Michail Mischustin als ambitionierter »Systemadministrator« des Putinismus

Von Fabian Burkhardt (Leibniz-Institut für Ost- und Südosteuropaforschung, Regensburg)

Der russische Premierminister Michail Mischustin hat seit seiner Ernennung am 15. Januar 2020 eine wenig beachtete, aber umso ehrgeizigere Umgestaltung von Russlands Staatsverwaltung vorangetrieben. Dieser Vorstoß sollte jedoch nicht mit »Reformen« oder gar »Modernisierung« verwechselt werden. Das Ziel besteht darin, den russischen Staat gegen die Risiken, die der zunehmend zentralisierte, stark hierarchisierte und schwerfällige vertikale Governance-Stil Russlands im späten Putinismus mit sich bringt, abzusichern. Außerdem sollen durch ähnliche Effizienzsteigerungen, wie sie Mischustin zuvor schon in der Steuerbehörde durchgesetzt hatte, so viele Ressourcen wie möglich aus dem stabil stagnierenden russischen Staat, den Unternehmen und den Bürger:innen extrahiert werden, während grundlegende Veränderungen bewusst vermieden werden.

Die »Meta-Reform«: Das Koordinationszentrum der Regierung

»Ich denke, er wird mit der Reform der öffentlichen Verwaltung [gosuprawlenie] beginnen«, sagte Sberbank-Chef German Gref am 16. Januar 2020, einen Tag nachdem Mischustin zum Premierminister ernannt worden war. Während Mischustin vor allem dank der erfolgreichen digitalen Transformation der russischen Steuerbehörde bekannt wurde, ist seine Vision als Premierminister ehrgeiziger: Mischustin hat tatsächlich eine Umgestaltung der Staatsverwaltung auf den Weg gebracht, deren Ausmaß und Ambition nur mit der in den Jahren 2003 und 2004 initiierten Verwaltungsreform vergleichbar ist. Am 22. Februar 2021 wurde ein sogenanntes »Koordinationszentrum« geschaffen, das als Kernstück dieser »Reform« angesehen werden kann. Es ist dem regierungsinternen Think Tank, dem sog. »Analytischen Zentrum«, angegliedert und wird vom stellvertretenden Premierminister Dmitrij Tschernyschenko geleitet. Die Idee geht auf das Jahr 2015 zurück, als Präsident Wladimir Putin Premierminister Dmitrij Medwedjew mit der Konzeption eines spezialisierten »Projektbüros« beauftragte. Die Philosophie, die hinter diesem obskuren »Projektbüro« steht, wurde am deutlichsten vom Sberbank-Chef German Gref dargelegt, der als Ideengeber des späteren Koordinationszentrums angesehen werden kann. Grefs Einschätzung der Lage lässt sich wie folgt zusammenfassen: Der Zustand von Russlands Wirtschaft ist miserabel. Bevor aber sinnvolle Reformen in Angriff genommen werden können, sollte die Qualität und Kapazität der öffentlichen Verwaltung des Staates verbessert werden, idealerweise mit Hilfe von Management-Techniken, die im »Big Business« schon lange angekommen sind: agiles Projektmanagement, »Performance Management« und natürlich die digitale Transformation. Diese Meta-Reform müsste also dem für den russischen Staat charakteristischen vertikalen Governance-Stil entgegensteuern. Dieses archaische Top-down-System müsste durch moderne, horizontale Managementpraktiken der öffentlichen Verwaltung wie »Performance Management« ersetzt werden.

Gref ist bekannt dafür, ein Faible für PEMANDU zu haben, die »Performance Management and Delivery Unit«, die im Jahr 2009 gegründet wurde, um die Fortschritte von Malaysias »Government Transformation Program« messbar zu machen und zu überwachen. Am 30. Juni 2016 richtete Putin den »Präsidialrat für strategische Entwicklung und prioritäre Projekte« ein, im Wesentlichen eine Koordinierungs- und Monitoringkommission für die Mai-Dekrete, die Putin nach seiner Wiederwahl 2012 erlassen hatte. Der Präsidentenberater Andrej Belousow wurde zum Sekretär des Strategierates ernannt, um die Umsetzung der Mai-Dekrete von 2012 zu überwachen. Obwohl es große Probleme mit der Umsetzung der Mai-Dekrete von 2012 gab, wurden sie weitgehend in die Nationalen Projekte von 2018 verpackt, und mit der Wiederernennung der Medwedjew-Regierung nach der Präsidentschaftswahl 2018 wurde die frühere Managementstruktur der Mai-Dekrete weitgehend beibehalten. Moskau gab die Ziele vor, die Regionen sollten diese gefälligst umsetzen. Die Reaktivierung des Staatsrats (Gosudarstwennyj Sowjet) trug nicht viel dazu bei, die Rückkopplungsmechanismen zwischen Zentrum und Regionen zu verbessern: In einigen Bereichen, wie z. B. bei den Gehältern für bestimmte Kategorien von Staatsbediensteten, fielen die meisten Regionen sogar wieder hinter die Ziele von 2018 zurück, die sie schon einmal erreicht hatten.

