trotz mehrerer aktiver Auswanderungswellen aus Russland schweigt die Mehrheit, wenn man den Umfragen der Soziologen des russischen Lewada-Zentrums Glauben schenken darf. Aber bedeutet dieses Schweigen auch Zustimmung und Unterstützung für den Krieg? In diesem Beitrag untersuchen wir die verschiedenen Formen des Protests, an denen sich die Russen beteiligen, wobei wir uns auf die weniger sichtbaren, »stillen« (und daher näher zu betrachtenden) Formen des Widerstands gegen das Regime konzentrieren. Dabei handelt es sich um kleine Akte des Dissenses, die im Allgemeinen individuell, spontan und unbewaffnet sind und in Räumen der alltäglichen Sozialisation stattfinden. Auch wenn es sich dabei nur um Worte oder Symbole handelt, sind sie nicht unbedeutend, da sie die Uneinigkeit mit den Machthabern demonstrieren.

Einleitung

In der heutigen russischen Gesellschaft gibt es keinen sichtbaren Widerstand gegen die Invasion in die Ukraine. Es sind keine Massenproteste zu erkennen; die einfachen Bürger scheinen sich nicht zu wehren, obwohl sie seit September 2022 möglicherweise in die Armee eingezogen werden könnten, wo sie töten werden müssen und möglicherweise selbst getötet werden. Glaubt man den Meinungsumfragen der Soziologen des russischen Lewada-Zentrums, so verfolgt nur etwas mehr als die Hälfte der Bevölkerung die Entwicklungen in der Ukraine aufmerksam. Lässt sich die Passivität der Bevölkerung allein mit der Angst vor einem diktatorischen Regime und der jahrelangen Repression gegen alle Andersdenkenden erklären? Und bedeutet das Schweigen der Mehrheit, dass die russische Gesellschaft den Krieg unterstützt?

Die Unterdrückung von Protesten in Russland und ihr Gesetzeskontext

Es ist bekannt, dass im heutigen Russland Protest nicht nur per Gesetz verboten ist, sondern auch eine Gefahr für die persönliche Sicherheit und sogar für das eigene Leben darstellt. Diesen Gesetzeskontext sollte man sich immer vor Augen führen, wenn man Akte des Protests untersucht. Das russische Zivilgesetzbuch verbietet alle Versammlungen an öffentlichen Orten ohne die ausdrückliche Erlaubnis der örtlichen Behörden. Die Definitionen eines öffentlichen Ortes und einer Versammlung sind absichtlich vage gehalten: So kann ein Treffen von zwei Personen an einer Bushaltestelle eine Versammlung darstellen. Eine Genehmigung für eine Oppositionskundgebung zu erhalten, war schon immer eine Herausforderung, aber seit 2018 ist es praktisch unmöglich. Daher wird seit etwa zehn Jahren der Protest gegen jede Entscheidung der Behörden in Form von Einzelprotesten durchgeführt, für die keine besondere Genehmigung erforderlich ist. Doch seit dem Ausbruch des Krieges kann selbst eine Einzelaktion nach dem sogenannten Fake News-Gesetz mit bis zu 15 Jahren Haft bestraft werden. Der im März 2022 verabschiedete Artikel 207.3 des Strafgesetzbuchs sieht eine Strafe von bis zu 15 Jahren Haft vor für die »öffentliche Verbreitung wissentlich falscher Informationen über den Einsatz der Streitkräfte der Russischen Föderation [und oder] die Ausübung ihrer Befugnisse durch staatliche Organe der Russischen Föderation«. Kleinste, unbedeutend scheinende Akte des Protests stehen sehr hohen harten Strafen gegenüber und das Risiko solch hoher Strafen ist den Protestierenden oft bekannt.

Obwohl russische Proteste friedlicher ablaufen als lokale Diskothekabende, werden sie mit besonders demonstrativer Brutalität vom Sonderkommando – der OMON (Mobile Einheit besonderer Bestimmung) und der »Rosgwardija« (Nationalgarde der Russischen Föderation) unterdrückt. So wurden z. B. bei politischen Protesten Menschen Arme und Beine gebrochen, sie wurden an den Haaren über den Boden in Polizeiautos gezerrt usw. Auf den Polizeistationen selbst sind sie oft Schikanen und sogar Folter ausgesetzt. Und in den letzten zehn Jahren hat sich die Kluft zwischen der Gewalt der Spezialeinheiten und der nachdrücklichen Gewaltlosigkeit der Proteste noch vergrößert. Sobald eine Person mit einem Transparent zu einer friedlichen Demonstration kommt, wird sie von fünf oder mehr schwer bewaffneten Polizisten umzingelt; es wäre seltsam, wenn ein Demonstrant erwarten würde, mit Gewalt zu gewinnen.

