Was ist es, das Russland zu verteidigen versucht?

Von Andrei Yakovlev (Moskau)

Ein »streitbares Russland«

In diesem Beitrag möchte ich – dem Ansatz von Silvana Malle aus dem Jahr 2016 folgend (s. die Lesetipps) – die Gründe für Russlands »streitbare Wende« in seinen Beziehungen zum Westen analysieren, wie auch die Faktoren, die dem in unterschiedlichen Phasen (vor der Krise von 2008/09, nach dem arabischen Frühling 2011 und nach den Ereignissen auf der Krim und in der Ukraine 2014) zugrunde lagen. Darüber hinaus werde ich die Verschiebungen in der Sozialstruktur der russischen Gesellschaft analysieren, die in den 2000er Jahren erfolgten, wie auch den Wandel der patriotischen Stimmung, die in der Öffentlichkeit nach der Angliederung der Krim an Russland zu Tage traten. Das bildet die Grundlage für eine Betrachtung der Faktoren und Ressourcen, die Russland angesichts der Sanktionen und der internationalen Isolation für seine Entwicklung einsetzen könnte. Abschließend möchte ich zudem die wichtigsten Herausforderungen und Risiken beleuchten, denen sich Staat, Regierung und die Gesellschaft nach der Angliederung der Krim und dem Beginn des militärischen Konfliktes in der Ukraine gegenübersehen.

Vorgeschichte der (streitbaren) »Wende« in Russlands Beziehungen zum Westen

Auf den ersten Blick (insbesondere aus der Sicht externer Beobachter) mag es scheinen, dass die dramatische Wende in der russischen Innen- und Außenpolitik vor allem mit den Ereignissen 2014 auf der Krim und in der Ostukraine zusammenhängt. Ich meine allerdings, dass der grundlegende Wandel in der Innen- und Außenpolitik viel eher begann, nämlich Mitte der 2000er Jahre. Darüber hinaus haben sich die Grundkonzepte, die diesem »neuen politischen Kurs« zugrunde liegen, mit der Zeit geändert und dabei mindestens vier Phasen durchlaufen. Meine Sicht der allgemeinen Merkmale dieser Phasen wird in Tabelle 1 dargestellt.

Tabelle 1: Hauptphasen der innen- und außenpolitischen Entwicklung Russlands seit Anfang der 2000er Jahre in der Logik des Konzepts »streitbares Russland«

Die erste der in Tabelle 1 aufgeführten Phasen war zwar vorwiegend von partnerschaftlichen Beziehungen zum Westen gekennzeichnet, ist aber für das Verständnis des weiteren Entwicklungsmusters von sehr großer Bedeutung. Eines der Schlüsselelemente der nächsten Phase war die Sicherstellung der wirtschaftlichen Unabhängigkeit Russlands. In den vorherigen fast 15 Jahren waren weder die Sowjetunion, noch anschließend Russland in der Lage, genügend Haushaltseinnahmen zu erreichen, um den eigenen Ausgabenverpflichtungen nachzukommen. Dies bedeutete den Zwang, westliche Anleihen aufzunehmen, die unter den gegebenen Bedingungen als Druckinstrument gegenüber dem sowjetischen und später russischen Staat wahrgenommen wurden.

Die Außenpolitik jener Zeit war trotz der Spannungen um den Konflikt im ehemaligen Jugoslawien von vorwiegend herzlichen Beziehungen zum Westen gekennzeichnet. Die emotionale Reaktion auf die Anschläge vom 9. September 2011 und das Mitgefühl für die Amerikaner sind hier besonders zu erwähnen. Insgesamt kann der Kampf gegen den Terrorismus als ein wichtiger Faktor betrachtet werden, der Russland mit dem Westen vereinte. Russlands Offenheit hinsichtlich einer angemessenen Zusammenarbeit hat allerdings in jener Zeit keine adäquate Antwort durch den Westen erfahren. In diesem Kontext wurde der NATO-Beitritt einer großen Gruppe osteuropäischer Länder im Jahr 2004 von der russischen Führung als ein wichtiges, negatives Signal betrachtet.

