Evakuierung 2022: Wer ist wegen des Krieges in der Ukraine aus Russland emigriert, und warum? Erste Forschungsergebnisse von OK Russians

Methode: Wir haben 2.067 Personen befragt, die Russland aufgrund der Ereignisse im Februar und März 2022 verlassen haben. Der Link zur Umfrage wurde über thematische Chats und Social-Media-Gruppen zum Thema Relocation verbreitet. Die Umfrage wurde am 16. März durchgeführt.

Die wichtigsten Fakten auf einen Blick:

  • Mindestens 300.000 Personen, die Russland verlassen haben
  • Ein Drittel arbeitet in der IT-Branche
  • 57 Prozent sind jünger als 35 Jahre
  • 68 Prozent geben an, dass sie für immer oder langfristig emigriert sind
  • 57 Prozent verdienen ihr Geld in Russland
  • 49 Prozent verfügen über finanzielle Reserven für drei Monate

Wohin und wie viele: Die beliebtesten Zielländer sind Georgien, die Türkei und Armenien. Auf diese Länder entfällt etwa ein Drittel der Emigrierenden. Aufgrund fehlender Daten ist es schwierig, die Abwanderung zu quantifizieren. Auf der Grundlage der Angaben des georgischen Innenministeriums (20–25 Tausend [Einreisende] in der ersten Woche [nach dem 24.02.2022]) und unserer Umfrageergebnisse (15 Prozent der Ausgewanderten gingen nach Georgien) können wir vorsichtige Schätzungen über mindestens 300.000 Russ:innen anstellen, die das Land verlassen haben.

Wer: IT-Spezialist:innen (ein Drittel) und verschiedene Manager:innen (ein weiteres Drittel) haben das Land verlassen. Das verbleibende Drittel ist äußerst vielfältig, aber wir können sagen, dass es sich dabei meist um »Bürojobs« oder kreative Berufe handelt (Anwält:innen, Psycholog:innen, Designer:innen, Blogger:innen, NGO-Mitarbeitende, Journalist:innen, Berater:innen usw.). Sie sind jung (25–35 Jahre alt); nur ein Drittel hat Kinder.

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Evakuierung zum Zweck der Auswanderung

Für die Menschen stellt das Verlassen des Landes eher eine erzwungene und dringende Evakuierung als eine wohlüberlegte Entscheidung dar. Viele haben schon früher über eine Auswanderung nachgedacht, aber die derzeitige Situation hat für sie »das Fass zum Überlaufen gebracht«. Die Entscheidung, umzuziehen, war eine emotionale Entscheidung, die Wahl des Landes folgte dem Prinzip »wohin man sofort ausreisen kann«. Für viele sind die Visa während der Pandemie abgelaufen.

Die meisten denken, dass sie Russland für eine lange Zeit oder sogar für immer verlassen haben. Nur 12 Prozent glauben, dass die Abwanderung vorübergehend ist.

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Wir haben sechs Gruppen von Gründen für die Auswanderung identifiziert

1. Missbilligung des Krieges in der Ukraine

Weigerung, in einem Aggressorstaat zu leben und zu »Kompliz:innen des Verbrechens« zu werden (zu schweigen, finanziell durch Steuerzahlungen zu unterstützen, zu kämpfen).

  • »Ich sehe keine Möglichkeit, weiterhin in einem Aggressorstaat zu leben, der gegenüber den Bürgern meines Nachbarlandes und meines eigenen Landes gleichermaßen grausam ist.«
  • »Ich bin entsetzt, dass Russland die Ukraine angegriffen hat. Ich kann es nicht ertragen, in diesem Land zu sein, ich will nicht dazugehören, ich will keine Steuern zahlen, die dafür verwendet werden, Zivilisten zu töten.«

2. Furcht vor Repressionen

Die Menschen haben Angst, von ihrem Arbeitgeber entlassen, von der Universität exmatrikuliert oder aus politischen Gründen verfolgt zu werden. Gegen einige der Befragten sind bereits Ordnungs- und sogar Strafverfahren eingeleitet worden.

