Die Rolle Transnistriens im Diskurs des Präsidentschaftswahlkampfs in der Republik Moldau

Von Elia Bescotti (Leibniz-Institut für Ost- und Südosteuropaforschung, Regensburg)

Zusammenfassung
Im Präsidentschaftswahlkampf 2020 in der Republik Moldau thematisierten die meisten Oppositionskandidat/innen den ungelösten Konflikt mit der abtrünnigen Region Transnistrien im Zusammenhang möglichen Wahlbetrugs. Keine Rolle spielte ihre »geopolitische« Bedeutung als möglicher Kanal für russische Beeinflussung. Vielmehr betonten einige Kandidat/innen das Risiko, das durch Bestechung sowie organisierte Transfers moldauischer Wähler/innen aus Transnistrien gegeben sei – diese Faktoren galten vor der Wahl als entscheidend für den Ausgang der Stichwahl zwischen dem amtierenden Präsidenten Igor Dodon und Maia Sandu.

Einleitung

Die Pridnestrowische Moldauische Republik hat ihre Unabhängigkeit von der Republik Moldau zwar erklärt, wird international jedoch nicht als Staat anerkannt. Das am linken Ufer des Flusses Dnister eng an die ukrainische Grenze gedrängt gelegene separatistische Gebiet führte 1992 einen kurzen Krieg gegen Moldau. Der Status der Region ist bis heute umstritten, es wurde noch keine endgültige Vereinbarung erzielt. Bis ein Kompromiss gefunden ist, überwacht eine gemeinsame Friedenstruppe aus russischem, moldauischem und transnistrischem Militär die entlang des Flusses verlaufende Waffenstillstandslinie. Russlands militärische Präsenz in der Region betrachten die Behörden von Tiraspol, der Hauptstadt der Pridnestrowischen Moldauischen Republik, als Garantie für ihre Sicherheit. Das verstärkt den russischen Einfluss auf die moldauische Außenpolitik, die durch Moldaus starke Abhängigkeit von russischen Energielieferungen ohnehin eingeschränkt ist.

Vor diesem Hintergrund fanden die Präsidentschaftswahlen 2020 in der Republik Moldau statt. Der ungelöste Konflikt mit Transnistrien war dabei allerdings weniger – wie meist dargestellt – als Teil einer geopolitischen Konfrontation relevant, sondern spielte vor allem im Zusammenhang mit Wahlbetrug und Stimmrechten eine Rolle, und zwar in so großem Ausmaß, dass dieser Faktor als möglicher Game Changer für die Entscheidung über den Sieger im zweiten Wahlgang galt (https://www.euronews.com/2020/10/31/could-the-russia-backed-breakaway-region-of-transnistria-swing-moldova-s-election-for-igor). Letztendlich war dies nicht der Fall. Die ehemalige Weltbank-Ökonomin Maia Sandu gewann die Stichwahl und wurde zur ersten weiblichen Präsidentin der Republik Moldau gewählt.

Der Wahlkampf

Bei den moldauischen Präsidentschaftswahlen 2020 traten acht Kandidat/innen an. Die besten Ergebnisse erzielten in der ersten Runde: Maia Sandu, ehemalige Ministerpräsidentin und Kandidatin der Partei Aktion und Solidarität (PAS), einer sozialliberal und proeuropäisch ausgerichteten Mitte-Rechts-Partei (36,16 Prozent); Igor Dodon, amtierender Präsident und unabhängiger Kandidat, ihn unterstützte die links ausgerichtete prorussische Partei der Sozialisten der Republik Moldau (PSRM) (32,61 Prozent); der Bürgermeister von Bălți, Renato Usatîi, er gehört der prorussischen Antikorruptionsplattform Unsere Partei an (16,90 Prozent); und Violeta Ivanov, Kandidatin der Shor-Partei (benannt nach ihrem Vorsitzenden Ilan Shor) aus dem prorussischen Mitte-Links-Spektrum (6,49 Prozent). Da kein/e Kandidat/in die absolute Mehrheit erhielt, traten Sandu und Dodon in einem zweiten Wahldurchgang gegeneinander an, der von Sandu mit einer deutlichen Mehrheit von 57,72 Prozent und 943.006 Stimmen gewonnen wurde. Die Demokratische Partei Moldaus (PDM), die früher von dem entmachteten Oligarchen Vladimir Plahotniuc geleitet wurde und die momentan in einer Koalition mit der PSRM regiert, stellte keinen Kandidaten auf. Dies führte zu dem Vorwurf, Plahotniuc habe bei den Wahlen heimlich Igor Dodon unterstützt.