Der Wechsel zu einem »neuen Kurs« ab 2004 stand im Zusammenhang mit einer ganzen Reihe von Ereignissen. Zunächst ist da die Jukos-Affäre zu nennen, die objektiv den akuten Konflikt zwischen den unterschiedlichen wichtigen Gruppierungen innerhalb der Elite wiederspiegelte, die im Kampf um die Kontrolle über die Renten aus natürlichen Ressourcen standen (Yakovlev, Andrei: The Evolution of Business–State Interaction in Russia: From State Capture to Business Capture, in: Europe-Asia Studies, 58.2006, Nr. 7, S. 1033–1056). Die Niederlage, die die Großunternehmen in diesem Konflikt erlitten, war von einer massiven Unterstützung begleitet, die die herrschende politische Elite bei den Parlaments- und Präsidentschaftswahlen 2003 und 2004 erhielt. Dies erfolgte vor dem Hintergrund der Verhaftung von Michail Chodorkowskij, was zu einem Wandel in der Kräftebalance innerhalb der herrschenden Koalition führte, die nun offen von Vertretern der föderalen Bürokratie und der Sicherheitsbehörden, den sogenannten Silowiki dominiert wurde, die mit den geopolitischen Ergebnissen der 1990er Jahre unzufrieden waren. Die großen Unternehmen, die dem Westen gegenüber stets pragmatischer eingestellt waren, fanden sich anschließend in einer offensichtlich untergeordneten Position wieder.

Als Zweites haben die »farbigen Revolutionen« in Georgien, der Ukraine und in Kirgistan 2003 bis 2005, die von den Vereinigten Staaten und führenden europäischen Staaten ermutigt wurden, eine erhebliche Rolle beim politischen Kurswechsel Russlands gespielt. Der konservative Teil der russischen Elite betrachtete eine Unterstützung dieser neuen Regime durch den Westen und insbesondere durch die USA als Beeinträchtigung der russischen Interessen im postsowjetischen Raum (Karaganow, Sergej: Nowaja epocha protiwostojanija, in: Rossija w globalnoj politike, 2007, Nr. 4; <http://www.globalaffairs.ru/number/n_9235> [russ.]).

Das stürmische Wirtschaftswachstum Mitte der 2000er Jahre und der dramatische Anstieg der Ölpreise, der von einem Strom an Direktinvestitionen und einem Ende der Kapitalflucht begleitet wurde, haben ebenfalls zu dem Schwenk hin zum »neuen Kurs« beigetragen. In Kombination mit der Abhängigkeit europäischer Länder von russischen Energielieferungen hat all das an der Spitze der politischen Eliten die Wahrnehmung erzeugt, dass Russland den Status einer Energie-Supermacht habe und Russlands weltpolitische Rolle wiederhergestellt werden müsse. Ich bin überzeugt, dass Putins allseits bekannte Rede auf der Münchener Sicherheitskonferenz 2007 als konzentrierte Manifestation dieses neuen Kurses betrachtet werden kann.

Die Krise von 2008/09 mit einem in Russland besonders starken Rückgang des BIP hatte sehr deutlich gemacht, dass das Entwicklungsmodell der Wirtschaft, für das sich Russland in den 2000er Jahren entschieden hatte, nicht zu den neuen Realitäten passte. Der Anspruch auf eine veränderte Rolle in der Weltpolitik konnte nicht durch ein ausreichendes Wirtschaftspotential gestützt werden. Als man sich dieses Umstandes bewusst wurde, erfolgten Forderungen nach einer Modernisierung (verkündet unter anderem durch den neuen Präsidenten Dmitrij Medwedew) und es gab 2009–2011 den Versuch eines Dialogs mit Unternehmern und Experten.

