Russlands Energiestrategie bis zum Jahr 2035: Business as usual

Von Roland Götz (Berlin)

Zusammenfassung
Nach jahrelangen Diskussionen hinter den Kulissen hat Russlands Regierung Anfang April 2020 die »Energiestrategie bis 2035« gebilligt. Ihre Verwirklichung soll Russlands Position auf den Weltenergiemärkten festigen und die Versorgung des Binnenmarkts gewährleisten. Fossile Energieträger sollen bis 2035 einen Anteil von über 92 % an der Primärenergieerzeugung und von 84 % an der Binnenversorgung behalten. Nichttraditionelle erneuerbare Energien finden keine Beachtung. Die Energiestrategie unterstützt keine aktive Klimapolitik, sie rechtfertigt eine aggressive Energieaußenpolitik, wie sie von Rosneft-Chef Igor Setschin vorangetrieben wird.


Die vierte Energiestrategie Russlands

Im nachsowjetischen Russland wurde 1995 mit geplanter Laufzeit bis 2010 eine erste Energiestrategie beschlossen. 2003 folgte eine zweite, die bis 2020 berechnet war sowie 2009 eine dritte mit Geltung bis 2030. Eine vierte, bis 2035 konzipierte Energiestrategie legte das Energieministerium nach zweijähriger Vorarbeit 2015 vor. Sie wurde danach mehrfach umformuliert, was auf Meinungsverschiedenheiten der mit ihr befassten Ämter und Interessengruppen hindeutet, die aber nicht öffentlich ausgetragen wurden. Eine letzte Fassung wurde Anfang April 2020 von der Regierung verabschiedet.

Die »Energiestrategie der Russischen Föderation bis 2035« (https://minenergo.gov.ru/node/1920) stützt sich auf Prognosen weltwirtschaftlicher Entwicklungen – vor allem des Ölpreises und der Nachfrage nach Energieträgern auf dem Weltmarkt – und spiegelt gleichzeitig die geschäftlichen Ziele der großen Energieunternehmen der Kohle-, Öl- und Gaswirtschaft wider. In ihr wird ein »niedriges« Szenario, das von relativ niedrigen Wachstumsraten der Weltnachfrage nach Energie ausgeht, von einem »hohen«, das mit höherem Wachstum der weltweiten Energienachfrage gleichzeitig die erwünschte Entwicklung repräsentiert, unterschieden. Dabei differieren in beiden Szenarien die für Russland angenommenen Raten des Wirtschaftswachstums kaum und entsprechen mit rund 3 % pro Jahr denen, die in der Wirtschaftsplanung bis 2036 vorgesehen waren – und wahrscheinlich nicht erreicht werden (siehe dazu den Beitrag von Götz in den Russland-Analysen 376).

Dem Energiesektor wird die Aufgabe gestellt, die soziale und wirtschaftliche Entwicklung zu fördern sowie die Position Russlands auf den Weltenergiemärkten zumindest zu erhalten und womöglich zu stärken. Wie auch schon ihre Vorgänger verlangt die neue Energiestrategie die größtmögliche Ausschöpfung des Exportpotentials der fossilen Energierohstoffe Kohle, Erdöl und Erdgas. Außerdem erläutert sie ausführlich die Versorgung des Inlandsmarkts mit Energie aus »konventionellen« Quellen, womit die fossilen Energieträger sowie die Primärstromerzeugung (also nicht die Elektrizitätsgewinnung in Kohle- und Gaskraftwerken) in Kernkraftwerken und großen Wasserkraftwerken gemeint sind. Die »nichtkonventionellen« Energiequellen – erneuerbare Energien mit Ausnahme der großen Wasserkraftwerke – werden übergangen, ihr Modernisierungspotenzial wird nicht gewürdigt (zur Terminologie Tabelle 1 auf S. 15). Die Energiestrategie formuliert damit die Interessen der etablierten privaten, staatlichen und halbstaatlichen Energiekonzerne, die mit dem Bestreben der politischen Führung zur Positionierung Russlands als Energiegroßmacht kompatibel sind. Das von der Politik ebenfalls deklarierte Ziel der Diversifizierung der Wirtschaft und damit der Verringerung der Abhängigkeit der eigenen Volkswirtschaft von der Weltkonjunktur der Rohstoffpreise sowie der Weltnachfrage nach fossilen Energieträgern wird in der Energiestrategie zwar erwähnt, aber nicht durch Maßnahmen unterlegt.

