Russlands Familienpolitik

Von Theresa Hornke (Universität Halle-Wittenberg)

Zusammenfassung
Die Familienpolitik in Russland ist ein hochaktuelles Politikfeld, welches immer wieder neu verhandelt wird. Erst im Januar, bei seiner Botschaft an die Föderalversammlung, betonte Präsident Putin erneut den hohen Stellenwert des Themas und gab Anstöße für weitere Familienleistungen und Investitionen in Jugend- und Betreuungsinfrastrukturen. Der Aushandlungsprozess findet zwischen Debatten um den demographischen Wandel, ökonomische Leistbarkeit von staatlichen Leistungen, Versorgungs- und Vereinbarkeitsdebatten und moralischen Wertvorstellungen statt.

Einleitung

Familienpolitik ist eines der zentralen sozialstaatlichen Zugeständnisse der russischen Führung an die Bevölkerung in einem eher schwach ausgeprägten Sozialstaat. Sie bewegt sich in einem Spannungsfeld zwischen pronatalen, paternalistischen und neo-traditionalistischen Strategien. Das politische Ziel ist dem demographischen Wandel entgegenzuwirken. Dabei werden die politischen Strategien mit patriotischen und traditionalistischen Werten ideologisch begründet.

Trotz der Priorisierung des Themas durch führende Politiker:innen, sind Kinder von Alleinerziehenden oder in Großfamilien, neben Rentner:innen, die am meisten von Armut betroffene Gesellschaftsgruppe in Russland. Die Belastung von Müttern ist immens, denn Haushalts-, Erziehungs- und emotionale Arbeit wird, neben der Erwerbsarbeit, hauptsächlich Frauen zugeschrieben und von ihnen durchgeführt. Die Rolle der Frau, als Mutter und Erwerbstätige wird von politischer Seite gefördert. Dabei ist Vollzeitlohnarbeit von Frauen weit verbreitet, nicht zuletzt bedingt durch eine hohe Scheidungsrate und die daraus resultierende hohe Anzahl von Alleinerziehenden. Diese Erwerbs- und Lebensrealität vieler russischer Familien und Frauen ist augenscheinlich nicht in Einklang zu bringen mit dem staatlich angestrebten pronatalen, konservativ-patriarchalen Familienverständnis. Trotzdem scheint die Regierung seit Jahren an dem Kurs festzuhalten. So haben die meisten Familien in Russland ein Kind; das erklärte staatliche Ziel ist es jedoch, Familien mit drei Kindern zum Standard zu erheben und Großfamilien verstärkt zu fördern.

Dem Bevölkerungsrückgang entgegenzuwirken wird vom Kreml zur zentralen Aufgabe der staatlichen Sozialpolitik und der russischen Bevölkerung gemacht. Die Geburtenrate in Russland sinkt seit den 1990er Jahren bei einem ebenso sinkenden Sterblichkeitsalter der Bevölkerung. Der Staat sieht in der Steigerung der Fertilitätsrate einen Lösungsansatz, um eine demographische Kehrtwende zu bewirken. Dabei wird jede einzelne Person aufgerufen, sich einzubringen und seinen Teil beizutragen, um diesem Problem entgegenzuwirken. Der demographische Wandel wird im politischen und medialen Diskurs vor allem als ›demographische Katastrophe‹ oder ›demographischer Zusammenbruch‹ wiedergegeben. Es entsteht ein Narrativ von einem Russland, das dabei ist, Macht und Zukunft zu verlieren, wenn nicht schnellstmöglich gegen den Bevölkerungsrückgang gehandelt wird. Dieses Narrativ ist inzwischen fester Bestandteil des kollektiven Bewusstseins geworden.

Die augenscheinliche Widersprüchlichkeit zwischen Lebensrealitäten und politischen Strategien veranlasst mich, einen genaueren Blick auf das staatliche Handeln in Bezug auf Familien zu werfen. Wie spiegeln sich demographischer Wandel, konservative Moralvorstellungen und nichttraditionelle Familienstrukturen im familienpolitischen Handeln der russischen Regierung wider?