Schlüsselelemente des »neuen Kurses«

Ab Mitte 2012 wurde ein neuer Schwenk klar erkennbar, nämlich in Richtung einer »streitbaren« Politik (mit Versuchen, die politische Opposition zu unterdrücken, einem verstärkten Druck auf NGOs durch die Verabschiedung des Gesetzes über »ausländische Agenten« sowie einer Intensivierung der antiamerikanischen Rhetorik). Aus formalistischer Sicht lässt sich dies als »konservative« Reaktion auf die Massenproteste im Winter 2011/12 gegen die Fälschungen bei den Parlamentswahlen betrachten. Meiner Ansicht nach sind die tieferen Gründe für diese Wende in den Ereignissen des arabischen Frühlings zu sehen. Die Reihe von Revolutionen in arabischen Ländern im Frühjahr 2011 stellte einen starken »externen Schock« für die politische Elite Russlands dar, der eine vergleichbare Wirkung hatte, wie 1968 der Prager Frühling auf die Spitze der sowjetischen Elite. Die Furcht vor einer möglichen Entwicklung in Russland, die den Szenarien in Ägypten oder Libyen folgte, lösten angesichts der politischen Massenproteste gegen die Wahlfälschungen vom Dezember 2011, die in Moskau und anderen großen Städten stattfanden, eine »Abwehrreaktion« aus, die unterschiedliche Formen annahm.

In erster Linie sollte hier eine Reihe von Maßnahmen erwähnt werden, die auf eine Verbesserung des Wirtschaftsklimas abzielten. Die radikalsten Maßnahmen dieses Pakets wurden im Frühjahr 2012 verabschiedet, während der Präsidentschaftswahlen, so dass angenommen werden kann, dass die Regierung damit den Versuch unternahm, Unternehmen (vor allem mittlere und kleine) von einer Unterstützung der politischen Opposition abzuhalten.

Auch die Anhebung der Einkommen von öffentlichen Angestellten (die für das Regime eine große Unterstützergruppe darstellen) kann als wichtiger Teil der Reaktion auf die politischen Proteste von 2011/12 betrachtet werden. Die Verantwortung für die Umsetzung dieser Maßnahme wurde allerdings den Regionalregierungen aufgebürdet, was dann zu einer dramatischen Zerrüttung der regionalen Finanzen führte: Das durchschnittliche Defizit der Regionalhaushalte (bezogen auf die eigenen Haushaltseinnahmen der Regionalregierungen) erhöhte sich von 4 Prozent im Jahr 2012 auf 8 Prozent im Folgejahr. Erwähnenswert sind auch die verstärkte Betonung der Korruptionsbekämpfung, zu der auch die hastige Verabschiedung eines Gesetzes im Frühjahr 2012 zählt, durch das Amtsträger ihre Ausgaben deklarieren müssen und bei Diskrepanzen zwischen Einkommen und Ausgaben zur Verantwortung gezogen werden können.

Eine weitere Reaktion auf die Proteste 2011/12 war der Druck auf die politische Opposition (der mit der Auflösung der Demonstration auf dem Bolotnaja-Platz am 6. Mai 2012 und den nachfolgenden Prozessen gegen Demonstrationsteilnehmer begann) und eine verschärfte Kontrolle der Arbeit von NGOs durch das Gesetz über »ausländische Agenten«. Nach Putins Sieg bei den Präsidentschaftswahlen verstärkte sich die antiwestliche und antiamerikanische Rhetorik in der Staatsduma und den regierungsfreundlichen Medien. Zu beachten ist auch die fortgesetzte Erhöhung der Ausgaben für Verteidigung und innere Sicherheit.

Diese politische Wende wurde von Versuchen begleitet, eine »alternative Ideologie« zu entwickeln. So wurde mit informeller Unterstützung durch den Kreml im Herbst 2012 der ultrakonservative »Isborsker Klub« gegründet, der umgehend in den Medien aktiv wurde. Zu den Schlüsselfiguren des »Isborsker Klubs« gehören die Wirtschaftswissenschaftler Michail Deljagin und Sergej Glasjew sowie die Publizisten Alexander Prochanow, Alexander Dugin und Maxim Kalaschnikow. In ihrem ersten, im Januar 2013 veröffentlichten Bericht erörtern die Experten des Isborsker Klubs das Unausweichliche eines »dritten Weltkriegs«, der innerhalb der kommenden 5 bis 7 Jahre zu erwarten, von der globalen Finanzoligarchie losgetreten und hauptsächlich gegen Russland gerichtet sein werde. Daher auch das Argument, Russland sei eine »belagerte Festung« und es habe im Geiste Peters des Großen und Stalins eine Mobilisierung zu erfolgen.