Förderung, Binnenverbrauch und Export der fossilen Energieträger

Förderung

Zwischen 1990 und 2000 war als Folge des Niedergangs der Schwer- und Rüstungsindustrie und der niedrigen Nachfrage auf den Weltmärkten die Förderung von Kohle, Erdöl und Erdgas zurückgegangen. Erst nach 2005 konnte das Förderniveau von 1991 wieder erreicht werden (Grafik 1 auf S. 13). 2019 rangierte Russland bei der Förderung von Erdöl und Erdgas nach den USA an zweiter Stelle in der Welt. Bei der Kohleförderung nahm es 2018 hinter China, Indien, den USA, Indonesien und Australien den sechsten Platz ein. Diese Rangfolge soll nicht nur beibehalten, sondern möglichst zu Gunsten Russlands verbessert werden (Tabelle 3 auf S. 17).

Die Kohleförderung war zwischen 2000 und 2018 um 70 % angestiegen. Ihr Volumen soll im Jahr 2035 gegenüber 2018 im niedrigen Szenario um 10 %, im hohen Szenario um 52 % steigen (Tabelle 2 auf S. 16). Ähnliche Werte waren bereits in einem Programm für die Entwicklung der Kohleindustrie bis 2035 enthalten gewesen, das Ende Februar 2020 von der Regierung beschlossen worden war (https://minenergo.gov.ru/node/433).

Auch die Förderung von Erdgas hatte ab 1999 wieder zugenommen, allerdings in weit geringerem Tempo als die Kohleförderung. Erst ab 2017 stieg sie dank der Inbetriebnahme der riesigen Gasfelder auf der Jamal-Halbinsel und der Fertigstellung der zugehörigen Gasfernleitungen und der Anlagen für die Erzeugung von Flüssiggas deutlich an. Je nach Szenario wird sie sich 2035 gegenüber 2018 zwischen 18 und 38 % erhöht haben (Tabelle 2 auf S. 16).

In der Energiestrategie wird im günstigen Szenario eine bis 2035 andauernde Konstanz des Fördervolumens von Erdöl und im ungünstigen Fall dessen Rückgang um 12 % angenommen (Tabelle 2 auf S. 16). Auch wissenschaftliche Prognosen (Henderson und Grushevenko sowie Kapustin und Gruzhevenko in der Bibliografie) kommen zum Ergebnis, dass die Erdölförderung in Russland um 2025 ihr Maximum erreicht haben wird. Unabwendbar wird die Ölförderung aus den alten, weitgehend erschöpften Ölfeldern in der Wolga-Ural-Region und in Westsibirien zurückgehen. Neu zu erschließende Felder in Ostsibirien und in den arktischen Küstengewässern können diesen Niedergang nur zum Teil aufhalten. Die Ausweitung der bislang geringen Förderung aus schwierig zu erschließenden Vorkommen sowie Offshore-Vorkommen wird derzeit durch die von den USA verhängten Sanktionen stark behindert, da sich westliche Ölfirmen aus der Lieferung der dafür benötigten Technologien, die in Russland noch nicht verfügbar sind, zurückgezogen haben. Seit den 1990er Jahren und bis 2014 importierte die Ölindustrie 80 % ihrer Ausrüstungen aus dem Ausland. Dieser Anteil ist wegen der Sanktionen auf 50 % gefallen. Im Wege der Importsubstitution können einheimische Firmen nun erstmals auch Ölleitungen mit großem Durchmesser herstellen und entwickeln die bislang in Russland nicht eingeführten Verfahren der hydraulischen Frakturierung (»Fracking«), die zur geplanten Erschließung der in Sibirien gelegenen Baschenow-Schieferölvorkommen erforderlich sind. Dort und in einer Reihe von Offshore-Vorkommen waren ursprünglich Joint-Ventures mit westlichen Ölkonzernen geplant gewesen, die nun auf unbestimmte Zeit aufgeschoben sind.