Kommunikation der Familienwerte

In seiner jährlichen Botschaft an die Föderalversammlung analysiert Putin den Bevölkerungsrückgang im Jahr 2012 als »wirkliche demographische und moralische Katastrophe in einer demographisch-moralischen Krise.« Denn »[w]enn die Nation nicht in der Lage ist sich zu erhalten und zu reproduzieren, ihre Anhaltspunkte und Ideale verliert, dann braucht es keinen äußeren Gegner, um auseinanderzufallen.«

In seiner Rede stellt er einen Zusammenhang her, zwischen dem Fortbestehen und Erhalt der Nation und der Familie. Der Familie wird eine Rolle zugeteilt, welche über die private Sphäre hinausgeht und sie staatstragend werden lässt. Die Rede macht deutlich, in welchem Umfang die Zukunft des Landes mit ihrer Reproduktionsfähigkeit gleichgesetzt wird. Demnach ist es Aufgabe der Bevölkerung, russische Familienwerte an die nächste Generation weiterzugeben und in diesem Sinne Kinder großzuziehen. In weiteren Reden und Strategiepapieren der Regierung wird stets die Einmaligkeit und der Traditionsreichtum russischer Kultur und Werte betont, die unter dem Begriff Familienwerte zusammengefasst werden.

Hierzu sagt Putin in seiner Botschaft an die Föderalversammlung 2019: Teil einer Lösung für russische Probleme sei, Russland als Zivilisation mit eigener Identität aus einer jahrhundertelangen Tradition und Kultur gewachsen Werten und Bräuchen zu bewahren. Das Ziel sei nur zu erreichen, wenn alle sich daran beteiligten, als geeinte, solidarische Gesellschaft, in der sich jede:r anstrengt, etwas dazu beizutragen. Die Regierung habe alles getan was in ihrer Macht stünde, um Familienwerte zu stärken und werde das auch in Zukunft tun. Denn Fakt sei, die Zukunft stehe auf dem Spiel.

Kinder zu bekommen, wird zur staatsbürgerlichen Pflicht und zu einem Solidaritätsakt gegenüber der Gesellschaft. Die Bezeichnung (traditionelle) Familienwerte wird als ein allgemeingültiger, spezifisch russischer Wertekanon wiederholt verwendet. Durch diese Rhetorik wird an Familien der Anspruch erhoben, einen gemeinsamen Wertekanon zu vertreten, zu verteidigen und weiterzugeben. Gleichzeitig werden dem russischen Volk ›eigene, einmalige‹ Werte und Ideale zugesprochen. Familie wird in erster Linie mit dem Fortbestand der russischen Nation und ›ihrer Werte‹ in Verbindung gebracht. Kontinuität und Erhalt von Identität, Tradition, Kultur, Werten und Bräuchen sind wiederkehrende Themen. Familien stehen für Stabilität und Zukunft, Solidarität und Einheit. An sie wird der Anspruch gestellt, moralisch zu leben und zu handeln. Damit wird der Maßstab gesetzte, dass die Stimulation einer steigenden Geburtenrate nicht bedingungslos stattfinden soll, sondern an bestimmte Wertvorstellungen gekoppelt ist, insbesondere im Bereich der Wert- und Moralerziehung von Kindern.