Der amtierende Präsident Dodon war das Ziel der meisten Attacken der anderen Kandidat/innen. Die Vorwürfe reichten von Begünstigung und Ausnutzung der korrupten Strukturen im Land bis zu der Behauptung, der Präsident sei eine Marionette der Oligarchen und/oder des Kreml. Die Mitte-Rechts-Kandidat/innen warfen Dodon seine prorussische Haltung vor; diese seien der Grund für die unterkühlten diplomatischen Beziehungen Moldaus zu seinen Nachbarländern Rumänien und Ukraine, deren staatliche Stellen Dodon nie besucht hat. An Covid-19 machten sich die Hauptvorwürfe gegen Dodon nicht fest, obwohl die derzeitige epidemiologische Situation in Moldau von positiven Entwicklungen weit entfernt ist.

Anhand des Konflikts in Transnistrien können die Angriffe gut erklärt werden. Tudor Deliu, der Kandidat der Liberaldemokratischen Partei Moldaus (PLDM, proeuropäisch, Mitte-Rechts, 1,37 Prozent) kritisierte Dodon für die Anerkennung, die dieser dem Towarischtsch President Vadim Krasnoselsky, dem aktuellen Präsidenten der Pridnestrowischen Moldauischen Republik, zukommen lasse. Auf einem Treffen in Chisinau im Juli hatte Dodon sich auf Krasnoselsky tatsächlich als auf den »Präsident Pri­dnestrowiens« bezogen (http://president.gospmr.org/press-sluzhba/novosti/chetirechasovaya-vstrecha-na-visshem-urovne-zavershena-prezidenti-podveli-itogi.html). Deliu kritisierte eine solche Rücksicht als falschen Schritt zur Konfliktlösung (https://moldova.europalibera.org/a/30892266.html). Auch andere proeuropäische Kandidat/innen, etwa der ehemalige Stellvertretende Ministerpräsident Andrei Năstase (Plattform für Würde und Wahrheit, PAS, 3,26 Prozent) und Dorin Chirtoacă (Einheitsbewegung, 1,20 Prozent), kritisierten Dodon für seine unterwürfige Haltung gegenüber Moskau und Tiraspol stark.

Renato Usatîi versuchte, aus den prorussischen Stimmen gegen den aktuellen Präsidenten Kapital zu schlagen, indem er zur Diskreditierung Dodons die Plahotniuc-Karte spielte; außerdem setzte er auf eine starke Antikorruptions-Rhetorik und betonte die Notwendigkeit, das Parlament aufzulösen und Neuwahlen abzuhalten (http://alegeri.md/w/Declara%C8%9Biile_lui_Renato_Usat%C3%AEi_%C3%AEn_perioada_alegerilor_preziden%C8%9Biale_din_2020). Laut Igor Shornikov, einem Experten aus Tiraspol, geht die größte Gefahr für Dodon von Usatîi aus, indem dieser dem amtierenden Präsidenten die grundsätzliche Unterstützung durch prorussische Wählerstimmen entzogen habe. Dies zeigte sich ebenfalls in den Ergebnissen der ersten Runde (http://www.infotag.md/rebelion-en/287762/).

Und schließlich warnte Maia Sandu gemeinsam mit den anderen Kandidat/innen vor der Möglichkeit weitreichenden Wahlbetrugs im Zuge der Abstimmung – eine Behauptung, die Igor Dodon zurückwies. Schon vor dem Wahlkampf äußerte Sandu, Dodon habe versucht, die Wahl zu stehlen, und warf ihm vor, sich mithilfe der korrupten Institutionen im Land Vorteile zu verschaffen. Diese Sorge wurde in den vergangenen Monaten auch von Expert/innen aus Moldau sowie in gemeinsamen Analysen der EU und Russlands geäußert (http://eu-russia-expertnetwork.eu/en/analytics/secrieru-moldova, http://ipre.md/2020/04/28/policy-brief-the-2020-presidential-elections-key-challenges-for-the-electoral-process-in-moldova/?lang=en).

