Ein Blick in die Hölle

Von Jens Siegert (Moskau)

Am 23. November machte Memorial eine Datenbank mit knapp 40.000 Namen von Mitarbeitern der sowjetischen Geheimpolizei NKWD aus den Jahren 1935 bis 1940 online zugänglich (http://www.memo.ru/d/279744.html). Eigentlich nichts Ungewöhnliches und auch nichts Neues, denn diese Liste derer, die den Großen Terror 1937/38 durchgeführt und verwaltet haben, gab es bereits vorher auf CD oder konnte im Archiv von Memorial eingesehen werden. Offenbar aber hat online inzwischen eine viel stärkere Wirkung als jede andere Publikationsform, ist es ein großer Unterscheid, ob man sich per Post oder per Telefon darum bemühen muss, eine CD zugeschickt zu bekommen oder ob man einfach einen Link anklickt. Jedenfalls brach sofort ein Sturm über Memorial ein. Die Website brach wegen des großen Andrangs am ersten Tag zusammen (was – falsche – Spekulationen über eine DDOS-Attacke auslöste) und ist bis heute nur zu erreichen, weil andere Teile der Memorialwebsite zumindest teilweise abgeschaltet oder umgeleitet wurden.

Die Komsomolskaja Prawda (KP), ein immer eilfertiges Linienblatt des Kremls, schrieb über einen angeblichen »Brief von Nachkommen der Mitarbeiter der NKWD«, in dem die sofortige Sperrung der Website gefordert wurde, da zu befürchten sei, dass die »Kinder, Enkel und Großenkel von Repressierten« sich für ihre verfolgten Vorfahren »rächen« könnten. Der Brief stellte sich später als journalistische Erfindung heraus und der entsprechende Artikel ist inzwischen nicht mehr im Netz zu finden. Später schaltete die KP um und forderte Nachkommen der NKWD-Mitarbeiter auf, ihre Geschichten einzusenden (http://www.omsk.kp.ru/daily/26612.7/3629151/). Zuvor hatte sie schon ein durchaus vernünftiges Interview mit Jan Ratschinskij, Vorstandsmitglied von Memorial, unter der Überschrift »Sie waren nicht alle Henker« veröffentlicht (http://www.kp.ru/daily/26611.4/3628345/).

Auch der Kreml reagierte. Putin-Sprecher Dmitrij Peskow nannte die veröffentlichten Daten »äußerst sensibel« und verwies darauf, dass es darüber in der Gesellschaft »radikal gegensätzliche Meinungen« gebe. Das war zwar keine direkte Verurteilung, wurde aber allgemein als Ausdruck von Unwillen aufgefasst. Das Staatsfernsehen berichtete in den Hauptnachrichten über die Datenbank, teils direkt ablehnend, teils mit deutlich negativem Unterton. Weniger zurückhaltend äußerte sich der bekannte Scharfmacher Konstantin Sjomin im landesweit empfangbaren staatlichen Fernsehkanal Rossija-1. Er widmete dem Thema am 26. November gleich zehn Minuten seiner treffender Weise Agitprop genannten Sendung (http://www.vesti.ru/videos/show/vid/699001/cid/3744/#/video/https%3A%2F%2Fplayer.vgtrk.com%2Fiframe%2Fvideo%2Fid%2F1600075%2Fstart_zoom%2Ftrue%2FshowZoomBtn%2Ffalse%2Fsid%2Fvesti%2FisPlay%2Ftrue%2F%3Facc_video_id%3D699001). Darin vergaß er weder zu erwähnen, dass Memorial »ausländischer Agent« sei, noch eine organisierte Kampagne anzudeuten, da es doch kein Zufall sein könne, dass die Datenbank just zu einer Zeit online zugänglich gemacht werde, in der schon ein anderer, ähnlich gelagerter Fall öffentlich und kontrovers diskutiert werde.

Dabei handelt es sich um die Recherche von Denis Karagodin aus der sibirischen Universitätsstadt Tomsk (http://blog.stepanivanovichkaragodin.org). Karagodins Urgroßvater, ebenfalls Denis Karagodin geheißen, war 1937 im Großen Terror von einem Tribunal, einer sogenannten Troika, als angeblicher japanischer Spion zum Tode verurteilt und hingerichtet worden. Der Urenkel hat die Namen aller beteiligten Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter des NKWD von der politischen Spitze über die Hinrichter bis zum Chauffeur und der Sekretärin zusammen gestellt und veröffentlicht. Karagodin will nun den russischen Staat als Rechtsnachfolger der Sowjetunion verklagen und erreichen, dass die Tötung seines Urgroßvaters nicht nur moralisch, sondern auch juristisch als Verbrechen eingestuft wird. Es gehe ihm aber nicht um Strafe (ohnehin sind alle am Mord an seinem Urgroßvater beteiligten NKWD-Mitarbeiter längst gestorben, viele im Staatsterror, dem sie gedient haben, selbst hingerichtet, nicht wenige aber auch erst im Rentenalter eines höchst natürlichen Todes), sondern um (historische) Gerechtigkeit und auch Versöhnung.