Es wird ein Familienbild reproduziert, das auf vorausgesetzten gemeinsamen Werten aller Bürger:innen beruhen soll. Das gesellschaftliche Zusammenleben und die Zukunft der russischen Nation werden mit dem Vorhandensein und Moralzustand von Familien gleichgesetzt. Hervorgehoben werden dabei vor allem Solidarität, Gemeinschaft, Verbundenheit, Patriotismus, Nationalbewusstsein in Bezug auf Kultur, Geschichte und Traditionen, Moral und Ethik, Humanismus, Religiosität und Spiritualität. So sind die angestrebten Wertvorstellungen, die Putin in seinen Reden an das ganze Volk richtet, auch als moralischer Maßstab für Familien zu sehen, da diese den gesellschaftlichen Kern bilden. Damit wird die individuelle Entscheidung, eine Familie zu gründen, zu einer gesellschaftlichen Pflicht. Die Vorgaben an Familien werden von dem politischen Akteur eng abgesteckt. Das bedeutet für Familien, die außerhalb dieser verbindlichen Vorstellungen leben, dass ein größerer Rechtfertigungsdruck entsteht, ihre Form der gelebten Familie und die damit wahrgenommenen Rollen individuell zu begründen.

Neben moralischen Ansprüchen werden auch konkrete Forderungen von Putin erhoben, wie etwa 2012 bei der jährlichen Föderalversammlung, »dass Familien mit drei Kindern der Standard werden sollten«.

Zudem werden im Gegenzug weitere staatliche Unterstützungsmaßnahmen und weiterreichende Übernahme von staatlicher Verantwortung für Familien, in ökonomischen und infrastrukturellen Belangen, in Aussicht gestellt.

Diese Politik und dieser Diskurs führen einerseits zu einem größeren Druck, den sich Frauen ausgesetzt sehen, wenn sie sich gegen Kinder und das damit verbundene Leben entscheiden, aber auch für Familien, die einem alternativen Familienmodell nachgehen. Die Familie wird in einen patriotischen Rahmen gesetzt. Der Diskurs wird insbesondere von moralisierender-identitätspolitischen Debatten bestimmt, während andere Facetten wie strukturelle Probleme, Gewalt in Familien, Armut, Überbelastung oder Vereinbarkeit von Familie und Beruf eine kaum sichtbare Rolle einnehmen. Stattdessen wird eine Politik für den Erhalt von traditionellen Familienmodellen und Geschlechterrollen in der Familie betrieben. Neben einer spezifischen Moral innerhalb der Familie wird zudem der Diskurs um Mehrkind-Familien mit dem Versprechen geführt, Familien, die sich dafür entscheiden, verstärkt zu unterstützten.

Staatliche Leistungen

Teil der diskursiven Strategie ist das Versprechen neuer staatlicher Leistungen für Familien. Das Ziel der staatlichen Familienpolitik ist es, den Kinderwunsch von Paaren zu begünstigen. Ein Mittel dafür sind ökonomische Anreizstrukturen, um die individuelle Machbarkeit des Kinderhabens zu erleichtern. Durch familienpolitische Maßnahmen soll Kinderhaben in den gesellschaftlichen Strukturen von Arbeitswelt (Erwerbs- und Pflegearbeit) und Geschlechterbeziehungen erleichtert werden. Zeit und Infrastruktur im Sinne von Betreuungs- und Versorgungsstrukturen sind dafür die entscheidenden Ressourcen. Daraus lässt sich eine Unterteilung von Leistungen in monetäre, zeitwerte und sachwerte Komponenten ableiten.