  • »Ich fürchte um meine Freiheit. Ich werde nicht mehr schweigen und meine Gedanken in den sozialen Netzwerken nach der Parteilinie filtern können«.
  • »Die Polizei sagte mir: ›Hau ab, oder du kommst ins Gefängnis, weil du an einem Einzelprotest gegen den Krieg teilgenommen hast‹ «.
  • »Ich fürchte mich davor, an Kundgebungen teilzunehmen. Ich habe Angst, dass man uns deswegen erschießen wird. Es ist beängstigend, hinter dem Eisernen Vorhang mit Menschen zusammen zu sein, die den Krieg unterstützen.«

3. Schwierigkeiten bei der Arbeit

Verlust des Arbeitsplatzes, Abwanderung der Arbeitgeber:innen vom russischen Markt (und die damit verbundene Relocation der Angestellten), Unfähigkeit, mit ausländischen Kund:innen zusammenzuarbeiten und von ihnen Bezahlungen zu erhalten.

  • »Meine Branche (die Spieleentwicklung) hat in Russland die meisten ihrer Partner und Möglichkeiten, Geld zu verdienen, verloren. Bei mir wurde gekürzt, und ich bin gegangen, um einen neuen Job zu finden.«
  • »Mein Mann arbeitete für ein ausländisches Unternehmen, und es gab keine andere Möglichkeit für ihn, seinen Arbeitsplatz zu behalten, als Russland zu verlassen.«

4. Lebensstandard

Die Unmöglichkeit, sein gewohntes Leben zu führen, die üblichen Produkte und Dienstleistungen zu nutzen, zu reisen.

  • »Ich möchte den Komfort, den ich vor dem Krieg hatte, nicht verlieren. Früher habe ich viele Dienste genutzt, die jetzt in Russland nicht mehr funktionieren. Ich möchte nicht leben und nur ans Überleben denken anstatt daran, wie ich mir die Bedingungen für ein angenehmes Leben schaffen kann, nur wegen der Dummheit einer Person.«
  • »Wir sind es leid, den Gürtel enger zu schnallen und nur ans tägliche Überleben denken zu müssen, ohne das klar ist, für was das alles gut sein soll«.

5. Fehlende Zukunftsaussichten

Fehlende Perspektiven (wirtschaftlich, politisch, kulturell) und Angst um die Zukunft der Kinder.

  • »Es gibt keine Hoffnung auf einen Wiederaufbau und Integration in die normale Welt in den nächsten 20 Jahren. Ich bin jung, ich will nicht 20 Jahre damit verbringen, von Grund auf alles wieder aufzubauen«.
  • »Meine Familie möchte in einer offenen Welt leben, in der es keine Grenzen zwischen den Ländern gibt, in der die Menschen Erfahrungen und Wissen austauschen, und nicht in einem Vampirstaat, der über die ganze Welt verbittert ist.«
  • »Ich möchte, dass mein Kind in einer offenen Welt lernt und nicht mit dem Stigma behaftet ist, Bürger eines aggressiven Landes zu sein.«
  • »Die Zukunft ist verboten worden«.

6. Entfremdung

Das Gefühl, ein Außenseiter unter den Menschen zu sein, die das russische Regime unterstützen. Das Gefühl, in der Minderheit zu sein und die Situation nicht beeinflussen zu können.

  • »Unsere Mitbürger:innen sind verrückt geworden, die Propaganda hat den Menschen in meinem Umfeld und meinen Nachbar:innen endgültig den Verstand geraubt. Ich habe keine Ahnung, wie ich mit ihnen Seite an Seite leben soll.«
  • »Ich bin emigriert, um ein Mensch zu bleiben.«
  • »Russland hat keine Zukunft, wenn ein Diktator an der Macht ist, der das Land ausnutzt, um seinen Launen zu frönen, und das Volk immer noch nichts tut und nicht einmal daran denkt, etwas dagegen zu tun und seine Gewalt zu tolerieren.«
  • »Ich wäre bereit, gegen das Regime zu kämpfen und sogar ins Gefängnis zu gehen, wenn ich die Unterstützung von mindestens zehn Prozent der Gesellschaft in Russland sähe, aber jetzt habe ich den Eindruck, dass wir ein Prozent sind und deshalb nichts ändern können.«
  • »Die russische Propaganda hat die Menschen einer Gehirnwäsche unterzogen. Sie glauben nur noch, was sie im Fernsehen sehen. Für sie sind wir Verräter:innen und Spione, die sich an den Westen verkauft haben. Jetzt gibt es keinen Platz mehr für mich in meinem Heimatland. Man wird uns nicht arbeiten lassen, wir werden unterdrückt und eingesperrt werden.«
Schwierigkeiten

