»Weiter so« in Russlands Wirtschaft – bei anschwellenden US-Sanktionsrisiken

Von Gunter Deuber (Raiffeisen Bank International AG Wien)

Zusammenfassung
Bei gesamtwirtschaftlichen Parametern, in der Wirtschaftspolitik und bei den Wirtschaftssanktionen ist Russland durch eine beachtenswerte Gleichförmigkeit gekennzeichnet. Nach erlangter Stabilität soll so Planungssicherheit – ein vornehmliches wirtschaftspolitisches Ziel auch liberaler Akteure – gesichert werden. Damit schwindet die Aussicht auf entscheidende personelle oder materielle Änderungen. Die wirtschaftspolitische Kontinuität – zu der auch eine zurückgehende internationale Verflechtung gehört – lässt das Risiko harter unilateraler US-Sanktionen steigen. Damit ist die intendierte Planungssicherheit nur partiell gegeben.

Binnenwirtschaftliche Stagnation, Reserveaufbau und höhere Resilienz

Viele realwirtschaftliche Größen in Russlands Wirtschaft verharren im oder in der Nähe des Stagnationsbereichs. Die BIP-Zuwachsraten haben auf Quartals- und Jahressicht die Marke von 1,5–2 Prozent nicht nachhaltig überschritten. Einige Experten hatten in ihren Prognosen für 2018 oder 2019 höhere Zuwachsraten erwartet und mussten ihre Einschätzungen revidieren. Aktuell mehren sich die Anzeichen einer Abkühlung. Auch die Inflation hat ihr Zyklustief erreicht. Angesichts der Rubelabwertung 2018 sowie der 2019 anstehenden Mehrwertsteuererhöhung dürfte die Inflation auf 4–5 Prozent anziehen und das Notenbankziel übertreffen. Der Inflationsanstieg im Zusammenspiel mit Sanktionsrisiken und einem zunehmend fordernden Umfeld für Schwellenländer raubt der achtsam agierenden Notenbank den Zinssenkungsspielraum. Obwohl in der Politik niedrigere Zinsen erwünscht sind, sollte der Leitzins nicht noch weiter fallen. Das Risiko, dass nach der überraschenden Zinserhöhung im September sogar noch weitere Zinserhöhungen im laufenden Jahr folgen, nimmt zu. Am Bankenmarkt steigen die Kreditzinsen bereits. Insofern kann das zweistellige Konsumentenkreditwachstum der letzten 12–18 Monaten nicht fortgeführt werden, zumal einige Indikatoren auf eine Konsumentenkreditblase wie im Jahr 2013 hindeuten.

Die enttäuschende Wirtschaftsentwicklung verwundert, da der Ölpreis sich unverkennbar erholt hat. Dem Wirtschaftskreislauf fließen aber weniger Rohstoffgelder zu. Außerplanmäßige Einkünfte dienen zum Aufbau von (Devisen-)Reserven. Sie kommen nicht in der Realwirtschaft an. So wird die Stabilität der Wirtschaft unabhängig vom Ölpreis gesichert und der Rubel handelt in stärkerem Maße unabhängig vom Ölpreis. Laut aktuellen Haushaltsvorschriften (eingeführt 2017) tauscht das Finanzministerium – unter Rückgriff auf die Notenbank – die über der konservativen Budgetplanung liegenden Rohstofferlöse am Markt in Fremdwährung um. 2017 wurden so ca. 15 Milliarden Euro Reserven aufgebaut; weitere 35–50 Milliarden Euro sind in diesem Jahr möglich. Dem »Nationalen Wohlfahrtsfonds« könnten so noch in diesem Jahr 50–60 Milliarden US-Dollar zugeführt werden. Für 2019 sind bei aktuellem Ölpreis erneut 25–50 Milliarden US-Dollar in Reichweite, im Jahr 2021 soll der »Nationale Wohlfahrtsfonds« wieder mit über 200 Milliarden US-Dollar gefüllt sein. Tendenziell wird durch die Devisentransaktionen der Wechselkurs, der 2017 teils noch auf unerwünscht starken Niveaus notierte, geschwächt. Trotz einer Abwertung von ca. 15 Prozent seit Jahresbeginn notiert der Russische Rubel aber noch nicht auf signifikant schwachen Niveaus. Andere Währungen von Schwellenländern haben in den letzten Monaten ähnlich wie der Rubel an Außenwert verloren – ohne die Zugewinne, wie sie zuvor, im Jahre 2017, der Rubel verzeichnete. Selbst im Kontext der jüngsten US-Sanktionen (April und August 2018) verlor der Rubel (noch) nicht dramatisch an Wert. Die rubelschwächenden Devisenkäufe wurden vorerst nur temporär eingeschränkt.

