Annäherungen an eine Soziologie des Krieges

Von Elena Koneva, Alexander Chilingaryan (beide ExtremeScan)

Nach dem Ende des Krieges in der Ukraine wird es Zeit brauchen, Beweise zu sammeln und die Verantwortlichen vor Gericht zu stellen. Es wird die Möglichkeit geben, die tieferen Ursachen des Konflikts zu untersuchen und zu verhindern, dass sich ähnliche Ereignisse wiederholen. Der entscheidende Punkt, der untersucht werden muss, ist die Mentalität der russischen Gesellschaft vor, während und nach dem Krieg.

Die Geschichte erforschen

Diese oben beschriebenen Zukunftsaussichten sind einige der Hauptgründe, warum sich eine regelrechte Soziologie des Krieges entwickelt hat: um die wahrheitsgetreue Geschichte für die Geschichtsschreibung festzuhalten. Die sogenannte »militärischen Spezialoperation« führte zu einem Mobilisierungsschub für die unabhängige Soziologie. Als Reaktion auf Zensur, Restriktionen und Repressionen begannen unabhängige Soziolog:innen in Russland, trotz der Risiken, denen sie ausgesetzt waren, ihre Zeit und ihr Fachwissen ehrenamtlich zur Verfügung zu stellen.

Diese unabhängige Bewegung ist als ein bedeutsamer Schritt zu werten. Meinungsumfragen sind zu einem mächtigen Propagandainstrument des Kremls geworden. Staatsnahe Umfrageinstitute und Forschungsorganisationen konstruieren eine einheitliche Mehrheit von 70–80 Prozent, die scheinbar den Krieg und Putins Führerschaft unterstützen.

Diese ausgeklügelte Propaganda zielt insbesondere auf jenes Publikum ab, welches im In- und Ausland den politischen Diskurs bestimmt, um eine monolithische Konsolidierung der Gesellschaft um einen starken Führer zu vermitteln.

Meinungsumfragen können aus verschiedenen Datenquellen stammen, z. B. aus Online-Umfragen, die von westlichen Forschungszentren im Ausland durchgeführt werden, und sogar aus Telefonumfragen, die von ukrainischen Organisationen durchgeführt werden. WZIOM veröffentlicht gelegentlich Forschungsdaten, und »geheime Umfragen« werden den Medien mit dem Siegel des Föderalen Sicherheitsdienstes zugespielt. Diese Vielfalt zeigt, dass die Soziologie zu einer Waffe im Informationskrieg geworden ist.

Russische Politikwissenschaftler:innen, Journalist:innen und Persönlichkeiten des öffentlichen Lebens äußern sich in unterschiedlicher Art und Weise zu diesen Zahlen. Zu den häufigsten Aussagen gehören: »Wir können Umfragen heutzutage nicht trauen«, »Umfragen sind derzeit bedeutungslos«, »Umfragen sollten ganz verboten werden« und »Umfragen helfen doch nur Putin«. Gleichzeitig analysieren sie aber die Gesellschaft, wie sie von der propagandistischen Soziologie dargestellt wird. Die Vorstellung von einer »überwältigenden Mehrheit« ist allerdings ein weit verbreiteter Mythos, der von der russischen Propaganda geprägt wurde.

Es handelt sich um einen Krieg, nicht um eine »Operation«

Eine Analyse der Suchtrends im Internet zeigt, dass der Begriff »Krieg« beim russischen Publikum weitaus häufiger vorkommt als »militärische Spezialoperation«.

Die von der russischen Regierung verschärften drakonischen rechtlichen Beschränkungen stellen freie Meinungsäußerung praktisch unter Strafe und machen es deswegen unmöglich, eine unvoreingenommene Einstellung von Befragten zum Krieg anhand der direkten Frage »Unterstützen Sie die militärische Spezialoperation in der Ukraine?« zu ermitteln.

Eine Änderung des Wortlauts in der obigen Frage von »militärische Spezialoperation« zu »Krieg« würde wahrscheinlich zu einem deutlich anderen Ergebnis führen. Aber es ist in Russland verboten, diesen Krieg »Krieg« zu nennen; jeder Versuch führt zu Repressionen wie Geldstrafen oder sogar Inhaftierung. Somit sind sowohl Forschende als auch die Befragten in ständiger Gefahr. »Danke, dass Sie mir das Recht auf Schweigen zugestehen«, kommentierte ein Befragter unserer Umfragen, der die Option »Antwort verweigern« gewählt hatte.

