Putin vs. Stabilität

Von Jens Siegert (Moskau)

Die für alle etwas überraschenden, von Wladimir Putin in seiner alljährlichen Rede vor beiden Parlamentskammern angekündigten Verfassungsänderungen habe ich, wie viele andere auch, in einem Bystro für Dekoder dem sogenannten Problem 2024 zugeschrieben. Damit wird in Russland seit Putins Wiederwahl vor zwei Jahren die Frage bezeichnet, was Putin nach dem Ablauf seiner letzten in der Verfassung erlaubten Amtszeit im Jahr 2024 tun wird. Diese Frage beschäftigt seither das Land und bildet den mal mehr mal weniger offensichtlichen Hintergrund fast aller Politik.

Das Problem 2024 steht fraglos hinter den von Putin vorgeschlagenen und nun in großer Eile umgesetzten Verfassungsänderungen und auch der Entlassung von Ministerpräsident Medwedjew. Aber wie sehr oft in Russland, ist es ebenso notwendig, sich die darunterliegenden Schichten anzuschauen. Denn fast nie ist etwas (nur) das, was es auf den ersten oder auch zweiten Blick scheint. Außerdem haben wir es natürlich auch weiterhin mit einer Black-Box namens Kreml zu tun. Wir sehen nur, was wir sehen sollen. Schon morgen kann vieles ganz anders sein. Und falls es anders kommen sollte als man uns jetzt zeigt, werden wir trotzdem nicht wissen, ob alles nur ein Ablenkungsmanöver gewesen ist, ob zwischendurch die Pläne geändert wurden oder ob es, was ich für wahrscheinlich halte, nicht von vornherein mehrere unterschiedliche Szenarien gegeben hat, aus denen dann eines ausgewählt wurde.

In diesen Notizen soll es deshalb um die bisher weniger beachteten Teile von Putin kleiner Revolution von oben gehen. Das soll in drei Richtungen geschehen: 1) Die Initiative, künftig russisches Recht vor internationales Recht gehen zu lassen, und die geplante Abschaffung der bisher in der Verfassung garantierten kommunalen Selbstverwaltung. 2) Was es mit der Volksbefragung auf sich hat. 3) Die Frage, ob nicht die Putin-Initiativen vielleicht, ganz kontraintuitiv, auch etwas Positives mit sich bringen könnten.

1. Internationales Recht und kommunale Selbstbestimmung

In vielen Kommentaren wird der geplanten Verfassungsänderung zur Priorisierung russischen Rechts vor internationalem Recht und die Abschaffung der kommunalen Selbstverwaltung wenig Bedeutung beigemessen. Das geschieht nicht, weil diese beiden Änderungen nicht erhebliche demokratische Rückschritte bedeuteten, sondern weil, so wird meist argumentiert, hier nur de jure fixiert werde, was de facto längst Realität sei. Das stimmt und greift doch zu kurz. Denn mit diesen Änderungen würde erstens in den ersten, von Veränderungen ausdrücklich ausgenommenen Teil der Verfassung eingegriffen (§ 15 Vorrang internationalen Rechts vor russisches Recht) und zweitens wäre eine Rückkehr ungleich schwieriger als sie bisher (noch) ist.

2. Befragung des Volkes

Das eben beschriebene Stabilitätsproblem dürfte auch den Kreml umtreiben. Es scheint nicht ausgeschlossen, dass die Idee, das Volk um seine Meinung zu den vorgeschlagenen Verfassungsänderungen zu fragen, hier ihre Wurzeln hat. Sie trifft allerdings auf zwei Schwierigkeiten. Die erste ist juristischer Art: Es gibt noch kein Gesetz über ein Referendum. Eine formal bindende Volksabstimmung über die Verfassungsänderungen ist also vorerst gar nicht möglich. Entsprechend hat Putin auch nicht von einem Referendum gesprochen, sondern seine Mitarbeiter davon sprechen lassen, man wolle das Volk um seine Meinung fragen, ohne dass bisher klargeworden ist, in welcher Form das geschehen soll und welche Relevanz das haben soll.

Die zweite Schwierigkeit dürfte in der Beteiligung an einer wie auch immer organisierten Volksbefragung liegen. Zwar gibt es nur eine Minderheit in Russland, die die geplanten Veränderungen in der Machtbalance zwischen Präsident, Regierung, Parlament und Staatsrat explizit ablehnt. Aber ausreichend viele Menschen dazu zu bringen, eigens eines Sonntags in die Wahllokale zu kommen und ihre Stimme abzugeben, um durch solch eine Abstimmung die gewünschte und auch nachhaltige Legitimität zu erhalten, wird aller Erfahrung nach schwierig werden. Dazu sind die Änderungen zu politisch-abstrakt, sehen zu sehr nach Machtspiel aus.

Doch Putin hat vorgebaut und den ersten Teil seiner Rede am 15. Januar mit einem Feuerwerk aus Sozialpopulismus gespickt. Wie erste Umfragen des Allrussischen Zentrums zur Erforschung der Öffentlichen Meinung (WZIOM) (https://www.rbc.ru/politics/03/02/2020/5e3700759a79473195081676) belegen, sind 91 Prozent der Befragten dafür, eine an die Inflation gekoppelte Indizierung von Renten und Sozialbezügen in der Verfassung festzuschreiben. 90 Prozent finden es gut, dass künftig, ebenfalls verfassungssicher, der Mindestlohn nicht kleiner sein darf als das staatlich ermittelte Existenzminimum. Dafür, so könnten viele denken, lohnt es sich dann schon, sich zu Stimmabgabe aufzuraffen.