Auswirkungen des »neuen Kurses« auf das Verhalten wirtschaftlicher Akteure

Die erwähnten Maßnahmen, mit denen die Kontrolle über den politischen Prozess wiedergewonnen und die Unterstützung für das Regime durch die wichtigsten Bevölkerungsgruppen gewährleistet werden sollte, hatten widersprüchliche Auswirkungen auf das Verhalten der Wirtschaftssubjekte und der Staatsfunktionäre. Unter anderem war bereits 2012 klar, dass der Staat nicht über die nötigen Ressourcen verfügte, um gleichzeitig eine Steigerung der Finanzierung des öffentlichen Sektors und einen beschleunigten Anstieg der Militärausgaben stemmen zu können. Das führte zu verstärkter Kapitalflucht. Auch der erhöhte Druck auf die Bürokratiemaschine im Kampf gegen Korruption hatte widersprüchliche Folgen. Der verstärkte Druck auf die Verwaltung erhöhte das Risiko für Funktionäre, falls diese in irgendeiner Art Initiative zeigten, und schwächte ihre Motivation, für ein günstiges Umfeld zur wirtschaftlichen Entwicklung zu sorgen. Im Ergebnis wurde bereits 2013 eine beträchtliche Abschwächung des Wirtschaftswachstums (nur 1,3 % anstelle der zu Jahresbeginn noch einmütig auf Grund der recht stabilen Ölpreise prognostizierten 3–3,5 %), ein Investitionsrückgang und ein gestiegener Kapitalabfluss verzeichnet. Der Rückgang an politischer Unterstützung (der die Umfragewerte Putins ab dem Sommer 2013 sinken ließ), der vor diesem Hintergrund erfolgte, ist gleichfalls von Bedeutung. Meiner Ansicht nach haben diese Prozesse die Bühne für die nächste Entwicklungsphase der russischen Innen- und Außenpolitik bereitet, die wir seit den Ereignissen in der Ukraine 2014 erleben.

Die Entwicklung in der Ukraine um den Jahreswechsel 2013/14, die in den erzwungenen Abgang von Präsident Viktor Janukowytsch mündeten, waren Folge einer zutiefst unangemessenen Politik, wie sie jeweils von den interessierten Parteien verfolgt worden war – von Russland, der Europäischen Union und den Vereinigten Staaten. Eine nicht weniger beklagenswerte Rolle hat das vollkommen selbstbezogene Verhalten der ukrainischen Elite gespielt. Über zwanzig Jahre lang hatten sich Angehörige der Elite Fehden um eine Kontrolle über die Rentenströme geliefert sowie mit den Konflikten zwischen Russland und Europa spekuliert, statt sich dem Aufbau normaler Institutionen im eigenen Land zu widmen.

Gleichwohl sollte die Krise in der Ukraine im Kontext der aktuellen Entwicklung wohl eher als Mobilisierungsfaktor für sozialen Rückhalt des bestehenden politischen Regimes in Russland gesehen werden. In der Tat haben es die Polittechnologen des Kreml mit Erfolg vermocht, die patriotischen Stimmungen aufzugreifen, die sich in den 2000er Jahren in Russland aufgebaut hatten.

Gleichzeitig hatte das praktische Vorgehen zur Angliederung der Krim radikale Auswirkungen auf die außenpolitische Situation und auf Russlands Beziehungen zu Europa und den USA. Bis zu diesem Zeitpunkt war die russische Führung in der Lage gewesen zu manövrieren, wobei sie die antiwestliche Rhetorik entweder verschärfte oder eben abmilderte. Die Ereignisse auf der Krim und der Beginn des militärischen Konfliktes in der Ukraine haben schließlich die letzten Überbleibsel des früheren Vertrauens zwischen den Seiten zerstört und könnten zu einem Punkt geworden sein, hinter den es in Bezug auf eine Wiederherstellung einer normalen Interaktion zwischen Russland, der EU und den USA, wie sie die vergangenen 25 Jahren bestanden hatten, kein Zurück mehr gibt. Im Bereich der Wirtschaft manifestierte sich die Wende in internationalen Sanktionen durch den Westen und in Russlands Embargo auf Nahrungsmittelimporte.