Der Leistungsbilanzüberschuss (in Prozent des BIP) liegt wieder in der Nähe der Werte aus »Boomzeiten«. Somit dürfte selbst bei einem weiteren Abbau von Auslandschulden und einer gewissen Kapitalflucht kein Druck auf die Devisenreserven entstehen. In US-Dollar gerechnet, sollten sie 2018 ihr Niveau von 2012 überschreiten bzw. sich dem (Mindest-)Ziel von 500 Milliarden US-Dollar annähern. Solche Niveaus sind erforderlich, um ein bis zwei heftige Schocks aushalten zu können. Zudem ist die Auslandsverschuldung in den letzten zwei bis drei Jahren von 700 Milliarden US-Dollar auf ca. 500 Milliarden gesunken. Die externe Finanzierungsposition hat sich verbessert, was von internationalen Ratingagenturen honoriert wird. Nach Jahren der Herabstufung Russlands in ihren Länderreinschätzungen vollzogen sie 2017 und 2018 positive Revisionen und goutierten explizit die stabilitätsorientierte Wirtschaftspolitik. Im Februar 2018 kehrte Russland damit in den Klub der »investitionswürdigen« Länder mit »Investment-Grade Rating« zurück. Die Ratingagenturen betonen, dass die westlichen Sanktionen für Russlands Wirtschaft kaum materielle Abwärtsrisiken bergen. Man sieht Russland in der Position, über längere Zeit ein härteres bzw. prohibitives Sanktionsregime aushalten zu können.

Die internationale Entschuldung ist ein zweischneidiges Schwert. So ist das Gewicht Russlands in Emerging Markets-Portfolien bzw. Finanzmarktindizes, die Investoren in Schwellenländern stark beachten, einschneidend zurückgegangen. Vor zehn Jahren kamen russische Emittenten auf Portfoliogewichte von 9–14 Prozent; heute sind es 3–7 Prozent. Vor der globalen Finanzkrise 2008 wurden in manchem Jahr fast 20 Prozent aller internationalen Emerging Markets–Anleihefinanzierungen weltweit aus Russland begeben; heute sind es 2–3 Prozent. Im internationalen Emerging Markets–Bankgeschäft ist der Anteil Russlands im gleichen Zeitraum von 6,5 auf 2,5 Prozent gefallen. Damit sind die internationalen Finanzmarkt- und Bankverflechtungen mit Russland nicht mehr in einer Dimension, so dass im Falle einer weiteren graduellen US-Sanktionsverschärfung schroffste globale Marktverwerfungen drohen. Eine harte Sanktionierung Russlands im Finanzbereich – selbst eine »nur« durch die USA – stellt damit immer weniger ein Systemrisiko oder einen Wettbewerbsnachteil für die USA dar. Damit erhöht sich das Risiko von Sanktionen durch die USA – trotz steigender Resilienz.

Primat der makrofinanziellen Stabilität, Zugeständnisse im Investitionsbereich

Der Aufbau von Reserven und die restriktive Geldpolitik zeigen: Der wirtschaftspolitische Fokus liegt auf Planbarkeit und Sicherung der makrofinanziellen Stabilität. Die Bedeutung dieser Aspekte wurde anlässlich des »Jubiläums« der 1998er Krise medial hervorgehoben. Auch bedeutende und unbeliebte Reformen (Mehrwertsteuer, Pensionen) sind vom Leitmotiv Stabilitätssicherung geprägt. Es ist nur eine marginale Verschiebung bei den Haushaltszielen erkennbar. Die Fiskalstrategie für die Jahre 2019–2021 erlaubt moderate Primärdefizite von 0,5 Prozent. Zuvor hatte das Finanzministerium bis 2019 ein ausgeglichenes Budget angestrebt. In den kommenden Jahren werden leicht (von 14 Prozent auf knapp über 16 Prozent des BIP) steigende Staatsschulden toleriert, um Investitionen zu fördern. Relevante Investitionssummen sollen in den Jahren 2018 bis 2021 auf dem lokalen Finanzmarkt aufgenommen werden.