In den späten 1990er und frühen 2000er Jahren wurden viele staatliche Sozial- und Familienleistungen gestrichen. Kindergärten, pränatalmedizinische Einrichtungen und Schulen wurden im Zuge der staatlichen Sparpolitik geschlossen. Erst seit Mitte bzw. Ende der 2000er Jahre hat eine Trendwende begonnen: Die Anzahl von Schließungen von staatlichen Versorgungseinrichtungen ging zurück und es fanden sogar Wieder- und Neueröffnungen statt. Das ausgesprochene Ziel der Regierung ist nun u. a. eine ortsunabhängige Kindergartenplatzgarantie, ob in Moskau oder in peripheren Regionen. Seit 2019 läuft das »Nationale Projekt Bildung«, dem 784,5 Milliarden Rubel (das entspricht etwa 11,4 Milliarden Euro) zur Verfügung stehen, um Schulen zu sanieren und zu modernisieren, Lehrpläne zu aktualisieren, Fachpersonal zu schulen und die Schulverwaltung umzustrukturieren und fortzubilden. Zudem wurden neue monetäre Leistungen eingeführt. Das wohl bekannteste Beispiel ist das 2007 eingeführte Mutterschaftskapital. Dabei bekommen Frauen, die ein zweites Kind gebären, eine zweckgebundene Pauschalzahlung von 466 617 Rubel (Stand 2020; entspricht etwa 6.780 Euro). Das Geld kann zur Ausbildung der Kinder, für die Rente der Mutter oder zur Finanzierung (Kauf/Umbau) eines Eigenheims dienen. Zudem muss das Geld nicht versteuert werden. Das Mutterschaftskapital ist status- und einkommensunabhängig. Das Programm wird als gutes Beispiel zukünftiger russischer Familienpolitik von Politikern gedeutet. Denn es erfüllt 1) die Zuständigkeit der Mutter als Hauptfürsorgeperson für das Kind, 2) die Anzahl von mindestens zwei Kindern, für eine umfassende Unterstützung der Familie und 3) die Leistungen werden verknüpft mit Investitionen.

Zusätzlich gibt es russlandweite Pauschalzahlungen für die Geburt und die medizinische Registrierung, wenn die Mutter sich und ihre Schwangerschaft vor der 12. Schwangerschaftswoche in einer medizinischen Einrichtung registrieren lässt. Hinzu kommen Lohnersatzzahlungen von 40 % in den ersten drei Jahren (seit 2020) während der Elternzeit. Durch die erst kürzliche Implementierung der Programme bleibt abzuwarten, welchen Effekt diese auf die Erwerbstätigkeit und Wiedereinstiegsmöglichkeiten von Frauen in das Berufsleben haben werden. Bisher wurde durch die kurze Bezugsdauer von Ersatzleistungen ein schneller Wiedereinstieg in die Erwerbsarbeit befördert, auch da die meisten Familien auf ein doppeltes Einkommen angewiesen sind.

Um nach Geburt und Schwangerschaft die Möglichkeit zu haben, wieder in Erwerbsstrukturen zurückzukehren, sind gute Betreuungsinfrastrukturen von hoher Relevanz für Familien. 99 % der Vorschuleinrichtungen unterliegen einer staatlichen Trägerschaft – Kinder in Russland verbringen dort im Durchschnitt 50 Stunden pro Woche, was mehr ist als in jedem OECD-Land. Die Gebühren dafür sind niedrig und mit zunehmender Kinderanzahl an hohe Vergünstigungen geknüpft. Auch wenn sich die Qualität und Angebotslage innerhalb Russlands stark unterscheidet, lässt sich insgesamt ein breites infrastrukturelles Versorgungsnetz verzeichnen. Gute und umfassende Betreuung ist ein entscheidender Entlastungsfaktor für Eltern, reduziert die Doppelbelastung von Frauen und ist zudem ein sozialpolitisches Instrument, um sozioökonomische Unterschiede auszugleichen und Chancengleichheit unter Kindern zu fördern. Zudem bietet die umfassende Betreuung eine Möglichkeit für den Staat die vielgenannte Wert- und Moralerziehung nach eigenen Vorstellungen umzusetzen. Dies alles ist nicht zuletzt ein gern genutztes Erbe aus Sowjetzeiten.