Binnenverbrauch

Russland importiert gegenwärtig und auch zukünftig Kohle, Erdöl und Erdgas sowie Elektrizität im Umfang von 2 – 3 % seines Binnenverbrauchs an Energie. Somit wird der weit überwiegende Anteil des Energieverbrauchs des Landes aus eigener Förderung und Produktion bestritten.

Die Energiestrategie sieht vor, dass Russlands Energiebinnenverbrauch 2035 gegenüber 2018 je nach Szenario entweder um 6 % höher oder um 2 % geringer sein wird, also jährlich im Durchschnitt um 0,3 % pro Jahr steigt oder um 0,1 % sinkt (Tabelle 3 auf S. 17). Eine solche Beinahe-Stagnation des Energieverbrauchs impliziert, dass der Zuwachs der Wirtschaftsleistung, der in beiden Szenarien mit jahresdurchschnittlich rund 3 % angesetzt ist, fast ganz von einer Erhöhung der Energieeffizienz bzw. der Abnahme der Energieintensität der Produktion begleitet wird. Dagegen prognostizieren Mitarbeiter des Energieforschungsinstituts der Russischen Akademie der Wissenschaften bis 2040 eine jahresdurchschnittliche Zunahme des Energieverbrauchs um 0,7 % (Makarov, Mitrova, Kulagin in der Bibliografie), was realistischer erscheint, wenn man nicht eine derart hohe Steigerung der Energieeffizienz wie in der Energiestrategie erwartet.

Für den Einsatz von Kohle im Inland sieht die Energiestrategie je nach Szenario bis 2035 entweder eine leichte Zunahme oder eine deutliche Abnahme vor, denn Kohle soll im Inland bei der Stromerzeugung möglichst durch Erdgas ersetzt werden, was sie für den Export frei macht. Schweröl und andere Erdölprodukte sollen ebenfalls in deutlich geringerem Umfang als bisher für die Stromproduktion eingesetzt werden. Der Absatz von Motorenbenzin soll wenig, der von Dieseltreibstoff stark ansteigen. Insgesamt soll der Inlandsverbrauch von Treibstoffen und anderen Erdölerzeugnissen sinken, damit Erdöl in konstanter Menge exportiert werden kann (Tabelle 2 auf S. 16).

Während der inländische Erdgasverbrauch zwischen 1999 und 2018 um rund 20 % zugelegt hatte, soll er gemäß Energiestrategie ab 2019 fast gleich bleiben. Da die Energiestrategie auch in Zukunft eine Ausweitung der mit Gas versorgten Gebiete vorsieht, kann die Konstanz der im Inland verbrauchten Gasmenge nur durch einen Anstieg der Effizienz des Gasverbrauchs ermöglicht werden. Dafür müssten unter anderem die kommunalen Strom- und Heizkraftwerke modernisiert und/oder durch dezentrale Systeme ersetzt werden, was die kommunalen Finanzen kaum erlauben dürften (https://monde-diplomatique.de/artikel/!340112).