Gesamtwirtschaftlich sind die veranschlagten Investitionen überschaubar. Von 2018 bis 2024 sollen 250–350 Milliarden Euro für »Nationale Programme« bzw. Investitionsvorhaben bereitgestellt werden. Vordergründig ist die Investitionsbereitschaft gestiegen. Mit ähnlicher Zielsetzung wurden 2012 35–45 Milliarden Euro für die Jahre 2012–2018 bereitgestellt. Auf die Einzeljahre gerechnet, soll die Investitionssumme von 0,2–0,4 Prozent des BIP (2012–2018) auf ca. 3 Prozent (2018–2024) steigen. Zudem sollen 70 Prozent der Gelder in den kommenden drei Jahren – vor der Dumawahl 2021 – investiert werden. Rechnerisch impliziert das Investitionen von 4–6 Prozent des BIP. Im Lichte der praktischen Erfahrungen in Russland ist damit zu rechnen, dass nur 40–50 Prozent der Gelder in der Realwirtschaft ankommen. Angesichts der empirischen Erfahrung mit staatlichen Infrastruktur- und Investitionsprogrammen könnten so Wachstumseffekte von 0,4 bis 0,8 Prozent generiert werden, wodurch maximal ein BIP-Wachstum von knapp über 2 Prozent möglich wäre. Die Mehrwertsteuererhöhung, die absehbare geldpolitische Straffung und die Sanktionsunsicherheit dürften indes kurz- oder mittelfristig wachstumsdämpfend wirken, womit die Investitionsimpulse wohl kompensiert wären. Immerhin gibt es aber eine moderate Verschiebung der Präferenzen in Bezug auf die Staatsausgaben. Im Gegensatz zu vorherigen Investitionsstrategien (2012–2018) ist für die Jahre 2018–2024 eine Verschiebung in die Bereiche Infrastruktur, Bildung und Soziales erkennbar; zuvor hatten die Bereiche Militär, Verteidigung und Soziales dominiert.

Der Bankensektor wird – so weit möglich – fit für Sanktionen gemacht

Zur Absicherung der makrofinanziellen Stabilität wurde die seit Jahren betriebene Sanierung des Bankensektors vorangetrieben. Nach der Schließung kleinerer Banken (die Zahl der Banken hat sich in den letzten 5–6 Jahren auf knapp über 500 halbiert) wurden 2017 auch größere bzw. systemrelevante Privatbanken verstaatlicht (»Otkrytije«, »Binbank«, »Promswjasbank«). Interessant ist, dass Banken, die stark gewachsen waren, oder Kreditinstitute, die dem Staat oder staatsnahen Firmen in den letzten Jahren indirekt dienlich waren, notverstaatlicht werden mussten. Die Notverstaatlichungen erfolgten unter Ägide der Notenbank, die sich länger zögerlich gezeigt hat. Zudem ist es fraglich, wie systemrelevante Banken unter Notenbankaufsicht in so eine Schieflage kommen können. Den staatlichen Großbanken sollten aber offenbar keine Lasten aufgebürdet werden. Daher musste die Notenbank einschreiten. Nun sollen »Otkrytije« und »Binbank« zusammengelegt und notleidende Finanzierungen im Wert von 20–30 Milliarden Euro auf eine spezialisierte Abbauinstitution übertragen werden. Dadurch würde Spielraum für Neugeschäft bestehen. Die verstaatlichte und schon zuvor auf Firmenkunden spezialisierte »Promswjasbank« soll als ein auf den Rüstungssektor spezialisiertes Kreditinstitut fungieren. Dabei sollen andere Banken ihre Finanzierungen für diesen Sektor an die »Promswjasbank« abtreten, damit sie durch bestehende US-Sanktionsgesetzte nicht zusätzlichen Risiken ausgesetzt werden.