Durch den Gesetzgeber werden zeitliche Kompensationen in der Erwerbsarbeit vornehmlich an Mütter vergeben. So haben diese das Anrecht auf zwei zusätzliche bezahlte Urlaubstage bis zum 14. Lebensjahr ihres Kindes. Insgesamt fördert das sozialpolitische System Russlands kurze Arbeitszeitunterbrechungen und die schnelle Wiedereingliederung in den Arbeitsmarkt von Müttern. Geschlechterparität wird nicht gefördert und Elternschaft ist eng an Mutterschaft gebunden. Das spiegelt sich auch in den arbeitsrechtlichen Regelungen wider. Fast alle zeitwerten Leistungen werden explizit an Mütter vergeben. Zwar haben Väter teilweise einen Anspruch auf Elternzeit und Lohnersatz, aber der damit verbundene bürokratische Aufwand, traditionelle Rollenbildern und der Gender-Pay-Gap tragen unter anderem dazu bei, dass beinahe ausschließlich Frauen eine Unterbrechung der Erwerbsarbeit in Kauf nehmen. Es gibt keinen Versuch staatlicherseits eine egalitäre Arbeitsteilung zu fördern. Auch wenn solche Ansprüche prinzipiell Vätern offen stehen, werden keine Anreize geschaffen, sie wahrzunehmen.

Außerdem übernimmt der Staat keine ausgeprägte finanzielle Kompensation für Pflegearbeit. Diese wird gering entlohnt, beziehungsweise findet größtenteils unbezahlt statt. Insgesamt werden Mütter als Hauptsorgeverantwortliche betrachtet, da sie im Mittelpunkt der Freistellungsregelungen und monetären Bezüge stehen. Vaterschaft oder paritätische Elternschaft wird nicht explizit gefördert. Ab dem zweiten Kind steigen staatliche Leistungen teilweise oder kommen hinzu. Alleinerziehende haben kaum gesonderte Ansprüche.

Rechtslage

Die Familie, Mutterschaft, Vaterschaft und Kindheit stehen in der Russischen Föderation unter dem Schutz des Staates. Die Familiengesetzgebung geht von der Notwendigkeit aus, die Familie zu festigen, die Familienbeziehungen auf gegenseitige Liebe und Achtung, gegenseitige Hilfe und Verantwortung aller ihrer Mitglieder vor der Familie aufzubauen, dass die willkürliche Einmischung in Familienangelegenheiten unzulässig ist, alle Familienmitglieder mit der ungehinderten Umsetzung ihrer Rechte zu versorgen und den Schutz dieser Rechte vor Gericht zu ermöglichen. – Art. 1.1 Familienkodex der Russischen Föderation

Der Familienkodex der Russischen Föderation basiert grundsätzlich auf der Ehe als Fundament des Familienlebens. Ehefrau und -mann mit Kindern werden rechtlich als Familie verstanden. Die Ehe, und damit der Familienstatus, gelten nur zwischen Mann und Frau. Reproduktion und das Großziehen von Kindern wird als Kernaufgabe der Familien gesehen. Familie soll auf gegenseitiger Liebe und Respekt beruhen und ist eine freiwillige eingegangene Beziehung. Der Staat verpflichtet sich, die Familie zu schützen und zu unterstützen. Das Hervorbringen von Kindern, deren Wohlergehen und Erziehung sollen Priorität haben.

Das Gesetz wird für fehlende und ungenau Definitionen der Begriffe »Familie«, »Heirat« und »Wohlergehen des Kindes« kritisiert. Auch die moralischen Implikationen wie »Konsens«, »Moral«, »Liebe« und »Achtung« oder »Fehlverhalten« werden nicht spezifiziert, wodurch ein Vakuum für Rechtsmitteln entsteht, durch das bestehende Rollenbilder verfestigt und Ungleichheiten begünstigt werden. Die fehlende Genauigkeit erlaubt einen schmalen Grat zwischen verschriftlichter Norm und gesellschaftlichen Norm- und Moralerwartungen. Die Empfehlungen an das moralische Verhalten von Familienmitgliedern vermitteln gleichzeitig Vorstellungen des Staates, wie sich dieser familiäres Zusammenleben vorstellt.