Die Lösungsvorschläge der Kandidaten

Jede/r Kandidat/in musste zur Lösung des Konflikts Stellung beziehen. Dabei etablierte sich die Praxis, eher allgemeine Stellungnahmen als konkrete Lösungsvorschläge zu formulieren. Und so fällt es tatsächlich ziemlich schwer, einen konkret ausgearbeiteten Plan für die Lösung des Konflikts ausfindig zu machen. Alle Kandidat/innen äußern jedoch ihre Bereitschaft, einen solchen zu realisieren.

Sandu zeigte sich in diesem Zusammenhang in Bezug auf die diplomatischen Bemühungen zuversichtlich und sprach dem derzeitigen Verhandlungsformat ihr Vertrauen aus – das Wiener 5+2-Format, an dem sich neben Moldau, der Pridnestrowischen Moldauischen Republik, Russland, der Ukraine und der OSZE als Beobachter auch die EU und die USA beteiligen.

Deliu betonte die Notwendigkeit, das Linksufer des Dnister zu entmilitarisieren und auf die Umsetzung des von der Russischen Föderation auf dem Istanbul-Gipfel 1999 unterzeichneten Dokuments zu dringen. Dieses sieht den vollständigen Abzug der Truppen der Russischen Föderation aus der PMR-kontrollierten Region sowie die Räumung und Vernichtung von in Cobasna nahe der ukrainischen Grenze gelagerter Militärausrüstung vor. Wie andere auch unterstrichen Sandu und Chirtoacă das von dem Depot ausgehende Gefahrenpotential, das die Explosion im August 2020 in Beirut deutlich gezeigt habe.

Usatîi zufolge wird eine Reintegration des Landes gelingen, wenn Moldau die notwendigen Reformen umsetzt und eine sozioökonomische Entwicklung erfährt, die attraktiv genug ist, um Tiraspol wieder in die Republik Moldau zu integrieren. Gelingt es den moldauischen Politikern nicht, gute Lebensverhältnisse für die Bevölkerung rechts des Dnister sicherzustellen, so wird die Bevölkerung links des Dnister kein Interesse an einer Reintegration mit Moldau haben, so Usatîi. Usatîi brachte außerdem seine Enttäuschung über die bestehenden Verhandlungsformate zum Ausdruck, denen es in 30 Jahren nicht gelungen sei, eine konkrete Lösung des Konflikts zu finden.

Năstase war zuversichtlich, dass die Wiedervereinigung des Landes über eine Ausweitung der diplomatischen Anstrengungen mit den ausländischen Partnern sowie durch die Betonung der Notwendigkeit von Demokratisierung, Entmilitarisierung und Entkriminalisierung in der Region Transnistrien gelingen kann; jegliche Art von Föderalisierung lehnte er dabei allerdings ab. Dodon setzt auf eine solche föderale Lösung, die allerdings auf beiden Seiten des Dnister wenig Unterstützung erfährt (http://mfa-pmr.org/ru/FBd). Die meisten anderen Kandidat/innen halten stattdessen eine territoriale Autonomie im Rahmen der moldauischen Verfassung, ähnlich wie sie in Gaugasien existiert, für eine tragfähige Lösung.

Die Kandidaten der Einheitsbewegung Țîcu und Chirtoacă kritisierten die Verhandlungsformate und zogen die Aufnahme des linken Dnister-Ufers in ein vereinigtes Großrumänien in Betracht. Ihre jeweiligen Ansätze waren dabei unterschiedlich: Țîcu rechtfertigt die Vereinigung Rumäniens und Moldaus mit dem Einigungsvertrag von 1918, wobei ihm bewusst ist, dass die transnistrische Region damals nicht innerhalb der rumänischen Grenzen lag. Außerdem zieht er die Möglichkeit eines Anschlusses der Pridnestrowischen Moldauischen Republik an die Ukraine in Betracht. Chirtoacă zufolge wird es eine Lösung des Konflikts erst nach einer Vereinigung geben, da diese Rumänien mehr Unterstützung und eine stärkere Position in den Verhandlungen verschaffe. Außerdem sei Rumänien angesichts seiner Entwicklung und der dortigen Lebensverhältnissen ein Anziehungspol für Transnistrien.