Die Abreise war unvorbereitet

Nur ein Viertel derjenigen, die ausgewandert sind, sind sich sicher, dass sie mit ihrem Wohnort eine gute Wahl getroffen haben.

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Finanzielle Probleme

Die Emigrant:innen sahen sich zunächst mit verschiedenen finanziellen Problemen konfrontiert: Zugang zu Ersparnissen und Gehältern auf russischen Konten ([Bank-]Karten funktionieren nicht), die Suche nach einem neuen Arbeitsplatz, die hohen Lebenshaltungskosten am neuen Wohnort und der schlechte Wechselkurs des Rubels. Viele waren weder finanziell noch moralisch bereit, umzuziehen.

  • »Zum Zeitpunkt der Abreise hatte ich 500.000 Rubel Ersparnisse und tausend Euro auf meiner Karte. Es blieb fast nichts übrig, da ich das meiste wegen der Wechselkursdifferenz verlor. Ich musste die Rubel auf dem Schwarzmarkt in der Türkei zum doppelten Kurs umtauschen. Ich habe das meiste davon für drei Monatsmieten bezahlt.«
  • »Ich konnte Geld aus dem Land schaffen, das gerade für die nächsten zwei Monate zum Durchkommen reichte. Mein Realeinkommen ist aufgrund des Wechselkurses des Rubels gesunken. Ich habe Angst, dass ich ohne Geld dastehen werde. Ich suche nach Möglichkeiten, außerhalb Russlands Geld zu verdienen.«
  • »Die größte Schwierigkeit besteht darin, dass man überhaupt kein Verständnis dafür entwickeln kann, was als Nächstes passieren wird. Ängste und Furcht. Bis jetzt habe ich eine Wohnung und Geld für ein paar Monate, aber danach muss ich einen Weg finden, da wieder herauszukommen.«
  • »Ich habe Angst, dass ich meine derzeitige Einkommensquelle verliere, bevor ich eine neue Stelle finde.«

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Die meisten sind von ihrer Einkommensquelle innerhalb Russlands abhängig.

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Und haben nur geringe Ersparnisse, die nur für ein paar Monate reichen würden, falls ihr Einkommen plötzlich wegfällt.

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Jede:r Fünfte hat Schwierigkeiten, einen legalen Status im Aufenthaltsland zu erlangen oder diesen zu verlängern. Dazu können Schwierigkeiten bei der Beschaffung der erforderlichen Dokumente aus Russland gehören. Nur für ein Viertel der Ausgewanderten gibt es keine Einschränkungen für die Dauer des Aufenthalts im Land des derzeitigen Wohnsitzes.

  • »Es ist schwer zu verstehen, wie man an Dokumente kommt. Ich wollte eine Aufenthaltsgenehmigung beantragen, aber dafür sind Dokumente erforderlich, die man nur in Russland erhalten kann, und das auch nicht sofort.«
  • »Eine Arbeitserlaubnis und eine Sozialversicherungsnummer erhalten, um legal arbeiten zu können. Damit sind alle Flüchtlinge konfrontiert.«
  • »Die größte Schwierigkeit besteht derzeit darin, politisches Asyl zu beantragen. Juristische Dienstleistungen sind sehr teuer.«

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Wohnraum

Aufgrund der gestiegenen Nachfrage (insbesondere in visumfreien Ländern) ist es schwierig, eine Unterkunft zu mieten. Allein die Notwendigkeit, trotz des sinkenden Rubelkurses eine Wohnung zu mieten, beeinträchtigt den gewohnten Lebensstandard erheblich.