Der Anteil von Energie aus fossilen Quellen am inländischen Energieverbrauch wird planmäßig seinen 2018 erreichten Wert von rund 85 % bis 2035 beibehalten (Tabelle 3 auf S. 17 sowie Grafiken 2a und 2b auf S. 13). Da der Energieverbrauch im Inland fast konstant bleiben soll, während die Kohlenstoffintensität der Energieverwendung (das Verhältnis von CO2-Emissionen zum Inlandsverbrauch von Energie) durch die Substitution von Kohle und Erdöl durch Erdgas leicht abnimmt, ist zwar – sofern die Annahmen der Energiestrategie zutreffen – bis 2035 mit keinem Anstieg der CO2-Emissionen rechnen, aber auch nicht mit ihrer deutlichen Senkung, die positive Auswirkungen auf die weltweite Klimasituation haben könnte. Prognosen des Ministeriums für wirtschaftliche Entwicklung vermitteln aber ein weit pessimistischeres Bild (siehe unten).

Export

Vom Aufkommen, also der heimischen Förderung einschließlich der Importe, soll in der Volumenrechnung bei Kohle und Erdöl jeweils mehr als die Hälfte, bei Erdgas mehr als ein Drittel exportiert werden, wobei die Exportsteigerungen bei Kohle und Erdgas als sehr hoch eingeschätzt werden (Tabelle 2 auf S. 16 und Grafik 3 auf S. 14). Der Kohleexport soll gegenüber 2018 je nach Szenario um 22 oder 86 % zunehmen und gemäß Energiestrategie durch die steigende Nachfrage vor allem in den asiatischen Ländern angetrieben werden.

Eine noch rasantere Exportsteigerung als bei der Kohle sieht die Energiestrategie für Erdgas vor. Insgesamt soll sich der Erdgasexport 2035 gegenüber 2018 je nach Szenario um die Hälfte erhöhen oder sogar verdoppeln, wobei das über Leitungen exportierte Gas um 16 bis 36 % zunehmen und die Menge des per Tanker verschifften Flüssiggases (liquid natural gas, LNG) auf das Vier- bis Siebenfache ansteigen soll. Ab 2020 wird China durch die Pipeline »Kraft Sibiriens« (Sila sibiri) mit steigenden Gasmengen beliefert, die bis 2035 ein Drittel des gesamten leitungsgebundenen Exports von Gas aus Russland transportieren wird. LNG-Exporte werden wie schon heute überwiegend nach Asien erfolgen; für sie könnte zukünftig die Route durch das Nördliche Eismeer genutzt werden.

Der Export von Erdöl wird den Umfang, den er 2018 erreichte, wegen des begrenzten Exportpotentials (und auch bei hoher Weltnachfrage) nur knapp halten können. Der bislang geringe Export von Treibstoffen soll erheblich ansteigen, der von Schweröl und anderen Erdölprodukten dagegen deutlich abnehmen. Mehr als die Hälfte des Rohöls wird über die Druschba-Ölpipeline sowie per Schiff nach Europa exportiert, der zweitwichtigste Abnehmer ist China, das sowohl über die Ostsibirische Ölleitung (Eastern Siberia–Pacific Ocean oil pipeline, ESPO) als auch per Tanker beliefert wird.

Nichtfossile Energien

Anders als die fossilen Energieträger zielt der Einsatz von Wasserkraft und Kernkraft nicht auf den Export, sondern bis auf geringe Exportmengen nur auf die Inlandsversorgung mit Energie. Die Stromerzeugung der großen Wasserkraftwerke wird, weil die natürlichen Gegebenheiten weitgehend ausgeschöpft sind, nur noch wenig zunehmen können, während Atomstrom zulegen kann, weil weitere Reaktorblöcke in Betrieb genommen werden sollen. Das benötigte Uran stammt aus eigener Förderung und aus Kasachstan.