Die Experten sind zwar zu unterschiedlichen Einschätzungen der quantitativen Verluste durch die internationalen Sanktionen gelangt, doch liegt es auf der Hand, dass die Sanktionen (vor allem die finanziellen) ernstzunehmende Auswirkungen auf die Wirtschaft Russlands hatten.

Angesichts der spürbaren negativen Folgen der Sanktionen versuchte die russische Führung, die Verluste im Europa-Handel in den Wirtschaftsbeziehungen durch eine scharfe Wende nach Osten, vor allem in Richtung China zu kompensieren. Es wurde allerdings bald klar, dass China trotz einiger gemeinsamer geopolitischer Interessen keine Absicht hat, Russland beträchtliche Unterstützung zu gewähren, und weiter seine eigenen pragmatischen Interessen verfolgen dürfte.

In diesem Kontext kann Russlands Vorgehen in Syrien als eine »asymmetrische Antwort« auf die festgefahrene Situation betrachtet werden, die durch die Krise in der Ukraine entstanden ist. Die Sackgasse besteht hier in dem Umstand, dass alle an der Krise Beteiligten (einschließlich der EU, Russlands und der derzeitig herrschenden Elite in der Ukraine) erhebliche Verluste und Risiken zu bewältigen haben, gleichzeitig aber nicht einen Kompromiss wagen können, ohne in beträchtlichem Maße das Gesicht zu verlieren.

Schlussbemerkung

Abschließend möchte ich auf vorläufige Ergebnisse eines aktuellen Forschungsprojekts des Instituts für Industrie- und Marktstudien der »Higher School of Economics« (HSE) verweisen, in der Strategien ausländischer Unternehmen analysiert werden, die auf dem russischen Markt tätig sind. Das Projekt umfasst eine Reihe von Interviews, die 2015–2016 mit Vertretern von Wirtschaftsverbänden geführt wurden, zu denen sich ausländische Firmen zusammengeschlossen haben (»American Chamber of Commerce«, »Association of European Business«, »Deutsch-Russische Auslandshandelskammer«, »Russian-British Chamber of Commerce« u. a.). Ungeachtet der internationalen Sanktionen äußerten die Interviewten die Bereitschaft, in Russland weiterzuarbeiten, und erwähnten dabei langfristige Wettbewerbsvorteile des russischen Marktes. Zu den genannten Vorteilen gehörten folgende:

Das Vorhandensein einer Reihe natürlicher Ressourcen (neben dem Öl sind das Metalle, Holz, landwirtschaftliche Flächen usw.). Im Gegensatz zu den Überlegungen zum »Ressourcenfluch«, die von Skeptikern angestellt werden und typisch für russische liberale Experten sind, betrachten Unternehmensvertreter die reichen Vorkommen natürlicher Ressourcen einhellig als einen substantiellen potentiellen Vorteil für Russland.Erhebliche strukturelle Schieflagen in der Wirtschaft (die von der sowjetischen Planwirtschaft geerbt und in den 25 Jahren nicht überwunden wurden). Für viele Firmen bedeuten diese Verzerrungen aber, dass Marktnischen bestehen, die auf viele Jahre hinaus Verkaufschancen bieten.Hohes Qualifizierungsniveau der Arbeitskräfte. Ungeachtet der Kritik vieler russischer Experten wegen eines Rückgangs der Bildungsqualität ist die Qualifizierung der Arbeiter in Russland nach Einschätzung ausländischer Firmen im Schnitt immer noch besser als in anderen Schwellenländern, was Möglichkeiten für High-Tech-Produktionsstandorte in Russland eröffnet.Hoher Urbanisierungsgrad. Ein beträchtlicher Teil der städtischen Bevölkerung erzeugt in Kombination mit hohem Bildungsniveau und steigenden Einkommen eine massenhafte Nachfrage nach mittel- und hochqualitativen Konsumgütern.