  • »In Tiflis sind die Preise für Unterkünfte sehr hoch, wenn das so bleibt, werden wir uns das nicht leisten können. Zurzeit sind wir bei Freunden.«
  • »Der Lebensstandard sinkt aufgrund der Notwendigkeit, Wohnraum zu mieten, insbesondere bei dem derzeitigen Rubelkurs.«

Allgemeine Ungewissheit

Allgemeine Ungewissheit aufgrund des »Schwebezustands«. Ungewissheit auch über die unmittelbare Zukunft. Verurteilungen von Seiten der Einheimischen (im Gastland) oder ukrainischen Bekannten. Konflikte mit Verwandten aufgrund unterschiedlicher Einschätzungen der aktuellen Ereignisse. Angst vor Verwandten in Russland. Trennung von der vertrauten Umgebung. All dies trägt nicht gerade dazu bei, dass die Menschen ausgeglichen und ruhig sind.

  • »Im Moment sind wir bei Freunden untergebracht. Wir haben noch nicht entschieden, ob wir lange hier bleiben wollen. Es ist ein Schwebezustand. Ich kann es mir bisher noch leisten, nicht zu arbeiten. In meinem Berufsfeld habe ich aber kaum Chancen auf einen Job.«
  • »Beziehungen zu Verwandten, von denen einige den berühmten Buchstaben in ihren sozialen Medien posten.«
  • »Orientierungslosigkeit und das Gefühl, hier nicht willkommen zu sein vor dem Hintergrund der aktuellen politischen Lage«.
  • »Beziehungen zu Verwandten, von denen einige den allseits bekannten Buchstaben in ihren sozialen Medien posten. Viele schreiben mir schreckliche Nachrichten darüber, dass ich persönlich an diesem Krieg schuld sei.«
  • »Es gibt kein Gefühl der Sicherheit. Keine absehbaren Aussichten. Angst um die Angehörigen und die Befürchtung, sie einige Jahre lang nicht sehen zu können. Der Wunsch, nach Hause zurückzukehren, ist da, aber es ist gefährlich.«
  • »Das Gefühl, irgendwie von der Welt ausgeschlossen zu sein. Schlafprobleme, Unfähigkeit, sein Leben länger als einen Monat im Voraus zu planen«.
  • »Der Lebenswandel von früher ist dahin. Es ist schwierig, eine neue Routine aufzubauen. Wir treffen hier oft auf Fremdenfeindlichkeit gegenüber Russ:innen. Es fühlt sich so an, dass es nicht um Leben und Erleben geht, sondern ums Überleben und sich Sorgen machen.«
Emotionen

Die derzeitige Auswanderungswelle ist durch Spontaneität und eine damit verbundene ausgeprägte Emotionalität gekennzeichnet. Die Menschen erleben eine Reihe von Gefühlen, die von Schock, Trauer und Angst bis hin zu Erleichterung und sogar Hoffnung reichen.

  • »Einerseits ist es einfacher, durchzuatmen. Auf der anderen Seite wird ein insgesamt gutes Leben (Wohnung, Arbeitsplatz, soziales Umfeld) zerstört. Gemischte Gefühle von Angst und Hoffnung«.

Angst, Verwirrung, Frustration

Viele Menschen haben keine Pläne für die nahe Zukunft. Sie sind einfach dorthin ausgereist, wohin sie konnten, ohne zu wissen, wie sie mit ihrem Leben weiter verfahren sollten. Die Menschen stehen jetzt vor so vielen Fragen und Herausforderungen: in welchem Land sie leben sollen, wie sie Geld verdienen können, wie sie an Dokumente kommen, wie sie ihren Kindern eine passende Schule finden können, usw.

  • »Ich habe mich noch nie so verletzlich gefühlt. Und es fällt mir immer noch schwer zu glauben, dass dies wirklich geschieht. Alle Pläne, die wir hatten, waren einfach nicht mehr relevant. Ich weiß derzeit einfach noch nicht, wie ich meine Zukunft wieder aufbauen kann.«

Furcht

Die Befragten sind sehr besorgt und fürchten um die Zukunft ihrer Verwandten und Freunde, die in Russland geblieben sind, um ihre Sicherheit, ihren finanziellen Wohlstand und ihre Gesundheit. Der Gedanke, dass sie ihre Angehörigen nicht mehr sehen können, ist ebenfalls sehr beängstigend.