Während die Energiestrategie für die drei fossilen Energieträger Kohle, Erdgas und Erdöl zwischen 2018 und 2035 einen Anteil von über 92 % der Primärenergie plant (Tabelle 3 auf S. 17), misst sie nichtkonventionellen Energiequellen nur geringe Bedeutung zu. Zahlenmäßig erfasst werden nur »sonstige Naturstoffe«, also Biomasse (Holzpellets) und kommunaler Müll sowie landwirtschaftliche und industrielle organische Abfälle, deren Aufkommen die Energiestrategie mit rund einem Prozent der gesamten Energieerzeugung als konstant bleibend darstellt. Für die künftige Entwicklung von Sonnen- und Windenergie, kleiner Wasserkraft, Erdwärme und Gezeitenenergie verzichtet die letzte Version der Energiestrategie im Unterschied zu ihren Vorgängern auf nähere Angaben. Einen Beitrag zum Kampf gegen den Klimawandel sollen und können diese Energieformen nach der in der Energiestrategie vertretenen Auffassung nicht leisten. Dabei ist ihr Potential nicht nur für die Energieerzeugung, sondern auch für die Modernisierung der Energiewirtschaft Russlands enorm (Bobyljow, Kudrjawzewa, Gretschuchina in den Russland-Analysen 344).

Worte statt Taten: Russlands Klimapolitik

Russlands CO2-Emissionen hatten 2018 einen Anteil von 4,6 % an den weltweiten CO2-Emissionen gehabt. Das Land stand damit nach China, Indien und den USA an vierter Stelle der größten Emittenten (https://op.europa.eu/en/publication-detail/-/publication/9d09ccd1-e0dd-11e9-9c4e-01aa75ed71a1/language-en). Die Klimapolitik Russlands ist zweideutig: Zwar bekennt sich die Staatsspitze zu einer Politik, die dem Klimawandel entgegenwirkt, doch macht sie keine Anstrengungen, um diese Politik tatsächlich umzusetzen (Poberezhskaya in den Russland-Analysen 377). Wladimir Putin hatte auf der 70. UNO-Vollversammlung am 28. September 2015 versprochen, dass Russland bis 2030 die Emission von Treibhausgasen auf 70 bis 75 % des Niveaus von 1990 begrenzen werde. Aber erst im September 2019 rang sich die politische Führung dazu durch, dem Pariser Klimaabkommen von 2015 beizutreten und wiederholt seither das von Putin 2015 gesetzte Reduktionsziel, wobei dieses mit Anrechnung der Emissionsminderung durch Landnutzung, Landnutzungsänderungen und Forstwirtschaft (Land use, land-use change and forestry, LULUCF) erreicht werden soll. Gleichzeitig sind alle Bemühungen, diese Zielvorgabe um konkrete Verpflichtungen zu ergänzen, gescheitert, nachdem der Industrieverband energischen Protest eingelegt hatte (https://www.themoscowtimes.com/2019/10/17/russia-rejects-climate-changeplan-after-business-uproar-a67780). Weil nach der Rechnung mit LULUCF Russlands Emissionen durch den Niedergang der Schwerindustrie 2000 bereits auf 45 % des Werts von 1990 zurückgegangen sind und 2017 bei 51 % lagen, kann das selbstgesteckte Reduktionsziel ohne größere Anstrengungen bis weit in die Zukunft gehalten werden. Die Regierung entledigt sich auf diese Weise weitgehend der Verpflichtung zum Klimaschutz im Sinne der Vorbeugung und kann die Anpassung an den Klimawandel in den Vordergrund aller Überlegungen stellen. Seit 2014, als das Gesetz über die strategische Planung in Kraft trat, wurden zwar zahlreiche Pläne auf den Gebieten der Wirtschafts- und Energiepolitik beschlossen, darunter aber keine, welche die folgenlose Klimadoktrin von 2009 ersetzte (http://kremlin.ru/events/president/news/6365). Stattdessen beschloss die Regierung am 25. Dezember 2019 nur ein Programm für den Schutz vor den Folgen des Klimawandels (government.ru/docs/38739).