Die Frage nach dem Warum

Wir sind über die üblichen Forschungsberichte hinausgegangen und haben auf der Grundlage eines unvoreingenommenen Verständnisses des mentalen Zustands der russischen Gesellschaft in Kriegszeiten Erkenntnisse gewonnen, die unmittelbar aus- und verwertbar sind. Diese Informationen sind für künftige politische Entscheidungsträger:innen bei der Ausarbeitung von Präventivmaßnahmen für künftige Konflikte von großem Wert.

Die Genese von Unterstützung und Widerstand verstehen

Krieg ist eine einzigartige und extreme Situation, die eine andere Herangehensweise erfordert, um die öffentliche Meinung zu erforschen. Es ist deswegen von entscheidender Bedeutung, die sozialen und psychologischen Faktoren zu verstehen, welche die Unterstützung für und Widerstand gegen den Krieg bestimmen.

Widerstand gegen Propaganda

Der Krieg in der Ukraine wurde maßgeblich durch gut finanzierte Propagandakampagnen angeheizt. Diese begannen in den russischen Medien und setzten sich in den Köpfen der Menschen auch außerhalb Russlands fort. Soziologische Forschung ist wichtig, um der russischen Propaganda entgegenzuwirken und Strategien zu entwickeln, die der Öffentlichkeit die Wahrheit vermitteln.

Archetypen verstehen lernen

Der Krieg ist ein Extremzustand für eine Gesellschaft und bietet eine seltene Gelegenheit, tiefsitzende Archetypen zu erforschen, die unter normalen Bedingungen nicht fassbar sind.

Daten über die humanitären Auswirkungen des Kriegs

Wenn herkömmliche statistische Daten nicht verfügbar, unvollständig oder verfälscht sind, können soziologische Erhebungen eine alternative Informationsquelle über die Auswirkungen des Krieges darstellen.

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Schwierigkeiten und Einschränkungen

Die Erhebung genauer empirischer Daten in Kriegszeiten ist komplex, und die Interpretation der Antworten, die unter Bedingungen strenger Kriegszensur erhoben wurden, erfordert akribische Aufmerksamkeit für Details und die Berücksichtigung des Kontextes.

Stichprobenverzerrung und Verformung der Grundgesamtheit

Der Krieg bricht gewöhnliche gesellschaftliche Verhaltensmuster auf und schafft Bedingungen, die es für Forschende erschweren, die Bevölkerung nach einheitlichen Standards zu befragen. Entgegen unseren Erwartungen konnten wir während der elf Monate andauernden Untersuchung weder einen Rückgang der Kooperationsbereitschaft der Befragten noch einen signifikanten Rückgang der Rücklaufquote feststellen. Gleichzeitig kann die Veränderung der Grundgesamtheit die Repräsentativität der Umfragen beeinträchtigen. Ein bemerkenswertes Beispiel sind junge Männer. Unsere Umfrage im Oktober ergab einen Verlust von 40 Prozent in der jüngsten männlichen Bevölkerungsgruppe (im Alter von 18–25 Jahren), die von den üblichen 11,5 Prozent auf sieben Prozent zurückging, was in absoluten Zahlen drei Millionen Menschen entspricht. Dieser Verlust setzt sich zusammen aus Personen, die in die Armee eingezogen wurden, die das Land verlassen haben und denjenigen, die ihre SIM-Karten gewechselt haben oder Anrufe von unbekannten Telefonnummern nicht mehr annehmen.

