Chruschtschowka-Abriss. Zum neuen Stadtumbau-Programm der Moskauer Stadtregierung

Von Sergey Medvedev (Berlin)

Sieben Gründe, warum die Leute gegen »Renowazija« protestieren

Lew Pirogow, Verleger (Moskau)

1. Beraubung des Rechts auf Eigentum. Wenn eine Entscheidung über den Abriss eines Hauses getroffen wird, ist das Eigentumsrecht an dieser Wohnung annulliert. Das Eigentum »verschwindet«. Ihnen wird die Wohnung gegen das Versprechen genommen, dass Ihnen eine neue zur Verfügung gestellt wird. Ob sie besser oder schlechter wird, ist eine ganz andere Frage. […]

2. Alternativlosigkeit. Früher, noch beim Luschkowschen Umsetzungsprogramm [Juri Luschkow war 1992–2010 Bürgermeister Moskaus; d. Red.], bekamen die Leute drei verschiedene neue Wohnungen zur Auswahl angeboten. Heute gibt es nur eine Variante. Widerspruch einlegen ist nicht möglich.

3. Fristen. Früher wurden »Umsiedler« ein Jahr im Voraus über den bevorstehenden Umzug informiert. Nun haben sie innerhalb von 60 Tagen ihre Wohnungen zu verlassen.

4. Fehlender Schutz durch die Gerichte. Der »Umsiedler« hat nur in dem Fall das Recht, den Kommissionsbeschluss vor Gericht anzufechten, wenn ihm eine Wohnung mit einer kleineren Wohnfläche angeboten wird. Weder die Qualität der neuen Wohnung noch deren Katasterpreis (geschweige denn der Marktpreis), noch weitere Aspekte werden berücksichtigt.

5. »Äquivalenz« statt Gleichwertigkeit. Während eine Wohnung in der Nähe zum Stadtzentrum liegt und einen Marktwert von, sagen wir mal, 15 Millionen Rubel hat, würde eine Wohnung gleicher Größe am Stadtrand oder in »Neu-Moskau« (außerhalb der Stadt) nur drei [Millionen Rubel] kosten. Das Eigentum des »Umsiedlers« schrumpft auf ein Fünftel. Wem kann das gefallen?

6. Qualität der neuen Wohnung. Hierzu gibt es sehr unschöne Gerüchte. Im Netz gibt es genug Fotos von »Glückspilzen«, die bereits in »soziale« Hochhäuser am Stadtrand gezogen sind, und Erzählungen über zusammengebrochene Trennwände, geplatzte Rohrleitungen und mit Abwässern aus der Kanalisation überschwemmte Keller.

7. Fehlende soziale Infrastruktur in den neuen Stadtbezirken, den »Umsiedlungszonen«. Das heißt, es fehlen Kindergärten, Schulen, Arztpraxen, Lebensmittelläden. Eine naheliegende Metrostation zu erreichen, wird zum Problem. Das sind eigentlich nur Kleinigkeiten, wenn man reich und gesund ist, keine Kinder hat und »von fern« arbeitet.«

[…]

Das ist keine Verbesserung der Wohnsituation, sondern erinnert eher an die Kollektivierung (wenn man sich an die Geschichtsbücher erinnert) oder an das Enclosure in England. […]

Lew Pirogow am 28. April bei »Wsgljad«, <https://vz.ru/columns/2017/4/28/868254.html>

Reingefallen

Igor Nikolajew, Ökonom (Moskau)

»Die Moskauer Stadtregierung – und nicht nur die – ist in eine interessante Situation geraten, nämlich durch die Initiative zum massenhaftem Abriss von Chruschtschowkas und der Umsiedlung ihrer Bewohner in neue Häuser. Nach einer lautstarken Ankündigung und dem »OK« von oben zum Abriss von Chruschtschowkas begann die Moskauer Stadtregierung bald, sich an die Realisierung des Projekts zu machen: Vorbereitete Gesetzesentwürfe wurden mit »Freischein« zur Verabschiedung eingereicht; es fanden erste Gespräche der Bezirksbürgermeister mit den Einwohnern der zum Abriss vorgesehenen Häusern statt; es wurde im Moskauer Haushalt 2017 die Gesamtfinanzierung in Höhe von fast 100 Milliarden Rubel für die entsprechenden Arbeiten festgelegt, usw.

Irgendwas ist aber schiefgegangen: Die Bestimmungen der Gesetzesentwürfe widersprechen zu offensichtlich der Verfassung; die Einwohner Moskaus zeigten plötzlich großes Interesse an den Geschehnissen; und es stellte sich heraus, dass längst nicht alle bereit sind, sich so ganz ohne aufzumucken den Behörden unterzuordnen.