Am 23. März 2020 publizierte das Ministerium für wirtschaftliche Entwicklung den Entwurf einer »Strategie der langfristigen Entwicklung der Russischen Föderation mit niedrigem Niveau der Treibhausgase bis 2050« (https://economy.gov.ru/material/file/babacbb75d32d90e28d3298582d13a75/proekt_strategii.pdf). Damit kommt das Ministerium der mit dem Beitritt zum Pariser Klimaabkommen übernommenen Verpflichtung zur Vorlage einer entsprechenden Planung nach. Die vorgestellte Strategie berechnet in ihrem »Basisszenario«, das die wahrscheinlich durchsetzbaren Maßnahmen zur Energieeinsparung berücksichtigt, bis 2030 einen Anstieg der Emissionen von Treibhausgasen auf 67 % des Niveaus von 1990 und bis 2050 deren Rückgang auf 64 %. Dies bedeutet bis 2030 eine Erhöhung der Emissionen um 32 % gegenüber 2017 (Grafik 4 auf S. 14). Damit wird zwar Putins Reduktionsziel leicht übertroffen, aber dem Geist des Pariser Klimaabkommens von 2015 nicht entsprochen (https://bellona.org/news/climate-change/2020-03-russia-publishes-baby-steps-plan-toward-a-low-carbon-future). Immerhin wird mit diesem Dokument der Anstoß zu einer vertieften Klimadiskussion gegeben, welcher die Energiestrategie aus dem Weg geht. Es wird festgestellt, dass das Potential der nichttraditionellen erneuerbaren Energien das Fünffache der gegenwärtigen Stromerzeugung beträgt. Gemäß dem Basisszenario der Strategie wird ihr Anteil an der Stromerzeugung allerdings nur von 0,1 % in 2017 auf 1,9 % in 2030 und 4,4 % in 2050 steigen.

Taten statt Worte: Setschins Energieaußenpolitik

Russland hatte Ende 2016 zusammen mit den damals 14 OPEC-Mitgliedsstaaten und weiteren neun Ländern (darunter Aserbaidschan und Kasachstan) die Begrenzung der Ölförderung vereinbart, um den niedrigen Ölpreis wieder anzuheben. Zwischen 2017 und 2019 beschloss die sogenannte »OPEC+«, auf deren staatseigene Ölunternehmen rund die Hälfte der Welt-Erdölförderung entfällt, weitere Förderkürzungen, die Ende März 2020 ausliefen. Da die privaten US-amerikanischen Ölfirmen an diese Vereinbarung nicht gebunden waren, konnten sie in diesem Zeitraum ihre Ölförderung ungehindert steigern (Grafik 5 auf S. 15). Die US-amerikanische Ölförderung war wegen Erschöpfung der zum Teil seit einem Jahrhundert ausgebeuteten Ölfelder seit 1970 im Niedergang gewesen. Sie wuchs jedoch überraschend wieder an, seit es innovativen Unternehmen um 2010 gelungen war, mit den Methoden des hydraulic fracturing und horizontal drilling, womit seit der Jahrtausendwende in den USA Schiefergas (shale gas) in größeren Mengen gewonnen wird, ebenfalls Schieferöl (shale oil, tight oil) aus tiefliegenden Lagerstätten von dichtem Gestein zu fördern – allerdings mit höheren Förderkosten als bei der traditionellen Ölförderung. Auf die dadurch für Russlands Ölbranche entstehende Bedrohung hatte der Chef des landesweit größten Ölkonzerns Rosneft Igor Setschin, der schon das Zustandekommen des OPEC+-Abkommens kritisiert hatte, Präsident Putin Ende Dezember 2018 schriftlich hingewiesen (https://www.reuters.com/article/us-oil-opec-russia-rosneft-exclusive/exclusive-russias-sechin-raises-pressure-on-putin-to-end-opec-deal-idUSKCN1PX1R7). Für die Öffentlichkeit unerwartet gab Energieminister Nowak Ende 2019 in einer Fernsehsendung bekannt, dass Russland eventuell 2020 aus der »OPEC+« ausscheren werde, um seinen Anteil am Weltmarkt für Öl zu verteidigen (https://www.reuters.com/article/us-oil-opec-russia-novak-2020/russias-novak-says-opec-may-consider-ending-oil-output-cuts-in-2020-idUSKBN1YV0HY). Dass dies jedoch nicht unbedingt seiner eigenen Überzeugung entsprach, lässt sich daran ablesen, dass er noch in der Dezemberausgabe der vom Energieministerium publizierten Monatsschrift Energetitscheskaja politika betont hatte, dass die Teilnehmer der OPEC+, also auch Russland, unverändert zu dem Abkommen – das er als Vertreter Russlands mit ausgehandelt hatte – stünden und sich vereint für die Stabilität des Ölmarkts einsetzen wollten (Novak in der Bibliografie). Und in derselben Zeitschrift erschien im Januar 2020 eine ausführliche Analyse der Schieferölförderung in den USA sowie ihrer Auswirkungen auf Russlands Volkswirtschaft mit dem Ergebnis, dass es für Russland eine »vernünftige Strategie« wäre, sich in der OPEC+ weiter über ein gemeinsames Vorgehen abzustimmen (https://energypolicy.ru/?p=2982). Aber auf einer Konferenz, zu der Putin am 1. März 2020 die Abgesandten der Ölkonzerne versammelte, stand die Entscheidung der Regierung, die Kooperation mit Saudi-Arabien zu beenden, nicht mehr zur Debatte (https://politcom.ru/23730.html) und Energieminister Nowak musste am 6. März 2020 beim Treffen der OPEC+ in Wien Russlands Einspruch gegen weitere Förderkürzungen verkünden. Daraufhin erklärte Saudi-Arabien, weil es unter diesen Bedingungen nicht mehr die Rolle des einzigen Ausgleichsproduzenten (swing producer) spielen wollte, ab April 2020 seine Ölförderung maximal hochfahren zu wollen, was den Ölpreis sofort abstürzen ließ. Wegen des Überangebots an Erdöl und dem Rückgang der weltweiten Ölnachfrage als Folge der Corona-Krise wird der Ölpreis voraussichtlich für längere Zeit so niedrig bleiben, dass ein großer Teil der US-Ölschieferindustrie unrentabel arbeitet und ihren Betrieb zumindest vorübergehend einstellen muss. Aber die finanzielle Stabilität der Ölexportstaaten ist ebenfalls gefährdet (Kluge et al. in der Bibliografie). Deswegen haben am 9. April die Teilnehmer der ehemaligen OPEC+ die Kürzung ihrer Ölförderung ab Mai 2020 um jeweils rund 20 % beschlossen.