Die bisherige Putinsche Gegenrevolution (gegen die Liberalisierung nach dem Ende der Sowjetunion) würde zu einer Revolution. Putin hat bisher nicht umsonst wesentliche Änderungen der aus vielen Gründen sehr umstrittenen Verfassung abgelehnt. Was jetzt passiert, egal ob man die Gründe nun teilt oder ablehnt, ist ein Tabubruch, der schwer zu heilen sein wird. Ein nicht unerheblicher Teil der Legitimität von Putins Herrschaft rührt aus seinem Stabilitätsversprechen. Er hat, nach dem sogenannten »Chaos« der 1990er Jahre, Stabilität gebracht und wird von den meisten Menschen als Garant dieser Stabilität gesehen. Diese Verfassungsänderungen gefährden beides.

3. Positive Motivationen und/oder positive Nebeneffekte

An dieser Stelle möchte ich ein Gedankenexperiment wagen. Könnte es nicht sein, dass Putin sich bei den angekündigten Verfassungsänderungen nicht nur von Überlegungen zum Machterhalt hat leiten lassen, sondern (zumindest auch) das Wohl Russlands über seine Herrschaft hinaus im Blick hat? Er hat ja zweifellos mit einigem Geschick (und viel, vor allem ökonomischem Glück) das Land stabilisiert. Ich benutze den Ausdruck stabilisiert hier ausdrücklich nicht wertend, sondern ausschließlich beschreibend. Diese Stabilität wurde mit Hilfe einer immer stärkeren Zentralisierung der Macht in einem Zentrum, in einer Person erreicht und gesichert. Diese Person ist heute (fast) der einzige Stabilitätsanker.

Nun sind Menschen aber sterblich. Irgendwann geht jede und jeder. Putin hat immer wieder betont, zuletzt Ende Januar in St. Petersburg im Gespräch mit einer Gruppe Veteranen, dass er nicht wie Breschnew »mit den Füßen voraus« aus dem Kreml getragen werden wolle, weil genau das entscheidend zum Zerfall der Sowjetunion (sprich: des russischen Staates) beigetragen habe. Es ist also nicht vermessen anzunehmen, Putin möchte, dass die von ihm geschaffene Stabilität ihn überlebt. Dafür muss er den Übergang organisieren. Eine Aufgabe, an der er bisher gescheitert ist, denn er hat ein System geschaffen, das ohne ihn nicht zukunftsfest ist.

Die jetzt vorgeschlagenen Änderungen in der Machtbalance könnten also nicht nur als Schwächung der Stellung eines künftigen Präsidenten gelesen werden, damit Putin ihn als Elder Statesman in welcher Funktion auch immer (Staatsratsvorsitzender, Ministerpräsident, Oberster Verfassungsrichter etc.) kontrollieren kann. Sie könnten auch als Versuch gedacht werden, eine künftige Machtbalance zu schaffen, die ohne so jemanden wie Putin auskommt, da Putin niemanden sieht, dem oder der er diese Rolle heute zutraut.

Manche Kommentator/innen, wie zum Beispiel der von mir hochgeschätzte Mark Galeotti, hoffen gar darauf, dass die Änderungen unerwünschte positive Nebeneffekte haben könnten. Er schreibt, sie könnten eventuell den »hyper-presidentialism« brechen und »multiple formal centers of power« bilden, was wiederum ein wichtiger Schritt vorwärts zu einem demokratischeren Gemeinwesen wäre. Das wäre eingedenk der (glücklichen) Tatsache, dass Putin letztlich in der Ausnutzung seiner Fast-Allmacht doch eher zurückhaltend gewesen war, eine kaum hoch genug zu schätzende Sicherung vor möglicherweise weniger skrupulösen Nachfolgern (https://www.raamoprusland.nl/dossiers/kremlin/1506-two-cheers-maybe-for-putin-s-january-revolution). Das könne man bei seinen potentiellen Nachfolgern nicht unbedingt voraussetzen. Was also, wenn Putin das ähnlich sähe?

Das alles ist durchaus denkbar. Dagegen sprechen allerdings zwei Dinge: Zum einen gehen die Änderungen der Machtbalance nicht weit genug. Ja, Parlamentskammern, Staatsrat, Regierung und oberste Gerichte erhalten mehr Gewicht. Aber selbst in eine Waagschale gelegt, werden sie auch danach die Macht des Präsidenten nicht aufwiegen. Ohne Putins Persönlichkeit auf der Nicht-Präsidentenseite bleibt diese ein Leichtgewicht. Allenfalls reichen sie für eine Übergangsperiode, in der Putin seinen möglichen Nachfolger beobachten kann, um einzugreifen, falls der sich doch nicht als geeignet herausstellen sollte.

Wahrscheinlicher aber scheint mir zu sein, dass dieser Versuch zu halbherzig ausgeführt wurde, um das Nachfolgedilemma aufzulösen. Wenn das so ist, dann ist es durchaus denkbar, dass gerade dieser Versuch dazu führen wird, die Stabilität, die er erhalten will, zu gefährden. Dafür spricht auch die außerordentliche Hast, mit der die Verfassungsänderungen vorangetrieben werden. Die Neuordnungen sind komplex, während die russische Gesetzgebung schon im Normalverfahren reihenweise schlecht funktionierende Gesetze hervorbringt. Die Gefahr, dass nun unabsichtlich (auch aus Sicht des Kreml) in der Eile fatale Fehler gemacht werden, ist groß. Das würde dann wieder genau jene Handsteuerung notwendig machen, die vielleicht gerade abgeschwächt werden soll.

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