Dem Grund, warum die Regierung Medwedjew am 15. Januar 2020 gleichzeitig mit dem Beginn der Verfassungsreform zurücktreten musste, ist von Beobachter:innen bisher recht wenig Aufmerksamkeit geschenkt worden. Angesichts Mischustins Ambitionen ist zu konstatieren, dass Medwedjew Teilen der Elite zunehmend als Hindernis für die »Meta-Reform« des russischen Staates galt: Mit den Nationalen Projekten hatte Russland zwar sein Pendant auf das malaysische »Government Transformation Program« gefunden, aber ein funktionierendes »Delivery Office« und »Performance Management« fehlte weitgehend. Während PEMANDU »große, schnelle Ergebnisse« versprach, ließ es Medwedjew kleinmütig und behäbig angehen.

Die wichtigste Frage ist natürlich hierbei, ob Mischustins Vorstoß lediglich eine weitere Umstrukturierung der Exekutive ist, wie sie schon mehrere Male in den letzten zwei Jahrzehnten zu beobachten war. Bisher scheint Mischustin zumindest motiviert zu sein, »groß und schnell« zu handeln.

Erstens wird die föderale Exekutive um etwa 32.000 Personaleinheiten geschrumpft, mit Kürzungen im Zentrum von bis zu 5 Prozent und in den Regionen von bis zu 10 Prozent des Personals (hauptsächlich durch die Streichung derzeit unbesetzter Stellen). Im Gegensatz dazu wird der Verwaltungsapparat des Premierministers auf 1.792 Mitarbeitende aufgestockt. Noch wichtiger ist, dass der Apparat des Premierministers nicht mehr nur für die Betreuung von 61 Regierungskommissionen zuständig ist. Stattdessen wächst seine Verantwortung in vielen Politikbereichen: Der Apparat des Premierministers spiegelt nun das Ministerkabinett und dessen funktionale Arbeitsteilung wider, was seine Fähigkeit, Politiken (policies) zu koordinieren und Staus bei deren Umsetzung aufzulösen, verstärken soll. In diesem Zusammenhang ist auch die Umstrukturierung von Russlands 40 Entwicklungsinstitutionen zu sehen, von denen einige nun unter dem Dach von Igor Schuwalows WEB (Wneschekonombank) angesiedelt sind (z. B. Skolkowo und Rosnano): Während sechs von ihnen aufgelöst werden, sollen die Funktionen der anderen neu strukturiert werden, um eine koordinierte Umsetzung der nationalen Entwicklungsziele zu ermöglichen. Teil dieser Reform ist nicht nur eine Überprüfung der Leistungskennzahlen (key performance indicators) der verschiedenen Entwicklungsorganisationen und staatlichen Korporationen, sondern auch Kürzungen bei Personal, Gehältern und Privilegien.

Zweitens ist der Koordinationsrat keine untergeordnete Verwaltungseinheit innerhalb des Apparats des Premierministers, wie es die »Projektabteilung« war, sondern eine eigenständige Task Force direkt unter dem stellvertretenden Premierminister Tschernyschenko. Das Statut des Koordinationsrats definiert drei Hauptfunktionen: incident management, prioritäre Aufgaben und Sonderprojekte. Außerdem sind die Entscheidungen des Zentrums für alle föderalen Exekutivorgane verbindlich. Der Koordinationsrat wird zum wichtigsten Instrument der Regierung, um akute Probleme und Krisensituation zügig anzugehen. Im vergangenen Jahr war eine vorläufige Task-Force schon damit beauftragt gewesen, Zwischenfälle« (incidents) zu lösen, bei denen es etwa um rückständige Bonuszahlungen für Ärzt:innen, die Covid-19-Patient:innen betreuen, um die Versorgung von Schüler:innen mit warmen Mahlzeiten und um die Behebung von Defiziten bei bestimmten Medikamenten ging. Zu den vorrangigen Aufgaben gehört zum Beispiel die Koordination der staatlichen Unterstützung für die neun wirtschaftlich schwächsten Regionen Russlands. Die Hauptidee hinter dem Koordinationszentrum ist es, die Risiken, die durch die von Putin geschaffene Machtvertikale entstehen, die wiederum durch starre Befehlsketten von oben nach unten gekennzeichnet ist, durch eine horizontalere, projektbasierte Arbeit zwischen Exekutivbeamten und föderalen Behörden abzumildern. All dies soll dazu beitragen, ein »analytisches Ökosystem« zu schaffen, das die üblichen Informationsbarrieren zwischen den vertikalen, siloartig organisierten Ministerien und Exekutivbehörden aufhebt.