Es gibt also Probleme, große Probleme. Und was weiter? Zurück kann man nicht. Weitermachen, wie geplant, ist auch nicht mehr möglich. […]

Die Mehrheit der Umsiedler wird unzufrieden sein, weil sich bald herausstellen dürfte, dass das Problem so kurzfristig nicht zu lösen sein wird. Hier geht es um Jahrzehnte. Da sie ja Versprechungen gegeben haben, die zu klar überzogenen Erwartungen führten. Unzufrieden werden auch diejenigen sein, die letztlich nicht dorthin umgesiedelt wurden, wohin sie wollten. Unzufrieden werden auch jene sein, die unbeteiligt sind, die aber vor ihre Fenster neue Baustellen bekommen. Es wird also sehr viele Unzufriedene geben. Anders konnte es auch kaum kommen, wenn man mit leichter Hand Probleme solcher Dimension zu lösen versucht.

Igor Nikolajew am 2. Mai 2017 bei »Echo Moskwy«, <http://echo.msk.ru/blog/nikolaev_i/1973528-echo/>

Wer wird mit den Banken über Hypotheken verhandeln?

Ilja Klischin, Journalist (Moskau)

»Noch etwas zu den Chruschtschowkas und zum Abriss. Heute habe ich eine Geschichte gehört. Ein Mann hatte eine Hypothek aufgenommen und eine gute Wohnung in einem guten Bezirk gekauft. Abzahlen muss er noch sehr lange. Wer wird nun mit der Bank verhandeln? Die Moskauer Stadtregierung? Onkel Wasja? Puschkin? Auf welcher Grundlage? Ich nehme an, von solchen Menschen dürfte es nicht wenige geben.«

Ilja Klischin am 25. April auf Facebook, <https://www.facebook.com/ilya.klishin/posts/10211418320568056>

Es gibt sehr viel Fragen

Andrej Netschajew, Wirtschaftsminister a.D. (Moskau)

»Ich studiere weiterhin das Thema Zwangsabriss der Häuser und Umsiedlung der Bewohner. Außer dem individuellen Eigentumsrecht auf eine Wohnung haben sie noch ein kollektives Recht auf das Grundstück unter dem Gebäude. Auf welcher Grundlage sollen denn diese enteignet werden?! Es ist klar, dass auf Eigentümer in einem fünfstöckigen Haus ein größerer Anteil am Grundstück entfällt, als bei einem Haus mit 12 oder 18 Etagen. Wie sieht es hier mit der versprochenen Äquivalenz aus? Ganz zu schweigen von der Preisdifferenz, beispielsweise in Tscherjomuschki und Neu-Moskau. Es gibt da sehr viele Fragen!«

Andrej Netschajew am 23. April 2017 auf Facebook, <https://www.facebook.com/aanechaev/posts/10207396940356666>

Das ist kein Eigentum

Semjon Kwascha, Journalist (Moskau)

»[…] Bei der Geschichte mit den Wohnungen in fünfstöckigen Häusern, und in ekelhaften Platten mit einer Deckenhöhe von 2,40 Meter, und in wunderschönen Backsteinhäusern mit geräumigen Küchen und soliden Wänden – dem Traum der Mittelschicht – sind die Regeln immer gleich: sie sind kein Eigentum. Die Wohnungen wurden ursprünglich »verteilt« (nur nicht die Genossenschaftswohnungen, die es aber weder in den Chruschtschobas [=Chruschtschowka; iron. Wortbildung aus Chruschtschow und Truschtschoba (»Slum«); d. Red.] noch in den Häusern aus (nach)stalinscher Zeit gibt). Sie wurden privatisiert, das heißt kostenlos übernommen, nachdem man eine kleine Gebühr gezahlt hatte. Sie sind kein Eigentum, gehören niemandem. Selbst wenn sie für höllische Millionen per Knebeldarlehen gekauft wurden, ist ihr Ursprung der gleiche, wie bei einem geklauten Teller. Ganz zu schweigen von der Tatsache, dass die privaten Wände, Boden und Decken in der Regel auf städtischen, nicht privatisierten Grundstücken stehen. All das ist kein Eigentum, weder leasehold noch freehold. Sie besitzen alles unter Vorbehalt, aus Gnade. Das ist im ganzen Land so (und auch in vielen Ecken der Welt, wobei allerdings dort die Rechte und Einschränkungen in einem ordentlich entwickelten Rechtssystem festgeschrieben sind, und der »Besitzer« sie normalerweise kennt), und in Moskau in einem besonderen Ausmaß, weil Immobilien hier besonders teuer sind. Ein Fazit kann es hier nicht geben, außer Flüchen, die Sie aber auch ohne mich gut können. Na, ja, was aber nicht heißt, dass Sie nicht mein Mitgefühl haben. […]«