Am 24. Februar 2022 als viele Menschen versuchten, gegen den Beginn des Krieges zu protestieren, sah eine der Autorinnen dieses Textes, wie kleine Schulmädchen in Moskau solchen Sicherheitskräften ins Gesicht schrien, die in kugelsichere Schutzanzüge und Helme gekleidet waren, die sie eher wie Astronauten als wie Menschen aussehen ließen: »Wir protestieren gegen den Krieg, damit ihr nicht in die Ukraine geschickt werdet.« Dieser friedliche Protest hätte Erfolg haben können, wenn die Möglichkeit bestanden hätte, dass sich die Polizei und Soldaten auf die Seite der Demonstranten gestellt hätten. Laut Mischa Gabowitsch, einem Protestforscher, gab es diese Möglichkeit nicht. Seit den groß angelegten Protesten gegen den Wahlbetrug bei den Parlamentswahlen 2011, die in mehr als 100 russischen Städten stattfanden, haben die Behörden aktiv daran gearbeitet, die Gesellschaft von den paramilitärischen Kräften zu separieren. Gabowitsch schreibt: »So sind die Demonstranten mit einem System konfrontiert, in dem sich die Sicherheitskräfte aus den am meisten gewaltbereiten Teilen der Gesellschaft rekrutieren, den Protestierenden meist fremd gegenüberstehen und vor allem durch materielle Entlohnung an das politische Regime gebunden sind.«

Daher waren die russischen Proteste in den letzten Jahrzehnten einsam und friedlich; sie bestanden aus Reden einzelner Bürger. In Russland gibt es aktuell keinen politischen Oppositionsführer auf freiem Fuß, es gibt keine unabhängige Presse und keine unabhängigen politischen Parteien, es gibt keine unabhängigen Gerichte, und das Parlament führt fast direkt die »Befehle« der Exekutive aus. Auch ausländische soziale Medien sind seit Beginn des Krieges verboten. Facebook und Instagram wurden in Russland zu »extremistischen Organisationen« erklärt, und eine »private« Meinungsäußerung im Internet kann mit bis zu neun Jahren Gefängnis bestraft werden, – eine Haftstrafe, die der ehemalige Stadtverordnete Jaschin kürzlich erhielt, weil er ein Video über Massentötungen durch russische Soldaten in Butscha auf YouTube eingestellt hatte.

Verborgene Akte des Dissenses statt politischer Protest auf der Straße

In einem diktatorischen Regime wie dem heutigen Russland, in dem ein offener Akt des Dissenses mit einem sehr hohen Risiko verbunden ist, ist das subversive Potenzial kleiner, alltäglicher Praktiken unter der Bevölkerung größer als in demokratischen Regimen. Solche alltäglichen Akte des Dissenses sind weniger sichtbar und können die Form von Gerüchten oder Plaudereien sowie von Liedern, Witzen, Beleidigungen und Lästereien mit politischem Inhalt annehmen. Der Anthropologe James C. Scott hat diese Formen des Protests als »Waffen der Schwachen« bezeichnet. Mehr noch als Witze haben Lästereien und Beleidigungen eine kritische Funktion und sind eine Art Barometer für die politische Befindlichkeit der Gemeinschaft. Das russische Regime ist besorgt über diese alltäglichen Äußerungen der Feindseligkeit, die es aufspürt und rigoros bestraft – so wie es auch in anderen Diktaturen, z. B. unter Stalin, geschah.