Abschließend muss betont werden, dass die Behörden der Pridnestrowischen Moldauischen Republik keine der von den moldauischen Präsidentschaftskandidat/innen vorgeschlagenen Lösungen akzeptieren. Letztgenannter Vorschlag, eine Vereinigung Moldaus und Rumäniens, löste exakt als solcher zusammen mit anderen Faktoren 1992 den Krieg zwischen den beiden Dnister-Ufern aus. Auch einen Chisinau untergeordneten Autonomie-Status lehnt Tiraspol ab, denn auch ohne internationale juristische Anerkennung verfügt es aktuell über mehr Souveränität und Unabhängigkeit. Obwohl die Pridnestrowische Moldauische Republik etliche Male ihren Willen bekundet hat, sich ähnlich wie die Krim der Russischen Föderation anzuschließen, würden die separatistischen Behörden auch einem gleichberechtigten Status mit Moldau, etwa in Form einer losen Konföderation oder einer Staaten-Union, zustimmen, da eine Unterordnung Tiraspols unter Chisinau so ebenfalls verhindert würde.

Das transnistrische Votum

Ein Wahlkampfthema war das Stimmrecht der Bevölkerung links des Dnister bzw. die Frage, wie diese Menschen ihre Stimmen abgeben könnten. Im Einzelnen ging es dabei um die Erreichbarkeit der Wahllokale, um die Frage, wie die Wahlberechtigten zu den Wahllokalen transportiert werden könnten und wie viele von ihnen sich an den moldauischen Präsidentschaftswahlen beteiligen würden und um möglichen Wahlbetrug.

Die Behörden der Pridnestrowischen Moldauischen Republik erlauben Chisinau nicht, auf transnistrischem Territorium Wahllokale zu errichten und Wahlkampf zu führen. Daher stellte Moldau rechts des Dnister, nahe der Verwaltungsgrenze, Wahllokale zur Verfügung. Insgesamt schuf die Zentrale Wahlkommission 42 Wahlkreise, elf mehr als bei den vorangegangenen Präsidentschaftswahlen. Die meisten der Mitte-Rechts-Kandidat/innen betrachteten die Einrichtung dieser Wahllokale als problematisch, und zwar a) wegen deren überproportional hohen Anzahl, b) wegen der Unmöglichkeit, in der Region Wahlkampf zu führen, und vor allem c) wegen des hohen Risikos von Wahlbetrug im Rahmen der Stimmabgabe.

Am häufigsten stellten die Kandidat/innen den Transfer moldauischer Bewohner/innen Transnistriens zu den Wahllokalen am Rechtsufer infrage, wobei das Problem war, dass kein öffentlicher und offener Transport organisiert wurde. Die meisten proeuropäischen Kandidaten bezeichneten die Transporte vielmehr als zweifelhaft, von transnistrischen Behörden und ökonomischen Gruppen gesteuert (insbesondere von der Sheriff Corporation, die starken Einfluss auf die transnistrische Politik haben soll) und darauf ausgerichtet, Dodons Sieg bei der Präsidentschaftswahl zu befördern. Maia Sandu erklärte öffentlich, ihren Quellen zufolge sei Dodon bereit, für das Votum etwa zwei Millionen Euro auszugeben und dabei jedem Wähler für die Stimmabgabe zu seinen Gunsten grob geschätzt 20 bis 30 Euro zu zahlen (https://moldova.europalibera.org/a/maia-sandu-se-spune-c%C4%83-sociali%C8%99tii-ar-cheltui-dou%C4%83-milioane-de-euro-pentru-a-cump%C4%83ra-voturi-pentru-dodon-din-transnistria-(partea-i)/30804246.html).

Der massive Transport moldauischer Staatsbürger/innen aus Transnistrien wurde bereits bei den Präsidentschaftswahlen 2016 (die Igor Dodon mit einem knappen Vorsprung von rund 67.000 Stimmen gewann) und den Parlamentswahlen 2019 bemängelt, bei denen 37.000 Inhaber moldauischer Pässe für PSMR, PDM und Shor-Partei stimmten (https://jamestown.org/program/transnistrian-voting-raid-a-bad-precedent-for-moldova-and-other-conflict-theaters/).

So viele Stimmen aus dieser Region hatte es bisher noch nicht gegeben, durchschnittlich beteiligten sich üblicherweise nur rund 10.000 Einwohner Transnistriens an moldauischen Wahlen, allerdings mit steigender Tendenz. 2016 wurden bei den Wahlen 16.788 transnistrische Stimmen gezählt – nicht genug, um Dodons Sieg im ersten Wahlgang herbeizuführen.