Semjon Kwascha am 14. März 2017 auf Facebook, <https://www.facebook.com/semenkvasha/posts/10202903233338050>

Das ist ein Beispiel einer neuen russischen Autokratie

Nezygar, Blogger (Moskau)

»Sobjanins ›Renowazija‹ zeigt uns eine gewisse »Renovierung« des Regimes. Die alte Bürokratenschaft […], die wir mit ihren adligen Gewohnheiten, ihrem Überlegenheitsbewusstsein und ihrer gönnerhaft-herablassenden Haltung gegenüber den Leuten gewohnt sind, wird von anderen Leuten abgelöst.

Sie sind nicht einfach nur zynisch, sondern betrachten die Bewohner der Stadt ganz offen als gewöhnliche Ressourcen, die man maximal ausnutzen muss; [es sind Leute,] die jegliche moralisch–ethische Bewertung ihres Handelns verbannt haben, die auf aus- und schöngedachte effektive Ergebnisse ausgerichtet sind. Das Team von Sobjanins Managern ist ein erstes Beispiel für die Phänomenologie des »neuen Regimes«, das die moderne russische Autokratie gerade errichtet. […]

Vor diesem Hintergrund sind die Kreml-Teams, Teams aller Couleur, die alten Teams Luschkows oder der »Familie« [unter Jelzin] bloß nette, wundersame Menschen der Vergangenheit. Bisweilen abstoßend, gierig, mit geschwollenen Gesichtern und Gefühlen, aber doch in der Lage anzuhalten, einen Schritt zurück zu machen, und in der Lage, ungelenk Geschenke zu verteilen.

Sobjanins Leute sind anders: Sie peitschen aus, nehmen Haus und Grundstück weg, reißen Verwandte auseinander…; und dich schicken sie in den Verkauf oder ins Bergwerk. Und dann legen sie noch bei Nachbarn Feuer, damit die Macht der Technobürokratie auch allen klar wird.«

Blogger »Nezygar« am 1. Mai 2017 auf »BestToday«, <http://besttoday.ru/subjects/3039.html#84388>

Ausgewählt und eingeleitet von Sergey Medvedev, Berlin

(Die Blogs, auf die verwiesen wird, sind in russischer Sprache verfasst)

Zum Weiterlesen

Artikel

Antirevolutionäre Revolutionserinnerungspolitik: Russlands Regime und der Geist der Revolution

Von Il’ja Kalinin
Russlands Führung steht im Jahr 2017 vor einer Herausforderung: Sie muss Erinnerung an die Oktoberrevolution in ein Geschichtsbild verpacken, das Revolutionen als solche ablehnt. Ihre zentrale Botschaft lautet: Versöhnung. Doch es geht nicht um den Bürgerkrieg 1917–1920. Die Vergangenheit ist nur vorgeschoben. Es geht darum, jede Form von Kritik am heutigen Regime als Bedrohung des gesellschaftlichen Friedens zu diffamieren und mit dem Stigma zerstörerischer revolutionärer Tätigkeit zu belegen. (…)
Zum Artikel auf zeitschrift-osteuropa.de
Analyse

Internationale Förderung und politische Kultur in der russischen Zivilgesellschaft. Das Beispiel der NGOs in der Behindertenhilfe

Von Christian Fröhlich
Am Beispiel von Hilfe für Menschen mit Behinderungen wird gezeigt, dass internationale Förderung russischer NGOs zwar ein wichtiges Standbein zivilgesellschaftlicher Entwicklung in Russland ist. Doch aufgrund eines selektiven Modus der Partnerwahl und des Transfers von inhaltlichen und strukturellen Charakteristika westlicher Institutionen spaltet sich die russische NGO-Gemeinschaft entlang der Bewerbungserfolge bei internationaler Unterstützung. Während westlich geförderte NGOs ihre Prioritäten hin zu Menschenrechtsaktivitäten und Öffentlichkeitsarbeit verschieben und damit den Widerstand staatlicher Strukturen heraufbeschwören, halten die nicht geförderten NGOs an einer sozialen Partnerschaft mit dem Staat fest, die aber wenig Erfolge bei der sozialen Integration marginalisierter Bevölkerungsgruppen verzeichnet.
Zum Artikel

Logo FSO
Logo DGO
Logo ZOIS
Logo DPI
Logo IAMO
Logo IOS