Nachdem diese »alltäglichen Formen des Widerstands« von James C. Scott theoretisiert wurden, haben sie je nach den jeweils betonten Aspekten unterschiedliche Bezeichnungen erhalten, darunter »gewaltlos«, »unbewaffnet«, »friedlich« und »passiv«. Zahlreiche Studien haben bereits die Fähigkeit der »einfachen Leute« aufgezeigt, sich den Bedingungen ihrer Existenz und den Machtstrukturen anzupassen und ihnen zu widerstehen. Alf Lüdtke, der dieses Phänomen für die Zeit des Nationalsozialismus untersuchte, nannte diese Art, sich den von der Obrigkeit auferlegten Alltagsroutinen zu entziehen, »Eigen-Sinn«. Der Eigen-Sinn verschafft den Menschen einen größeren Handlungsspielraum, da sie sich trotz des Bestrebens der Obrigkeit, alle Lebensbereiche zu kontrollieren, den Erwartungen oder Zumutungen der Machthaber (vorübergehend) entziehen können.

Wenn öffentliche Äußerungen mit solchen Folgen für Leben und Gesundheit einhergehen, wie wir sie im heutigen Russland erleben, wird der Wunsch, sich zu äußern, stark reduziert. Seit dem Ausbruch des Krieges haben wir jedoch eine andere Art der Meinungsäußerung erlebt, die Umberto Eco als »semiologischen Guerillakrieg« bezeichnet. Diese »semiologischen Partisanen« schreiben direkte Anti-Kriegs-Botschaften auf Zäune und Mauern und hinterlassen verschlüsselte Botschaften mit der Forderung »Kein Krieg« in sozialen Netzwerken und anderen öffentlichen Räumen. Mit anderen Worten: Sie stören das Narrativ der Behörden. Nicht der direkte Dissens, sondern die kodierte Sprache ist zur neuen »Waffe der Schwachen« geworden.

Neben den seltenen Fällen von direktem Protest – einzelne Mahnwachen mit Antikriegsplakaten – sind die häufigsten Formen der Ablehnung Graffiti mit verschlüsselten Antikriegsbotschaften (siehe Bild 1 unten) und die Umgehung der Forderungen der Behörden. Dieses eigensinnige Verhalten ist anonym und für Außenstehende oft völlig unsichtbar: Selbst das Tragen von Unterwäsche in den Farben der ukrainischen Flagge ist ein individueller politischer Protest.

Über solche Einzelaktionen wird in den westlichen Medien nur selten berichtet, außer in russischer Sprache. Solche Aktionen gelten nicht als politischer Protest, sondern, wie der russische Dienst der BBC die Geschichte von Aleksandra Skotschilenko betitelte, als »kleine Tat eines normalen Menschen«. Um sie als politischen Protest zu betrachten, müssen wir unseren Begriff von »Politik« erweitern, ihn über politische Parteien und politische Institutionen hinaus ausdehnen und mit den unzähligen mikrosozialen Interaktionen verbinden, die im Alltag der Menschen stattfinden.

Beispiele für den »stillen« Antikriegsprotest in Russland

Seit dem Ausbruch des Krieges in der Ukraine herrscht in den sozialen Medien und auf den Straßen in Russland der so genannte sanfte oder stille Widerstand. Es scheint, dass ein erstaunlicher Erfinderreichtum und Kreativität von weit mehr Menschen zum Ausdruck gebracht werden als vor dem Krieg. Die Behörden haben die Bezeichnung des Krieges als »Krieg« unter Androhung von Strafverfolgung nach dem Fake News-Paragraphen des Verwaltungs- und Strafgesetzbuchs verboten. Das hat zu kreativem Ersatz für das Wort »Krieg« geführt, der für jeden so verständlich ist wie das Wort selbst. Das schließt das Ersetzen von Wörtern durch Punkte wie etwa drei neben fünf Punkten (… …..) ein, um »net woine« (»Nein zum Krieg«) auszudrücken. Solche kreativen Codes haben seit Februar 2022 nicht nachgelassen, sondern vielmehr immer wieder neue Formen angenommen, nachdem sie von den Strafverfolgungsbehörden entschlüsselt wurden.

Das Wort »wobla«, ein Fisch der Karpfenfamilie, der im Deutschen als Kaspische Plötze bekannt ist, war ein solches Substitut. In einem Fall schrieb eine junge Frau in Tjumen »net w***e« und konnte vor Gericht beweisen, dass sie »net woble« gemeint hatte, weil sie diesen Fisch nicht mochte. Das Wort »wobla« statt »woina«, also »Karpfen« statt »Krieg«, wurde zu einem sehr beliebten Meme in den sozialen Medien. Der Fall wurde vielleicht wegen seiner Popularität neu aufgerollt: Im Dezember 2022 beschloss das Gericht, die Frau wegen Diskreditierung der russischen Armee anzuklagen. Bald tauchten überall auf den Straßen Bilder von Fischen auf und wurden zum beliebtesten versteckten Symbol des russischen Antikriegsprotestes (siehe Bild 1 unten).