Der Krieg führt zu verzerrter Wahrnehmung in den Köpfen

Die größte Schwierigkeit besteht darin, die Daten zu interpretieren und sie mit der Situation vor dem Krieg zu vergleichen. Die Einstellungen der Menschen können stark von ihren Gefühlen über den Krieg beeinflusst sein, was es schwieriger macht, ihre Ansichten zu anderen Themen genau zu vermessen. Wir haben Anzeichen dafür gefunden, dass die Zustimmung zu Putin und der Krieg viele weitere Themenbereiche dominieren: den wirtschaftlichen Optimismus, die Einschätzung der eigenen finanziellen Lage und die Einstellung zur Regierung und ihren Entscheidungen. Dazu gehören auch selbst derartig negative Ereignisse wie die Mobilmachung im September 2022 und die Bewertung der negativen Auswirkungen des Krieges auf die eigene Lebenssituation. Die größte Herausforderung besteht in den Formulierungen, die bei der Interaktion mit den Befragten und der Interpretation ihrer Antworten verwendet werden, insbesondere wenn sie mit den Bedingungen vor dem Krieg verglichen werden. So kann beispielsweise eine Verbesserung der Selbsteinschätzung der finanziellen Lage eines Befragten ohne äußere Einflüsse auf eine Anpassung an Schwierigkeiten, eine verstärkte Konsolidierung und eine Neubewertung von Haltungen hinweisen.

Respondent:innen weigern sich, sensible Fragen zu beantworten

Die Zahl der Befragten, die zögern oder sich weigern, auf Fragen von Umfrageinstituten zu antworten, hat während des Krieges stark zugenommen. Befragte, die sich gegen militärische Maßnahmen aussprechen, vermeiden es eher, die Fragen zu beantworten und äußern ihre Haltung offen nur ungern. Im Oktober 2022 sprachen sich 30 Prozent der Frauen im Alter von 18 bis 35 Jahren für den Krieg aus, während 18 Prozent ihn offen ablehnten. Fast 52 Prozent vermieden es, diese Frage zu beantworten. Gleichzeitig waren Männer im Alter von 55 Jahren oder älter jene Teilgruppe der Befragten mit der positivsten Einstellung. 80 Prozent von ihnen bekundeten ihre Unterstützung für die »militärische Spezialoperation«, und nur 11 Prozent verweigerten die Antwort. 33 Prozent aller Befragten lehnten es ab, die Frage zur Unterstützung der »militärischen Spezialoperation« zu beantworten.

Das Hauptaugenmerk unserer Analyse lag auf der Untersuchung des Ausmaßes und der Rechtfertigung der Unterstützung des Krieges durch die russischen Bürger:innen. Massenmedien in Russland und im Ausland verbreiten immer wieder, dass 70–80 Prozent der Russen den Krieg unterstützen. Als wir von ukrainischen Befragten wissen wollten, wie viel Prozent der Russ:innen den Krieg unterstützen, erhielten wir dieselben 80 Prozent. Trotz ihrer weiten Verbreitung sind wir der Überzeugung, dass diese Zahl korrigiert werden muss. Die Vorstellung von einer »überwältigenden Mehrheit« ist ein weit verbreiteter Mythos, der von der russischen Propaganda geprägt wurde. Der Anteil der Befragten, welcher die direkte Frage nach der Unterstützung der »militärischen Spezialoperation« in einer Umfrage des Projekts »Chronicles« (https://www.chronicles.report/) bejaht hat, liegt deutlich unter den propagierten »offiziellen Zahlen«: Er liegt zu Beginn der Invasion bei 60–65 Prozent und fällt bis Herbst 2022 auf 50 Prozent.

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Dieser Unterschied zu den meisten Umfragen lässt sich auf die explizite Option »Antwort verweigern« zurückführen, die wir im Fragebogen ergänzt haben. Dies gibt aber noch keinen Aufschluss über die tatsächliche Befürwortung des Krieges. Eine weitere Analyse ergab, dass es ein Segment echter Befürworter:innen gibt, die direkt und indirekt an der Fortsetzung der Aggression gegen die Ukraine interessiert sind.

Bewusste Unterstützer:innen sind Personen, die

persönlich bereit sind, sich am Krieg zu beteiligen ODER Geld für das russische Militär und Nachschub spenden ODER sich vom Sieg über die Ukraine einen »persönlichen Nutzen« versprechen.

Diese Kriegsbefürworter:innen machen unserer Einschätzung nach 30–40 Prozent der Bevölkerung aus.

Kriegerische Russ:innen

Die Einstellung zur Mobilmachung zeigt, dass ein Teil der russischen Bevölkerung bereit ist, in den Krieg zu ziehen. Wir bezeichnen dieses Segment echter Militarist:innen als »Falken«, die etwa 20 Prozent der Befragten ausmachen.