Mischustins »Soziale Netzwerke« und Russlands datengetriebener Autoritarismus

Eine der größten Herausforderungen für das Funktionieren des Koordinationsrats ist der »digitale Feudalismus«: Innerhalb der Exekutive existieren mehr als 800 Informationssysteme mit geringer Kompatibilität, die von Bürokraten keineswegs mit objektiven Zahlen, sondern oft mit manipulierten Daten gefüttert werden. Mischustins Herangehensweise ist angelehnt an die Idee des »Staates als Plattform«, die von Alexej Kudrins Zentrum für Strategische Entwicklung (CSR) vorgeschlagen wurde: Ein solcher datengesteuerter Staat würde als Hauptintegrator fungieren, der die nahtlose Kommunikation zwischen Bürger:innen, Unternehmen und staatlichen Exekutivorganen gewährleistet. Doch bis jetzt bleiben Daten, die von einigen schon als Russlands »neues Öl« beschworen werden, »schmutziges Öl«: 2019 verabschiedete die Regierung das Nationale System für Datenmanagement (NSUD), um Hunderte von staatlichen Datenbanken zu synchronisieren und einheitliche Regeln für die Sammlung, Bearbeitung, Speicherung und Nutzung dieser Daten zu schaffen. Regionale Pilotprojekte haben jedoch große Probleme bei der Koordination zwischen Exekutivorganen mit funktionalen Überschneidungen offenbart.

Weitaus erfolgreicher ist die Plattform für öffentliche Dienstleistungen Gosuslugi, die bis Ende 2020 126 Millionen Nutzer:innen erreichte, wobei sich allein im Jahr 2020 insbesondere aufgrund der Pandemie 24 Millionen registriert haben. Rund 70 Millionen Russ:innen sind verifizierte Nutzer:innen des Einheitlichen Systems zur Identifizierung und Authentifizierung (ESIA) und damit berechtigt, E-Government-Dienste vollständig online über Gosuslugi zu nutzen. Durch die Verknüpfung von verifizierten Gosuslugi-Benutzerprofilen mit den vielfältigen staatlichen Datenbanken in einer einheitlichen Datenstruktur, die zwischen 20 und 60 Kategorien von Bürgerdaten umfasst, wird ein »Digitales Bürgerprofil« der russischen Regierung zunehmend einen nahtlosen Datenfluss zwischen Staat, Bürger:innen und Unternehmen (vor allem Banken) ermöglichen. Russland ist zwar noch weit von Chinas Sozialkredit-System entfernt, dennoch wird diese zunehmende Zentralisierung von Daten eine Fülle von Möglichkeiten zur Überwachung der Bürger:innen schaffen. Das Koordinationszentrum ist als regierungsinterner Think-Tank aber auch dazu aufgerufen, die Rückkopplungsmechanismen mit der Bevölkerung zu verbessern; zu diesem Zweck wird in allen föderalen Subjekten die Plattform Gosuslugi – Reschaem Wmeste (»Wir entscheiden gemeinsam«) eingeführt. Die Verknüpfung von Bürgerbeschwerden mit E-Government-Dienstleistungen schafft nicht nur ein Frühwarnsystem für Unzufriedenheit in der Bevölkerung, sondern ist auch eine sinnvolle Ergänzung zu den Zentren für Regionalmanagement (TsUR) des Kremls, die Beschwerden über regionale Behörden über soziale Medien sammeln. Untersuchungen zeigen, dass diese Art von digitaler, partizipativer Regierungsführung bei Wahlen mehr Stimmen für den Amtsinhaber generiert.

Die erweiterten Befugnisse des Präsidenten im Zuge der Verfassungsänderungen von 2020 verschärfen die »schlechte Regierungsführung«, die mit Überzentralisierung und personaler Herrschaft einhergeht. Im Vorfeld des langen Wahlzyklus der Dumawahl 2021 und der Präsidentschaftswahl 2024 sollen Mischustins administrative Kniffe die Kontroll- und Steuerungsrisiken (wie etwa Fehlentscheidungen durch mangelnde oder fehlerhafte Informationen) ausgleichen, die mit der Annullierung von Putins bisherigen Amtszeiten durch eine weitere Personalisierung der Macht im Rahmen der Verfassungsreform einhergehen.

Lesetipps / Bibliographie

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