Angesichts der Notverstaatlichungen ist der Marktanteil staatlicher Banken weiter gestiegen (und liegt derzeit bei fast 70 Prozent). Durch die mit den Aufräumarbeiten der letzten Jahre entstehende Konzentration soll der Bankensektor stabiler aufgestellt werden und einfacher zu regulieren sein. Durch den gestiegenen Staatsanteil ist es zudem einfacher möglich, Banken als Abnehmer von Staatsanleihen in Lokalwährung einzusetzen. Durch die ergriffenen Maßnahmen zur Gewährleistung der Finanzstabilität gerät die russische Zentralbank allerdings zunehmend in Zielkonflikte zwischen klassischer Geldpolitik und Finanzstabilität (so könnten notwendige Zinserhöhungen zu wieder steigenden notleidenden Krediten führen, auch bei notverstaatlichten Banken). Dadurch werden die Freiheitsgrade einer bis dato unabhängig agierenden Institution kleiner. Zudem ist nicht erkennbar, wie der Staatsanteil im Bankensektor wieder absinken soll, auch wenn liberalere Akteure die Notverstaatlichungen noch als »temporäre« Maßnahme sehen.

Finanzmarkt: Normalisierung, Sanktionsrisiken und »neue Nuklearoption«

Interessanterweise erfolgte die Eskalation der US-Finanzsanktionen 2018, nachdem sich am globalen Finanzmarkt ein »russlandpositives« Marktgleichgewicht abzeichnete. Im Jahr 2016 und vor allem 2017 wurden – nach dem Einbruch im Jahr 2015 – beachtliche Summen an internationalen Anleihefinanzierungen aus Russland am globalen Kapitalmarkt bzw. bei internationalen Investoren platziert (15 bzw. 26 Milliarden US-Dollar). Dies sind in etwa die Beträge der in den kommenden Jahren jährlich zu tilgenden internationalen Kapitalmarktfinanzierungen. Die platzierten Summen waren im historischen Vergleich aber so moderat, dass international gehandelte russische Staats- und Firmenanleihen einen »Seltenheitsbonus« am Finanzmarkt genossen. Seit April 2018 (seit den CAATSA-Sanktionen gegen russische Großunternehmen; CAATSA: »Countering America's Adversaries Through Sanctions Act«) hat es keine nennenswerten Transaktionen mehr gegeben. So wurden 2018 nur 8 Milliarden US-Dollar an internationalen Anleihen aus Russland platziert. Des Weiteren ist seit April eine Sanktionsprämie am internationalen Markt eingepreist. Im Einklang mit dem skizzierten lange positiven Markttrend bezüglich Veranlagungen aus Russland erhöhten Ausländer seit 2016 ihren Marktanteil in OFS-Rubel-Staatsanleihen (OFS – Obligazij Federalnogo Sajma / »Föderale Schuldanleihen«) von damals knapp 20 Prozent kontinuierlich bis auf in der Spitze beachtliche 34 Prozent (März und April 2018). Das Engagement durch Ausländer in diesem Marktsegment erreichte im Frühjahr 2018 einen Rekordstand von ca. 30–35 Milliarden US-Dollar. Angesichts solider Zahlungsfähigkeitsindikatoren – begründet durch die orthodoxe Wirtschaftspolitik – galt Russland unter Investoren in Schwellenländern als »Investorenliebling«. Seit April sinkt der Ausländeranteil am OFS-Markt (der derzeit bei 26–27 Prozent liegt), wobei hierfür auch andere Triebkräfte als nur die US-Sanktionen maßgeblich sind (Rubelvolatilität, schwindende Aussicht auf Zinssenkungen, global zunehmende Schwellenländer-Risiken). Auch die grenzüberschreitenden Ausleihungen internationaler Banken nach Russland hatten sich 2017 und zum Jahresanfang 2018 stabilisiert – das könnte sich nun ändern. Zudem nehmen europäische Banken im Gegensatz zu US-Banken bei den grenzüberschreitenden Ausleihungen nach Russland eine immer weiter anwachsende Schlüsselposition ein. Mittlerweile stehen Banken aus Frankreich, Italien und Österreich für knapp über 50 Prozent der Russlandforderungen in internationalen Bankstatistiken (lokale Positionen von russischen Tochterbanken dieser europäischen Bankensektoren plus deren grenzüberschreitendes Geschäft); das sind 15–20 Prozentpunkte mehr als 2012/2013.

