Dystopische Wahlmonarchie

Von Dirk Uffelmann (Universität Passau)

Einleitung

Da hat die russische Wählerschaft Wladimir Wladimirowitsch Putin also eine vierte Amtszeit als Präsident der Russischen Föderation beschert. Wollte man dem vorläufigen offiziellen Wahlergebnis glauben, hätte er über 76 Prozent der abgegebenen Stimmen und damit zum vierten Mal gleich im ersten Wahlgang die absolute Mehrheit erhalten, diesmal zudem die höchste absolute Stimmenzahl aller russischen Präsidentschaftswahlen seit 2000. Diese postdemokratische Kontinuität eines stets aufs Neue wiedergewählten Amtsträgers erscheint nicht nur dem westlichen russlandkritischen Diskurs altbekannt (etwa Steven Lee Myers in seinem Buch »The New Tsar«, 2015), sondern wirkt auch aus einer ganzen Welle russischer literarischer und filmischer Dystopien der 2000er-Jahre mit deren Imaginationen von neoautoritären Herrschaftsformen vertraut.

Prophezeiungen

Deren Autorinnen und Autoren nehmen für sich in Anspruch, in ihren fiktionalen Extrapolationen einer undemokratischen Zukunft Russlands spätere politische Entwicklungen vorhergesehen zu haben. So meinte Viktor Pelewin 2000, mit den fiktiven Politiker-Dummies aus seinem Roman »Generation P« von 1999 die Manipulation des Wahlvolks mit fabrizierten Fernsehbildern vorhergesehen zu haben: »Als ich letzten Herbst in Berlin war, las ich in der Zeitung, unser Fernsehen habe [gefälschte] Bänder von Verhandlungen zwischen Berezowski und irgendwelchen tschetschenischen Kommandeuren ausgestrahlt – als ob jemand eines meiner Romankapitel verfilmt hätte.« (s. in d. Lesetipps: Keller: Im Paradies der Hölle, S. 6).

Vladimir Sorokin, der Altmeister des Moskauer Konzeptualismus, formuliert in seinen in der nahen Zukunft spielenden Texten seit 2006 nicht selbst vermeintliche Voraussagen, sondern greift den Diskurs der dystopischen Prophezeiung insgesamt auf und stellt aus, wie dieser Diskurs funktioniert. Den Anfang dieser metadiskursiven Inspektion von Dystopien machte er mit »Der Tag des Opritschniks« von 2006: Darin gebietet der mit »Gosudar« (»Herrscher«) angeredete Monarch eines Russlands von 2028 über eine Terrortruppe, die nicht zufällig den Namen der gefürchteten Opritschnina Iwans IV. (des »Schrecklichen«) trägt. Die vormodern anmutende Gewaltherrschaft des Monarchen wird im Roman mit futuristischen technischen Mitteln wie gasförmigen Nachrichtenblasen durchgesetzt, weshalb Mark Lipovetsky Sorokins Verschränkung von repressiven Methoden der Vormoderne mit avancierter Technologie 2012 als »Retrozukunft« beschrieben hat.

Diese Retrozukunft bestimmt auch Sorokins Episodenroman »Telluria« von 2013. Episode XXIII handelt vom sonnengebräunt-maskulinen Präsidenten eines künftigen Kleinstaats im südlichen Sibirien. Der fiktive Präsident namens Jean-François Trocart unternimmt darin eine Bergabfahrt mit futuristischem Fluggerät, das von Charles Lindbergh wie von James Bond her bekannt vorkommt, aber auch an Wladimir Putins theatralischen Ultraleichtflieger-Ausflug zur Begleitung sibirischer Kraniche vom 5. September 2012 erinnert.

Von den ins agrarische Mittelalter zurückgefallenen Einwohnerinnen und Einwohnern seiner gerade einmal das Altai-Gebirge umfassenden »Republik Tellurien« wird der über ihre Köpfe hinwegsegelnde Präsident, wie der Erzähler normativ behauptet, abgöttisch geliebt, was Trocart schon an der Form der Rauchsäulen aus ihren Berghütten ablesen zu können glaubt: »Im Tal kamen die ersten Bauernhütten in Sicht und Rauch, aufsteigender Rauch, Rauch, der nur eines bedeuten konnte: Wir warten auf dich, wir lieben dich [Präsident]. Er ward erwartet. Er ward geliebt.« (Siehe in d. Lesetipps: Sorokin: Telluria, S. 209).

… und die Person Putin

Präsident Putins Elektorat in der Provinz artikuliert seine abgöttische Liebe, indem es den superreichen Präsidenten aus der flächendeckenden System- und Korruptionskritik ausnimmt und den halb ernst gemeinten, halb ironischen Kult um die Person des Präsidenten in Form von Putin-Konterfeis auf T-Shirts, Smartphone-Hüllen, in Graffitis und populären Internet-Memen (inventarisiert in dem 2016 erschienenen Buch »W glawnoj roli« – »In der Hauptrolle. Putin in der Gegenwartskultur«) konsumiert – ein banaler, retrofuturistischer Monarchismus. Alle paar Jahre – durch theatralisch-futurologische TV-Inszenierungen wie die versetzte Rede zur Lage der Nation des Präsidenten am 1. März 2018 sichergestellt – manifestiert das Wahlvolk an der Urne seine ungebrochene Verehrung und wählt sich seinen Monarchen wieder, in den inneren Kolonien im Nordkaukasus und im fernen Osten des asiatischen Teils Russlands mit mehr als 90 % der Stimmen.

Lesetipps / Bibliographie

  • Keller, C.: Im Paradies der Hölle. E-mail-Grüße aus Moskau. Christoph Keller liest Viktor Pelewins Bücher und korrespondiert mit ihm über »Generation P«, in: Literaturen 2000, Nr. 11, S. 4–12.
  • Myers, S. L.: The New Tsar: The Rise and Reign of Vladimir Putin. London et al.: Simon & Schuster 2015.
  • Sorokin, V.: Telluria. Roman, a.d. Russ. von Kollektiv Hammer und Nagel. Köln: Kiepenheuer & Witsch 2015.
  • Uffelmann, D.: Eurasia in the Retrofuture: Dugin’s ‚tellurokratiia‘, Sorokin’s Telluriia, and the Benefits of Literary Analysis for Political Theory, in: Die Welt der Slaven 62.2017, Nr. 2, S. 360–384.

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