Zwar wird eine gleichmäßige Aufgabenteilung zwischen Eltern für Reproduktionsaufgaben empfohlen, diese sind aber nicht einklagbar. Insgesamt wird aus rechtlicher Perspektive vor allem ökonomisches Verhalten zwischen den Eltern geregelt. So werden z. B. im Scheidungsfall ökonomische Besitzansprüche von Eigentum und Kapitalvermögen genau aufgeschlüsselt. Rechte und Pflichten von Erziehung und Reproduktionsarbeit ebenso wie Unterhaltszahlungen und Kindesfürsorge sind hingegen dem gegenseitigen Einverständnis überlassen.

Ein Raushalten des Staates in Fragen der konkreten Ausgestaltung des Familienlebens in Bezug auf gleichberechtigte Aufgabenteilung und Erziehungsverpflichtungen, bei gleichzeitigem Verweis auf Moral, begünstigt bestehende Verhältnisse. Das Familiengesetzbuch setzt auf gegenseitige Vereinbarungen zwischen den Parteien, weshalb der staatliche Interventionsspielraum gering bleibt und die Privatsphäre und individuellen Rechte bestärkt werden. Allgemein legt der Gesetzestext einen großen Fokus auf Eigentum und Vermögen und wenig auf soziale Absicherung und Wohlfahrt.

Fazit

Die Rhetorik von der ›demographischen Katastrophe‹ führt zu einer Verbreitung der Vorstellung von der Familie als gesellschaftliche Pflicht und der Priorisierung von Maßnahmen zur Fertilitätssteigerung. Alle drei politischen Handlungsinstrumente, die Rechtslage, staatliche Leistungen und der staatliche Diskurs sind von pronatalen Elemente geprägt, so wie moralischen Forderungen – Wertorientierung, Traditionsbewusstsein, Moral und angemessenem Verhalten. Die Frage nach der Vereinbarkeit von Familie und Erwerbsarbeit stellt sich erst gar nicht, da sie aufgrund der Dringlichkeit der ›demographischen Katastrophe‹ in den Hintergrund gerät. Die zentrale Aufgabe von Frauen ist die Reproduktion. Dies wird als nicht verhandelbar dargestellt. Statt die Existenz Alleinerziehender als Lebensrealität und Herausforderung vieler – vor allem Frauen – anzuerkennen, wird versucht mit Leitbildern von verheirateten Paaren und ihrem ›werteorientierten‹ Lebensstil, die Legitimität den nonkonformen Familienentwürfen abzusprechen. Der wiederkehrende Verweis auf traditionelle Familienwerte begünstigt patriarchale Strukturen und konventionelle Geschlechterrollen, während Alleinerziehende und Kleinfamilien benachteiligt werden in Bezug auf finanzielle Unterstützung und im Diskurs über Familien. Eine stärkere Einbindung von Vätern findet nicht statt und Reproduktionsarbeit bleibt im Aufgabenbereich von Frauen.

In der Botschaft an die Föderalversammlung 2020 kündigte Präsident Putin an, die Unterstützung insbesondere für von Armut betroffene Familien auszubauen. Gleichzeitig wird erneut die hohe Priorität von Familienpolitik und dem entschlossenen Entgegenwirken der ›demographischen Krise‹ betont. Die Einführung von langfristigeren und regelmäßigen Sozialleistungen, Investitionen und der Ausbau von Bildungseinrichtungen, Kinderbetreuung, Gesundheitszentren für Schwangere und Kinder, die Erhöhung des Mutterschaftskapitals und der Ausgaben für Jugendpolitik wird angekündigt. Ob die Versprechen dieser Maßnahmen den Beginn einer sozialpolitischeren Familienpolitik markieren, bleibt zu beobachten. Eine Kehrtwende der patriotischen und moralisierenden Ausrichtung der Familienpolitik sowie die Förderung von egalitären Elternschaftsmodellen scheint damit weiterhin nicht in den Fokus der politischen Führung in Russland zu rücken.

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