Insofern stellen die US-Sanktionsrunden in 2018 unter Umständen bewusst Kapitalmarkttrends der letzten Jahre in Frage. Vor allem im April überraschte man mit harten unilateralen US-Finanzsanktionen (auf Basis der CAATSA-Gesetze) internationale Investoren und russische Oligarchen (Oleg Deripaska). Die Zahlungsfähigkeit und Existenz der »EN+ Gruppe« bzw. von »Rusal« war bedroht, es gab massive Preisverwerfungen an den Rohstoffmärkten. Zudem wurden nicht nur (wie in der Vergangenheit) Neugeschäfte sanktioniert, sondern auch bestehende Geschäftsbeziehungen und Wertpapierpositionen waren (zunächst) betroffen. Das ist eine massive Änderung der bisherigen Sanktionspraxis. Ferner zielen die Sanktionen vom April darauf ab, Eigentumsverhältnisse zu ändern. Einige Marktbeobachter sahen dieses Sanktionspaket – wegen des fassbaren Einflusses auf Finanzmärkte und globale Lieferketten – als wenig durchdacht an. US-Behörden stellten demgegenüber klar, dass dies nicht der Fall sei. Seit April ist EN+/Rusal mit US-Behörden in Bezug auf Änderungen in der Firmen- und Eigentümerstruktur im Gespräch. Angesichts dreimaliger Verlängerung von Sanktionierungsfristen (von April bis zum 5. Juni dann auf den 5. August und jetzt auf den 23. Oktober) signalisierten US-Behörden Gesprächsbereitschaft. Unlängst wurde Geschäftspartnern von Rusal seitens der USA auch erlaubt, die Geschäfte mit Rusal erstmal auf bestehenden Niveaus weiterzuführen, ohne damit gegen US-Sanktionen zu verstoßen. Trotz dieser positiven Signale wird seit den Sommermonaten in den USA aber, als Antwort auf die Skripal-Affäre und wegen der Vorwürfe der Wahleinmischung, in Form von mehreren Gesetzesvorhaben (»Defending American Security from Kremlin Aggression Act« – DASKAA, »Defending Elections from Threads by Establishing Redlines Act« – DETER), eine weitere Sanktionsverschärfung betrieben. Prinzipiell ist davon auszugehen, dass mit Blick auf die kommenden drei bis neun Monate (aber wohl kaum vor den Zwischenwahlen in den USA) härtere Russlandsanktionen der USA auf den Weg gebracht werden. Die jüngsten Gesetzesvorhaben umfassen neben der vorherigen, von Marktteilnehmern als nuclear option bezeichneten US-Sanktionierung von russischen Staatspapieren sogar eine Steigerung der »Nuklearoptionen«. Es stehen umfassende blockierende US-Sanktionen im Raum, die alle Geschäfte von russischen Groß- bzw. Staatsbanken in den USA und auch im US-Dollar-Zahlungsverkehr betreffen könnten. Bisher ist nur eine längerfristige (Re-)Finanzierung sanktionierter russischer Banken untersagt.