  • »Ich habe eine schwerkranke Mutter und einen alten Vater in Chabarowsk. Ich schluchze vor Hilflosigkeit, dass ich ihnen jetzt nicht einmal mehr Geld schicken kann.«

Traurigkeit, Sehnsucht, Nostalgie

Es fällt den Menschen sehr schwer, ihr Zuhause, ihr gemütliches, interessantes, erfülltes und geregeltes Leben zu verlassen. Die Befragten haben das Gefühl, dass sie gezwungen wurden, alles, was sie liebten, zurückzulassen. Das macht sie sehr traurig und schmerzt. Viele haben Heimweh – sie vermissen ihr Zuhause, ihre Routinen. Einige träumen von einer baldigen Rückkehr in ihre Heimat und stellen ihre Entscheidung, das Land zu verlassen, in Frage.

  • »Jetzt müssen ich und meine Verwandten alles zurücklassen. Es fühlt sich nicht einmal wie eine Evakuierung an, es fühlt sich wie ein Rückzug an, eine Flucht vor einem herannahenden Feind, obwohl es so aussieht, als gäbe es in dem Gebiet gar keinen Krieg.«
  • »Im Allgemeinen ist es ein großer Schmerz, sein Zuhause, seine Hoffnungen, seine Verwandten und Freunde zurückzulassen. Manchmal habe ich immer noch das Gefühl, dass alles nur ein Traum ist und ich bald wieder aufwachen werde. Auswandern macht keinen Spaß, wie es mir vielleicht im letzten Jahr noch schien.«
  • »Sehnsucht und Hoffnungslosigkeit. Das Wichtigste ist auf einmal verloren: der Ort, an den man immer wieder zurückkehren kann.«
  • »Ich mache gerade das berühmte Gefühl der ›russischen Sehnsucht‹ durch. Ich war nie eine Patriotin, aber jetzt habe ich das Gefühl, dass ich etwas Wichtiges verloren habe.«
  • »Ich bin traurig und ärgere mich, dass ich meine Heimat verlassen habe. Es ist, als wäre sie auch zerbombt worden.«

Wut

Neben der Sehnsucht und der Traurigkeit darüber, das Land verlassen zu müssen, empfinden die Befragten auch Wut auf das derzeitige Regime, das ihnen ihr geliebtes Leben und ihre Zukunft geraubt und sie gezwungen hat, sich einer Vielzahl von Schwierigkeiten zu stellen.

  • »Ich empfinde große Wut darüber, dass ich gezwungen wurde, auszuwandern. Nach so vielen Anti-Kriegs-Kommentaren im Internet kann ich nicht einfach zurückgehen und mich in Sicherheit wägen.«

Scham und Schuldgefühle

Einige Befragte empfinden Scham und starke Schuldgefühle. Sie schämen sich für ihr Land, das zum Aggressor wurde und den Krieg begann. Sie schämen sich für die Landsleute, die das derzeitige Regime und die Maßnahmen der Regierung unterstützen. Sie schämen sich vor dejenigen, die in Russland geblieben sind und sich entschieden haben, weiterzukämpfen. Sie schämten sich, dass sie machtlos waren und den Krieg nicht verhindern konnten.

  • »Wir schämen uns für unsere eigene Ohnmacht, die Situation in Russland zu ändern, und für das kriminelle Verhalten des Landes gegenüber der Ukraine.«
  • »Ich empfinde Schuldgefühle, weil ich aus der Heimat weggelaufen bin, wo es für denkende Menschen jetzt ungeheuer schwer ist und ihnen das Gefühl fehlt, dass sie nicht allein sind.«
  • »In erster Linie schäme ich mich. Schließlich habe ich Freunde, die aus Prinzip in Russland geblieben sind. Ich halte sie für große Russinnen und Russen, und wenn ich ihnen ins Gesicht schaue, dann schäme ich mich. Natürlich empfinde ich Angst, großen Schmerz und Schuldgefühle. Ich glaube, dass ich nicht genug getan habe.«

Erleichterung und Freiheit

Trotz aller Schwierigkeiten und des Schocks über die abrupte Ausreise gaben einige Befragte an, dass sie sich nach dem Grenzübertritt sehr erleichtert fühlten. Sie hatten das Gefühl, sich nun frei äußern zu können und keine Angst vor Repressionen haben zu müssen. Dieses Gefühl unterstützt sie moralisch und gibt ihnen moralische Kraft.