Einige Möglichkeiten, sich zu äußern, scheinen zunächst relativ sicher zu sein, werden aber auch von den Behörden aktiv verfolgt. So wurde Aleksandra Skotschilenko, die im März 2022 Preisschilder in einem Supermarkt durch Informationen über die Opferzahlen unter der Bevölkerung in Mariupol ersetzte, im April 2022 auf der Grundlage des Fake News-Paragraphen des Strafgesetzbuchs verhaftet und befindet sich noch immer in Untersuchungshaft. Dies ist eine bewährte Methode der Strafverfolgung: Prozesse werden verschoben, Personen in Gewahrsam gehalten, ihnen wird der Zugang zu ihren Anwälten verweigert, notwendige Medikamente oder medizinische Hilfe wird verwehrt. Skotschilenkos nächster Prozess war für den 20. Januar 2023 angesetzt, wurde allerdings vertagt und sie bleibt weiterhin im Gefängnis.

Neben Skotschilenko wurden bis Mai 2022 elf weitere Personen wegen ähnlicher Aktionen inhaftiert. Der Vorwurf lautet: Ersetzen von Preisschildern in Geschäften durch Protestflugblätter gegen den Krieg. Wir haben eine Datenbank von Gerichtsverfahren zusammengestellt, in denen Menschen wegen der Verbreitung von Inhalten zur »Verleumdungen der russischen Streitkräfte« – mit anderen Worten wegen Antikriegsbotschaften – inhaftiert wurden. Uns sind über 4.300 Verwaltungs- und 162 Strafverfahren dieser Art bekannt.

Ebenso kreativ ist ein Plakat über einen vermissten Hund, mit einem Foto des Hundes und dem üblichen fettgedruckten Text, während das Plakat in Wirklichkeit ein Aufruf ist, zu einer Protestveranstaltung zu kommen (siehe Bild 2 unten).

Künstlerische Protestpraktiken finden auch in anonymen Kunstwerken an Wänden und Zäunen ihren Platz. So wurde beispielsweise ein Bild mit drei und fünf Ballerinen anstelle der Botschaft »Nein zum Krieg« – eine Anspielung auf Tschaikowskis Schwanensee – von einer unbekannten Person aufgegriffen und aktiv in den sozialen Medien verbreitet (siehe Bild 3 unten).

In der Sowjetunion war das Ballett Schwanensee ein Symbol für den Tod eines sowjetischen Führers: An Trauertagen ersetzte es alle anderen Fernsehprogramme. Während des versuchten Staatsstreichs 1991 wurde es wiederholt im Fernsehen anstelle der Nachrichten gezeigt. Diese Referenz wird von allen, die in der Sowjetunion gelebt haben, verstanden und wurde auch bei den Protesten 2020 in Belarus verwendet.

Jedes Mal, wenn die Behörden beginnen, eine dieser kreativen Protestformen zu verfolgen, taucht eine andere auf. Informationen über verschiedene Möglichkeiten, den Widerstand gegen den Krieg zum Ausdruck zu bringen, werden über Telegram-Kanäle und Social-Media-Gruppen verbreitet, auf die die meisten Internetnutzer in Russland inzwischen über VPNs zugreifen. Auf diese Weise bezieht der »stille« Protest auch Menschen mit ein, die sonst nicht auf die Idee gekommen wären, sich auf diese Weise zu äußern. Die bereits erwähnte Aleksandra Skotschilenko hörte beispielsweise von einer Freundin, dass sie auf dem Telegram-Kanal »Feministischer Antikriegs-Widerstand« über das Ersetzen von Preisschildern in Geschäften gelesen hatte und holte sich von dort sogar ein speziell von einer Designerin entworfenes Muster-Preisschild zum Ausdrucken.