Noch ist diese neue »Nuklearoption« vage formuliert, es besteht juristischer Klärungsbedarf. Eine Implementierung im Jahr 2018 oder in den kommenden sechs bis neun Monaten ist kaum denkbar. Diese Maßnahme würde Russland allerdings vor empfindliche Probleme stellen. Einerseits könnten Fremdwährungspositionen zwangskonvertiert werden, oder die Notenbank müsste andererseits in umfangreichem Ausmaß mit Liquidität aushelfen. Zudem erscheint es unwahrscheinlich, dass russische Firmen und westliche Firmen, die in Russland tätig sind, bei solch einem Szenario sämtlichen Zahlungsverkehr mit privaten russischen Banken (lokale Banken plus Töchter von Auslandsbanken) abwickeln können. Substitutionseffekte sind denkbar, allerdings wird in so einem Szenario kaum eine internationale Bank ihr Russlandgeschäft massiv ausweiten. Unklar ist auch, inwiefern die Notenbank zur Zahlungsabwicklung im Auslandsgeschäft eingesetzt werden könnte. Allerdings ist es unwahrscheinlich, dass alle auf der Sanktionsliste geführten Staatsbanken zugleich mit harschen blockierenden US-Sanktionen belegt werden – solange keine russische Einmischung in die US-Zwischenwahlen vorliegt. Eher wäre es im Sanktionsfalle denkbar, dass zunächst ein bis drei weniger bedeutende (Spezial-)Kreditinstitute mit klarem Politikmandat (also nicht unbedingt die »Sberbank« oder VTB) harsch sanktioniert würden. Zudem ist es politisch gesehen durch die Einführung einer neuen »Nuklearoption« wahrscheinlicher, dass zunächst eine größere Palette der bestehenden und teils schwächeren Sanktionsoptionen der bisherigen CAATSA-Gesetze – möglicherweise die Sanktionierung des Neuerwerbs russischer Staatsanleihen für US-Investoren – implementiert werden könnten. Wobei die ca. 30 Milliarden US-Dollar an OFS-Papieren in Ausländerhand ohne größere Verwerfungen lokal kompensiert werden könnten. Zumal auch im Falle einer Sanktionierung des Neuerwerbs durch US-Investoren (ab Sanktionsverabschiedung) nicht alle US- und Auslandsinvestoren zwangsläufig ihre bestehenden OFS-Positionen liquidieren würden. Eine blockierende Sanktionierung der Geschäfte und Zahlungen in US-Dollar aller russischen Staatsbanken auf einen Schlag wäre eine Maßnahme von gravierender Tragweite. Durch eine solche Radikalsanktionierung könnten je nach juristischer Ausgestaltung und de facto-Auslegung russlandbezogene Zahlungsströme und Zahlungsverpflichtungen (Bankforderungen, Exporte und Importe in Dollar, Schuldenrückzahlungen) im Umfang von 200–350 Milliarden US-Dollar direkt oder indirekt von US-Sanktionen betroffen sein; in einer niedrigeren Eskalationsstufe wären maximal 50–60 Milliarden US-Dollar gefährdet.

Auch wenn kurzfristig keine Eskalation bis zum Äußersten zu erwarten ist, sollten sich die im Raum stehenden US-Sanktionsoptionen negativ auf die internationalen Finanzierungsmöglichkeiten russischer Banken, die Kapitalmarktkonditionen und Liquiditätssituation auf dem lokalen Markt (vor allem die Liquidität in US-Dollar) und auf das Geschäftsklima insgesamt auswirken. Zudem haben die mit der Eskalation der US-Sanktionen im Jahr 2018 verbundenen Folgewirkungen vor Augen geführt, wie man in Teilbereichen auf internationale Einbettung angewiesen ist. Zudem scheint es die Stoßrichtung der Vereinigten Staaten zu sein, Russland nachhaltig wirtschaftlich zu begrenzen. Immerhin wird trotz sinkenden Anteilen das Gros des russischen Außenhandels immer noch in US-Dollar abgerechnet. Zuletzt wurden zwar »nur« noch ca. 35 Prozent der russischen Importe in Dollar abgewickelt (im Vergleich zu 40–45 Prozent vor fünf Jahren), im Export dominiert jedoch der US-Dollar. Hier liegt der Dollaranteil bei knapp unter 70 Prozent (gegenüber 80 Prozent vor fünf Jahren).

Sanktionen: Bis in die 2020er Jahre noch selektive internationale Integration am Finanzmarkt

Zunächst mehrten sich 2018 in Russland öffentliche Stellungnahmen, in denen negative Effekte westlicher Sanktionen auf Russlands Wirtschaft thematisiert wurden. Angesichts der jüngsten US-Eskalationen wird von einem »Wirtschaftskrieg« gesprochen. Es deutet viel darauf hin, dass man auf russischer Seite pragmatisch mit der Situation umgeht – ohne Aussicht auf grundsätzliche Entspannung. Die vielfältigen aktuellen (Handels-)Sanktionseskalationen der USA erlauben es der russischen Führung, international nicht als »schwarzes Schaf« dazustehen. Zumal auch eigennutzorientierte bzw. merkantilistische Elemente in den US-Sanktionen gegen Russland erkennbar sind (Rusal ist Konkurrent des US-Konzerns »Alcoa«, die »NordStream 2«-Pipeline ist nicht im energiewirtschaftlichen Interesse der USA, eine Dollar-Sanktionierung würde Russlands prominente Exportbranchen Energie und Waffen treffen). Längerfristig deutet derzeit alles darauf hin, dass die westlichen Russlandsanktionen mindestens die Dauer der wenig erfolgreichen (im Sinne der ursprünglichen Ziele) Sanktionsregime des Westens haben könnten. Das wären mindestens acht, vielleicht sogar über zehn Jahre. Zudem lässt das unkoordinierte Auseinanderdriften der Russland-Sanktionen der USA und jener anderer westlicher Staaten einen raschen und abgestimmten Rückbau äußerst unwahrscheinlich erscheinen. Die russische Notenbank rechnet in ihrem Basisszenario bereits mit einem Sanktionsfortbestand bis (mindestens) 2022. Zudem zeigen jüngste Entwicklungen in Bezug auf Iran, dass selbst eine derzeit nicht absehbare Lockerung der Russlandsanktionen durch die Europäer – bei Weiterbestand der US-Sanktionen – kaum Wirkungen entfalten dürfte.