Dass sich Setschin mit seinem Anliegen durchsetzen konnte, ist ihm nicht nur wegen seiner Nähe zum Präsidenten gelungen, sondern auch deswegen, weil er in Übereinstimmung mit den Vorstellungen der herrschenden Kreise Russlands für die nicht durch internationale Abkommen eingeschränkte, maximale Ausbeutung der Energieressourcen des eigenen Landes eintritt. Auch die neue Energiestrategie hat mit der Forderung nach einer führenden Stellung Russlands auf dem Weltenergiemarkt Setschins aggressiver Energieaußenpolitik eine Rechtfertigung geliefert.

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Die »Lex Nord Stream 2«: Ein energierechtliches oder außenpolitisches Projekt?

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Die EU-Kommission möchte den Geltungsbereich ihrer Gasmarktrichtlinien auf die aus Nicht-EU-Ländern an die Außengrenzen der EU führenden Gasleitungen ausweiten, was eine Transformation des Gasmarktrechts in den Ländern erfordert, von denen diese Leitungen ausgehen. Der Vorschlag – der Absicht nach eine »Lex Nord Stream 2« – lässt sich weder energierechtlich noch energiewirtschaftlich, sondern nur außenpolitisch begründen. Wenn er von Rat und Parlament der EU gebilligt wird, könnte die Inbetriebnahme von »Nord Stream 2« an der fehlenden Zustimmung Russlands zu der Neuregelung scheitern, was viele Russlandkritiker in Europa und den USA begrüßen würden.
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Zum Artikel auf zeitschrift-osteuropa.de

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