  • »Ich fühle mich stark und energiegeladen. Ich möchte Arbeitsprojekte in Angriff nehmen, die nichts mit Russland zu tun haben. Ich möchte die Meinungsfreiheit genießen und in sozialen Netzwerken schreiben, was ich denke.«

Interesse, Begeisterung

Einige Befragte nehmen die erzwungene Ausreise mit Interesse wahr – als Abenteuer und Herausforderung, als Weg zu neuen Möglichkeiten.

  • »Ich betrachte meinen Umzug als neue Herausforderung und bin sehr froh, dass ich gehen konnte, bevor die Gelegenheit vorbei war.«
  • »Für mich ist das ein Abenteuer.«

Hoffnung

Es ist wichtig, dass die Menschen etwas Gutes erwarten, dass sie sich ein positives Szenario vorstellen. Einige hoffen auf ein schnelles Ende des Krieges und eine Art Normalisierung des Lebens in Russland. Dies würde ihnen die Rückkehr nach Hause ermöglichen. Andere hoffen, in einem freieren Land ein neues und besseres Leben aufzubauen.

  • »Es fühlt sich an, als würde ein neues Leben beginnen, wenn auch ein schwieriges, aber ein interessanteres und ungewöhnlicheres.«

Über das Projekt

OK RUSSIANS ist eine gemeinnützige Organisation, die Russ:innen unterstützt, die gegen den Krieg in der Ukraine sind und die vom russischen Staat drangsaliert werden. Wir werden Menschen ins Ausland umsiedeln, Geldmittel sammeln und an Bedürftige in Russland überweisen, zuverlässige und nützliche Informationsquellen schaffen, Gleichgesinnte zusammenbringen und Gemeinschaften aufbauen. Wir glauben, dass dies Putins Krieg ist, nicht der Krieg aller Russen. Wir sind gegen die Diskriminierung von Russen im Westen, wir lieben die russische Kultur, und wir glauben, dass Russland früher oder später ein freies und demokratisches Land sein wird als ein integraler Bestandteil der Weltgemeinschaft.

Das Team

Das Projekt wird von Mitja Aleschkowskij geleitet. Unser Team besteht aus erfahrenen NGO-Mitarbeitenden, Medienmanager:innen, Soziolog:innen und Entwickler:innen und wächst schnell.

Quelle: https://research1.okrussians.org/Dokumentation

Zum Weiterlesen

Analyse

„Emigration mit Verantwortung”: Die Aktivitäten russischer demokratisch orientierter Migrant:innen und ihre Reaktionen in der EU auf Russlands Krieg gegen die Ukraine

Von Joanna Fomina
Als Reaktion auf den Krieg der Russischen Föderation gegen die Ukraine hat sich eine Reihe emigrierter russischer Dissident:innen in Europa gegen den Krieg engagiert. Die unterschiedlichen Antikriegs-Aktivitäten russischer Migrant:innen lassen sich insgesamt in drei Dimensionen unterteilen: eine symbolische (Antikriegs-Demonstrationen, neue russische Symbole), materielle Hilfe (finanzieller und nicht finanzieller Art) für Ukrainer:innen und ukrainische Flüchtende sowie eine informationelle Dimension (Gegen-Propaganda und investigativer Journalismus). Die Migrantenorganisationen und die Personen, die sich bei diesen Aktivitäten engagieren, bilden zudem das Rückgrat einer eventuellen zukünftigen Annäherung zwischen den Gesellschaften in der Ukraine, in Europa und in Russland.
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