Trotz westlicher Sanktionen möchte man auf russischer Seite – mit Signalwirkung – ein Mindestmaß an internationaler Finanzmarktintegration beibehalten. Der jüngste Verkauf US-amerikanischer Staatsanleihen bedeutete de facto nur eine Umschichtung in andere Vermögenswerte (Gold, teils IWF-Anleihen), die auch am internationalen und vor allem westlich dominierten Finanzmarkt gehandelt werden. Teils wurden US-Staatspapiere »nur« in Offshore-Standorte verschoben. Auch will der russische Staat gemäß aktueller Planung in den kommenden Jahren weiterhin, wie 2018, Staatsanleihen an den internationalen Märkten platzieren. Im Kontext der diplomatischen Spannungen mit Großbritannien emittierte Russland im März 2018 erfolgreich internationale langlaufende Staatspapiere in US-Dollar im Umfang von 4 Milliarden. Interessanterweise hat Russland durch seine internationale Emissionstätigkeit der letzten Jahre die Durchschnittslaufzeit seiner internationalen Staatsanleihen von sechs bis sieben Jahren auf fast zwölf Jahre erhöht. In den kommenden Jahren will das Finanzministerium weiterhin 3 Milliarden US-Dollar pro Jahr am internationalen Markt refinanzieren. Gleichzeitig droht Russland im Falle harscher US-Sanktionen gegen russische Staatsbanken mit massiver Vergeltung. Insofern untergräbt die US-Sanktionseskalation bewusst das Bestreben Russlands, neben der Stabilitätsorientierung Planbarkeit und Verlässlichkeit zu demonstrieren.

Steigende Extremrisiken trotz politischer Konzentration auf Planbarkeit

Insgesamt dominiert in der Wirtschaftspolitik – trotz steigender Unbeliebtheit des aktuellen Politikmix – das Motto »Mehr vom Gleichen«. Auch liberal orientierte Akteure – bestärkt durch die jüngste Eskalation der US-Sanktionen – setzen vorrangig auf die Themen Stabilitätsorientierung bzw. Planbarkeit. Angesichts der dadurch limitierten Möglichkeiten, BIP-Zuwachsraten von über 1,5–2 Prozent zu erreichen, steigt so das wirtschaftliche und politische Risiko einer lang anhaltenden Stagnation. Immerhin versuchen liberal orientierte Akteure, ein Mindestmaß an internationaler Einbettung im Wirtschaftsbereich zu bewahren. Derzeit ist aber noch nicht absehbar, ob dieses Kalkül durch harsche US-Sanktionen weiter beeinträchtigt wird. Der deutliche Rückbau an internationaler Finanzmarktintegration der letzten Jahre würde es, v. a. bei einem weiteren graduellen Rückbau, den USA wohl zunehmend einfacher machen, harsche unilaterale US-Finanzsanktionen gegenüber Russland – teils mit exterritorialer Wirkung – durchzusetzen. In so einem Szenario könnten der russische Staat und die Notenbank zu drastischen Schritten gezwungen werden, was den selbst gesteckten Zielen Stabilitätsorientierung und Planbarkeit zuwiderlaufen würde. Interessanterweise bestärkt die schwache Wirtschaftsentwicklung in Russland Hardliner in den USA, die unterstellen, das Land sei nur noch einen Schock (im Kontext einer globalen Wirtschaftskrise oder weiterer US-Sanktionen) von einer tiefschürfenden (Wirtschafts-)Krise entfernt.

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