Die Annahme, die transnistrischen Wähler würden zwischen 50.000 und 100.000 Stimmen für die Sozialisten abgeben, bewahrheitete sich in der ersten Runde der Präsidentschaftswahlen 2020 nicht. Insgesamt beteiligten sich nur 14.296 Einwohner/innen Transnistriens an der Wahl. Bei der Stichwahl stieg die Anzahl der abgegebenen Stimmen in Transnistrien auf 31.072, was etwa den historischen Durchschnitt und den Wahlen im Jahr 2019 widerspiegelt. 74,25 Prozent der transnistrischen Wähler/innen (10.595) stimmten in der ersten Runde für Dodon, Maia Sandu erhielt 13,34 Prozent (1.904) Zustimmung von ihnen.

In der zweiten Runde gewann Dodon 85,8 Prozent (26.659) der Stimmen am linken Ufer. Für Sandu hingegen stimmten lediglich 14,2 Prozent (4.413), womit sie immerhin das Ergebnis der ersten Runde verdoppeln konnte.

Schließlich ist erwähnenswert, dass Dodon in der ersten Runde in Gaugasien, dem anderen Autonomiegebiet Moldaus, 84,35 Prozent (45.281) Zustimmung erreichte, wobei der zweitplatzierte Kandidat Renato Usatîi 10,78 Prozent der Stimmen (5.785) bekam. Sandu erhielt hier 2,05 Prozent Zustimmung, das sind sogar weniger Stimmen als links des Dnister für sie abgegeben wurden (1.099). Bei der Stichwahl erzielte Dodon dort 94,59 Prozent (64.495 Stimmen), während Sandu nur auf 5,41 Prozent (3.689 Stimmen) der Wählerschaft kam (http://alegeri.md/w/Rezultatele_alegerilor_preziden%C8%9Biale_din_2020).

Die Bedeutung der Diaspora

Eher als die Bewohner/innen Transnistriens ist daher tatsächlich die Diaspora in der Lage, das Wahlergebnis zu wenden. In den meisten Ländern stieg die Zahl der für die Präsidentschaftswahl 2020 registrierten Diaspora-Wähler im Vergleich zu 2019 um über 100 Prozent, wobei sich der Anstieg der Registrierungen in der Russische Föderation auf 978,6 Prozent belief (6.202, das sind 5.627 mehr als 2019, http://alegeri.md/w/Votarea_peste_hotarele_Republicii_Moldova#.C3.8Enregistrarea_prealabil.C4.83_2020). Im Zuge des Wahlkampfs wurden die Stimmen der in Russland lebenden Moldauer/innen als sehr anfällig für Betrug und Manipulation dargestellt, außerdem galt es als wahrscheinlich, dass sie Dodon zugutekommen würden.

Insgesamt entfielen überwältigende 70,10 Prozent (104.605) der in der ersten Runde abgegebenen 149.020 Diaspora-Stimmen auf Sandu, zweitplatziert war Usatîi, er erhielt 17,25 Prozent (25.737) der Stimmen. Dodon landete mit nur 3,65 Prozent der Stimmen (5.439) auf dem dritten Platz. Außerdem ist wichtig, dass die russische Diaspora mehrheitlich für Usatîi votierte, der 43,05 Prozent (2.413) der Stimmen erhielt – sie stehen einem Stimmenanteil von 40,9 Prozent für den amtierenden Präsidenten (2.292) gegenüber.

Das Wahlverhalten der Diaspora bewirkte einen Platzwechsel der Kandidat/innen Dodon und Sandu gegenüber den Prognosen – bei einem Vorsprung der PAS-Kandidatin von nur 47.769 Stimmen erreichten beide den zweiten Wahlgang. Die Stimmen der Diaspora waren für Sandu in beiden Runden von zentraler Bedeutung. In der Stichwahl gewann Sandu mit einer überragenden Mehrheit von 92,94 Prozent (243.605 Stimmen) unter den Moldauer/innen, die im Ausland abstimmten. Dodon erreichte lediglich 7,06 Prozent oder 18.498 Stimmen. Dodon erklärte nach dem ersten Wahlgang, – ähnlich wie die proeuropäischen Kandidat/innen in Bezug auf Transnistrien – es hätten organisierte Transporte der Diaspora zu den Wahllokalen stattgefunden (https://newsmaker.md/ro/dodon-sustine-ca-diaspora-a-fost-adusa-in-mod-organizat-la-sectiile-de-votare-daca-noi-vom-arata-video-si-foto-cum-se-aduc-cu-autobuzele/).