Nach Ansicht der Befragten hatte das Zusammenspiel all dieser Faktoren vor 2014 in Russland die Möglichkeit eines nachhaltigen, langfristigen Wirtschaftswachstums mit einer Rate von jährlich 5–5 Prozent bedeutet. Den Interviewpartnern zufolge ist dieses Potential wegen einer unangemessenen Wirtschaftspolitik und wegen des Misstrauens der Unternehmen gegenüber dem Staat nicht ausgeschöpft worden. Selbst jetzt, trotz der in den kommenden Jahren unausweichlichen Spannungen mit den entwickelten Ländern, trotz des beschränkten Zugangs für russische Unternehmen zu Kapital und Technologien und trotz einer gewissen Wahrscheinlichkeit, dass die Ölpreise langfristig auf einem niedrigen Niveau verharren werden, ist das Wirkungspotential der oben erwähnten Faktoren nicht verschwunden. Russland hat immer noch Entwicklungspotentiale.

Die Umsetzung in der Praxis verlangt allerdings eine Bereinigung des oben beschriebenen systemimmanenten Konflikts und die Entwicklung eines neuen Übereinkommens zwischen den wichtigsten Gruppierungen innerhalb der Elite. Gleichermaßen ist ein neuer Sozialvertrag zwischen Elite und Gesellschaft vonnöten. Diese Prozesse verlangen nach der Ausarbeitung einer neuen Entwicklungsstrategie und nach einer neuen Zukunftsvision, die Antworten auf folgende Fragen bereithält: Was ist es, das Russland mit seiner »streitbaren« Politik verteidigt? Im Namen welcher Ideen und Werte ruft der Staat Eliten und Gesellschaft zu Selbstbeschränkung und Opfern auf? Russland wird von denjenigen regiert werden, die auf diese Fragen überzeugende Antworten bieten können.

Übersetzung aus dem Englischen: Hartmut Schröder

Über die Autorin

Andrei Yakovlev ist Direktor des Instituts für Industrie- und Marktstudien der »Higher School of Economics« (HSE).

Dieser Beitrag wurde als Teil eines vom Grundlagenforschungsprogramm 2015–2017 der HSE unterstützten Forschungsprojektes verfasst und reflektiert die Diskussion des von Prof. Silvana Malle im Juni 2015 organisierten Panels »Militant Russia« im Rahmen der Jahreskonferenz des Zentrums für Russland-, Europa- und Eurasienstudien (CREES) der Universität Birmingham. Der Beitrag ist auf der internationalen Konferenz »Eastern Europe’s New Conservatives. Varieties and Explanations from Poland to Russia« des Osteuropa-Instituts der Freien Universität Berlin (9.–10. Februar 2017) vorgestellt und hierzu überarbeitet worden. Der Autor dankt Silvana Malle und Julian Cooper sowie Iikka Korhonen für ihre Kommentare zu einer früheren Fassung dieses Beitrags.Der vorliegende Artikel ist Teil einer Diskussion, die sich auf einen Aufsatz von Silvana Malle bezieht (vgl. auch die Lesetipps). Darin hatte die Autorin sich mit der russischen Wirtschaftspolitik der dritten Amtszeit Wladimir Putins auseinandergesetzt und diese als Teil einer neuen Ordnung beschrieben, die sie mit dem Begriff »Militant Russia« kennzeichnete. Der Begriff lehnt sich an den Terminus »streitbare Kirche« (ecclesias militans) an und kann mit »militantes/streitendes/streitbares Russland« eingedeutscht werden. Silvana Malle umreißt damit das politisch-ökonomische System, das seit 2014 hervorgetreten ist: »…Russlands neue Ordnung, die in diesem Beitrag als Streitbares Russland (Militant Russia) charakterisiert wird. Es ist eine Ordnung, die im Entstehen begriffen ist, ein patriotisches Konstrukt, das in einem korporatistischen Rahmen gesteigerter Sorgen um Sicherheit Gestalt annimmt.« (s. Malle, Silvana: Economic sovereignty. An agenda for Militant Russia, in: Russian Journal of Economics, 2.2016, 2 (Juni 2016), S. 111–128 <http://www.sciencedirect.com/science/article/pii/S2405473916300150>, S. 112). Anmerkung der Redaktion.


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