Zu den Vorteilen symbolischer Widerstandsbekundungen als Ausdruck von Unzufriedenheit gehört ihr größeres Potenzial, Sympathien bei anderen Mitgliedern der Gemeinschaft zu gewinnen, zumal sie keine physische Gewalt beinhalten. Ein gutes Beispiel dafür ist die Verwendung von Orwells Roman »1984« als Symbol des Protests. Die Menschen stellen einen Roman auf den Kassentresen eines Cafés oder in das Schaufenster ihres Geschäfts als Zeichen dafür, dass »›unsere Leute‹ hier sind«. In der Stadt Iwanowo wurde im April 2022 ein Mann verhaftet, der Exemplare von Orwells Roman an Passanten verteilte. Er erhielt eine Geldstrafe. Dennoch hat die Popularität von Hinweisen auf den Roman auf Protestplakaten auf der Straße oder in sozialen Netzwerken nicht abgenommen. Laut unserer Antikriegsproteste-Datenbank gibt es mindestens 18 Gerichtsverfahren gegen Personen, die wegen der Verwendung von Plakaten mit Orwell-Bezug bestraft wurden. Der Bezug auf Orwell hat sogar so stark zugenommen, dass selbst die Sprecherin des russischen Außenministeriums, Maria Sacharowa, es für nötig hielt, zu erklären, dass Russland nicht mit Orwells Roman verglichen werden kann, da er nicht über Russland geschrieben hat.

In Telegram-Kanälen tauschen sich Menschen aktiv darüber aus, wie sie sich dem Vorgehen der Behörden entziehen und sich nicht mitschuldig machen können. Das reicht von der Suche nach legalen Möglichkeiten, Kinder nicht in den »Patriotismusunterricht« zu schicken, etwa indem sie zu Hause unterrichtet werden oder unter verschiedenen Vorwänden keine patriotischen Aufgaben erledigen können, bis hin zu verschiedenen kleinen und äußerlich fast unauffälligen Aktionen. So teilten einige Menschen in sozialen Netzwerken mit, dass sie nicht in Verkehrsmittel mit militärischen Symbolen (Z oder V) einsteigen, das Wort »Russland« absichtlich falsch mit einem kleinen Anfangsbuchstaben schreiben oder einfach versuchen, nicht auf die Straße zu gehen, um die ganze Propaganda nicht zu sehen.

Fazit

Der »stille« Protest bezieht sich auf kleine Akte des Dissenses, die im Allgemeinen individuell, spontan und unbewaffnet sind und in Räumen der alltäglichen Sozialisation stattfinden. Auch wenn es sich dabei nur um Worte oder Symbole handelt, sind sie nicht unbedeutend, da sie die Uneinigkeit mit den Machthabern demonstrieren. Diese Art von Protest ist eine Möglichkeit für Menschen ihre Meinung zu äußern, die Angst haben, offen mit den Behörden in Konflikt zu geraten, die nicht bereit sind, für ihre Meinung ins Gefängnis zu gehen oder verprügelt zu werden. Dank der sozialen Netzwerke bilden diese Menschen Gemeinschaften von Gleichgesinnten, und die Aktivisten der Telegrammkanäle bieten ständig neue, kreative Formen des Protests an und beziehen so diejenigen in den Kreis des stillen Protests ein, die vielleicht selbst nicht daran gedacht hätten, dies zu tun. All dies ermöglicht es, die Antikriegshaltung in der Bevölkerung aufrechtzuerhalten und gegen die härtesten Maßnahmen zur Unterdrückung der freien Meinung in Russland durchzusetzen. Diese kleinen Akte des Widerstands ermöglichen es den Menschen, sich nicht als passive Zuschauer, sondern als Akteure des historischen Prozesses zu fühlen, sie bewahren ihre Fähigkeit, die Geschehnisse eigenständig zu beurteilen und damit ihre Selbstachtung.

Lesetipps / Bibliographie

  • Lüdtke, Alf (2015): Eigen-Sinn, Fabrikalltag, Arbeitererfahrungen und Politik vom Kaiserreich bis in den Faschismus, Verlag: Westfälsiches Dampfboot.
  • Gabowitsch, Mischa (2012): Gewalt und Gewaltfreiheit in der Bewegung für faire Wahlen in Russland. In: Mittelweg 36, Bd. 21 (2012), 4, S.68–75.
  • Scott, James C. (1985): Weapons of the Weak: Everyday Forms of Peasant Resistance. Yale University Press.
  • Russian Analytical Digest 291 (2023): Hidden Resistance to the Russian-Ukrainian War Inside Russia, https://css.ethz.ch/content/dam/ethz/special-interest/gess/cis/center-for-securities-studies/pdfs/RAD291.pdf.

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