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Sie sind Putins Basis und das Zielpublikum einer hocheffizienten Propagandakampagne. Die »Falken« – also die Hardliner – in unseren Umfragen drücken Euphorie, Überlegenheitsgefühle, übertriebene Männlichkeit und die Erwartung eines unvermeidlichen glorreichen Sieges Russlands über die Ukraine aus. Dieses von der Propaganda befeuerte Bild der russischen Gesellschaft wird fälschlicherweise mit allen russischen Bürger:innen gleichgesetzt.

Wer sind die Russ:innen nun wirklich?

Die Manipulation der öffentlichen Meinung und der Umfragen durch staatliche Propaganda-Institute ist nicht das Hauptproblem. Die größte Herausforderung besteht darin, die Mentalität der russischen Bürger:innen zu verstehen. Wir müssen noch lernen, die Befürworter:innen und Gegner:innen des Krieges zu vermessen, die Ergebnisse zu interpretieren und uns einen Reim daraus zu machen. Wie interpretiert man einen Mann im wehrpflichtigen Alter, der sagt, er sei bereit, in den Krieg zu ziehen, weil: »Wir haben der Ukraine so viel Schaden zugefügt, dass die Ukrainer unweigerlich mit Waffen in das russische Staatsgebiet eindringen werden, und dann muss ich meine Heimat verteidigen.« Kann dieses Eingeständnis als Unterstützung für den Krieg und als Bereitschaft, in den Kampf zu ziehen, gewertet werden?

Über ExtremeScan

ExtremeScan ist eine gemeinnütziges, nichtstaatliches, internationales Kooperationsprojekt unabhängiger Forscher:innen und Wissenschaftler:innen, dessen Ziel es ist, die Öffentlichkeit über wichtige Themen, Einstellungen und Trends in Ländern im Krieg zu informieren. ExtremeScan führt Meinungsumfragen in Russland, der Ukraine und Belarus durch, um unvoreingenommene Daten über die Stimmungslage inmitten der eskalierenden Krise zu liefern. Der Partner und das primäre Forschungskooperationsmedium von ExtremeScan ist das Projekt »Chronicles«.

Lesetipps / Bibliographie

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Analyse

Was denken gewöhnliche Russen wirklich über den Krieg in der Ukraine?

Von Kseniya Kizilova, Pippa Norris
Wie denken gewöhnliche Russ:innen wirklich über die Entscheidung von Präsident Putin, in die Ukraine einzumarschieren? Obwohl einiges dafürspricht, dass frühere Umfragen, die Zustimmungswerte um 60 % für den Krieg zeigen, als genuine Signale der russischen öffentlichen Meinung gewertet werden können, untersucht dieser Beitrag eine Reihe von Gründen, warum diese Umfrageergebnisse mit großer Vorsicht behandelt oder gar ignoriert werden sollten. Gründe dafür sind u. a. die staatliche Zensur, die Selbstzensur der Bevölkerung und eine verzerrte Beantwortung der Fragen, das Vorhandensein von Protesten sogar in einem autoritären Umfeld in Russland, als auch die Tatsache, dass einige der früheren Umfragen nach einem hypothetischen Einmarsch fragten, über den viele Russ:innen wohl nicht ausreichend nachgedacht haben könnten. (…)
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Analyse

Föderale Hochschulen – Russlands neue Kaderschmieden?

Von Stefan Meister
Der Zusammenschluss mehrerer regionaler Hochschulen zu föderalen Universitäten soll dazu dienen, neue starke Akteure auf dem nationalen und internationalen Bildungsmarkt zu schaffen. Die russische Politik hat in den letzten acht Jahren im zunehmenden Maße Mittel in Bildung und Wissenschaft investiert, ohne dass dabei eine gravierende Verbesserung der Ausbildungsqualität oder gar eine wettbewerbsfähige Forschung entstanden wäre. Im Gegenteil verlieren Russlands Ausbildungssystem und seine Forschungsinstitute weiterhin international den Anschluss. Ähnlich wie in der Wirtschaft sollen nun auch im Bereich der Hochschulbildung große halbstaatliche Akteure auf diese Entwicklung reagieren. Diese schaffen jedoch eher intransparente Strukturen und schränken einen echten Leistungswettbewerb ein. (…)
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