Schluss

Die Präsidentschaftswahlen in der Republik Moldau gingen im Jahr 2020 weniger knapp aus, als vor der Wahl vermutet. Die Stimmen, die in Transnistrien abgegeben wurden, waren nicht wahlentscheidend. Vor der Wahl noch hatte Sandu gewarnt, im Fall von Dodons Wahlsieg würde sie die Moldauer/innen zu Protesten gegen jede Art von Betrug aufrufen (https://www.euronews.com/2020/10/25/moldova-is-at-a-crossroads-leader-of-pro-european-opposition-maia-sandu-tells-euronews). Auch der Leiter des russischen Auslandsgeheimdiensts Sergej Naryschkin erwartete ein solches Szenario (https://tass.com/politics/1214265).

Ins Narrativ des Wahlbetrugs passt die Rolle Transnistriens gut, viel besser als in das üblicherweise betonte geopolitische Narrativ. Die prorussischen Kandidat/innen konnten in der ersten Runde zwar die absolute Mehrheit der abgegebenen Stimmen auf sich versammeln (59,55 Prozent, 755.346 Stimmen), dank ihrer Antikorruptions-Rhetorik erwiesen sich Sandu und Usatîi jedoch beide als starke Kandidat/innen. Beide sind außerdem an einer Auflösung des Parlaments interessiert. Einige Tage nach der ersten Runde traf Usatîi sich jedoch mit Sandu und gab danach die Wahlempfehlung an seine Wähler/innen ab, nicht für Dodon zu stimmen (https://ru1.md/blog/entry/renato-usatyj-kak-ya-mogu-obsuzhdat-s-dodonom-borbu-s-korrupciej-simvolom-k). Die Lage nach der ersten Runde war deutlich offener für politische Spiele als im Jahr 2016, als Usatîi den Kandidaten Dodon wegen dessen geopolitischer Ausrichtung unterstützte. Die Themen Antikorruption und Wahlbetrug bestimmten die Lage allerdings nach wie vor – mit Bezug auf die Diaspora setzte diesmal auch Dodon auf sie.

Transnistrien im Zusammenhang mit Wahlfälschungen zu thematisieren, trägt zugegebenermaßen nicht zu einer Verbesserung der Beziehungen zwischen den beiden Dnister-Seiten bei – vor allem mit Blick darauf, dass die Stimmen aus Transnistrien zwar wichtig für das Wahlergebnis, aber letztlich nicht entscheidend waren. Obwohl das beste Mittel zur Lösung des Konflikts nach wie vor die Diplomatie ist und die historischen Beziehungen zwischen Chisinau und Tiraspol ein Kriegsszenario zwischen beiden Ufern unwahrscheinlich erscheinen lassen, sind angesichts der politischen Entwicklungen in der Republik Moldau eine weitere Isolierung der Pridnestrowischen Moldauischen Republik und eine Konsolidierung der russischen Präsenz absehbar. Dies wird sich wahrscheinlich auch auf die anstehenden Wahlen des Obersten wie der lokalen Sowjets auswirken.

Übersetzung aus dem Englischen von Sophie Hellgardt

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Analyse

Postsowjetische De-facto-Regime

Von Andreas Heinemann-Grüder
Weltweit gibt es circa 25 De-facto-Regime, fünf davon im postsowjetischen Raum: Abchasien, Südossetien, Transnistrien, Bergkarabach und den russisch kontrollierten Donbas. De-facto-Regime resultieren aus einer Pattsituation. Das »Mutterland« ist dabei nicht mehr in der Lage, die Souveränität über die Bevölkerung und das Territorium des De-facto-Regimes auszuüben, während ein Patron das Überleben sichert und es faktisch, bisweilen auch de jure, anerkennt. Die Gewalt schwelt über längere Phasen mit geringer Intensität, periodisch flammt sie wieder auf, um die Eskalationsbereitschaft des Gegners zu testen. Jenseits der Bewahrung des Status quo wird von der internationalen Gemeinschaft kaum in Konfliktregelung investiert. (…)
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