Damit kommt Karagodin der Position von Memorial recht nah. Die hat Arsenij Roginskij, Vorstandsvorsitzender von Memorial, in seiner großen Rede über die »Erinnerungen an den Stalinismus« vom Dezember 2008 so formuliert: Eines der ungelösten Probleme in Russland mit der kollektiven Erinnerung sei, dass immer nur der Opfer gedacht werde, während man die Täter entweder feiere oder schweigend übergehe. Ohne aber jemals die Täter (beim Namen) zu nennen und ihren taten auch eine juristische Bewertung zu geben, sei die russische Gesellschaft wie in einer Endlossschleife dazu verurteilt ihre Tragödien (selbstverständlich in Variationen) zu wiederholen. Memorial hat nun erneut (nach der Veröffentlichung der sogenannten Stalinschen Erschießungslisten, eines Nachschlagewerks über die »Leitenden Kader des NKWD von 1933 bis 1941« und zahlreicher Monographien zu hohen NKWD/KGB-Offizieren), versucht, einen Anstoß zu geben, diesen Teufelskreis zu durchbrechen.

Das könnte auch strafrechtliche Folgen haben. Iwan Sucharew, Dumaabgeordneter der Schirinowskij-Partei LDPR, hat Anfang Dezember die Generalstaatsanwaltschaft aufgefordert zu prüfen, ob Memorial mit der Veröffentlichung der Datenbank im Internet nicht gegen Paragraph 282 des russischen Strafgesetzbuchs verstoße und »Hass gegen eine soziale Gruppe« schüre. Gemeint ist die »soziale Gruppe« der NKWD-Mitarbeiter (Denis Karagodin nennt sie klarer und einfacher »Henker«, ein Begriff, den Memorial in diesem Zusammenhang bisher meidet). Dieser Paragraph ist ein in den letzten Jahren immer beliebter werdendes Instrument von Polizei und Geheimdiensten, sich unliebsamer Kritik zu erwehren. Die Generalstaatsanwaltschaft ist verpflichtet, dieser Anschuldigungen nachzugehen, weil derartige Aufforderungen von Abgeordneten vom Gesetz her eine Untersuchung und eine Antwort verlangen.

Tatsächlich ist der meistgehörte Vorwurf an Memorial, durch die Veröffentlichung der Namen würde die ohnehin wenig geeinte russische Gesellschaft noch weiter gespalten. Gegenwärtig aber gehe es ums Überleben der Nation, ja des Landes überhaupt in einer prinzipiell feindlichen Welt und da müssten alle einig zusammen stehen, will sagen, hinter der Staatsführung stehen. Fernsehmoderator Sjomin fasste das in der polemischen Frage zusammen, warum Memorial und seine Anhänger immer wieder die Mär von der Sowjetunion aufwärmten, in der »die Hälfte gesessen und die andere Hälfte sie bewacht« habe.

Memorials Vorstandsmitglied Alexander Tscherkassow hat darauf erst einmal eine einfache, weil empirische Antwort: Die knapp 40.000 Namen in der Datenbank seien bei vor dem Krieg offiziell zwischen 165 Millionen (Volkszählung 1938) und 192 Millionen Einwohnern (nach Annexion von Ostpolen und der baltischen Staaten 1939/1940) weit weniger als ein Zehntel Prozent der Bevölkerung der Sowjetunion gewesen. Für die heute in Russland lebenden Menschen (etwa der Hälfte der Bewohner der Sowjetunion) sei die Wahrscheinlichkeit darunter Verwandte zu finden also äußerst gering. Viel wahrscheinlicher sei es dagegen, heute auf Nachfahren von mindestens 12 Millionen (so die konservativste Schätzung von Memorial) politisch in der Sowjetunion Verfolgten oder der gut eine Millionen nach Urteilen Hingerichteten zu stoßen (http://www.inliberty.ru/blog/2444-Vglyadyvayas-v-bezdnu).

Wenn das aber so ist, wenn es sich nur für wenige um eine wirklich persönliche Angelegenheit handeln kann, muss umso mehr eine Antwort darauf gefunden werden, warum die Reaktionen auf beiden Seiten so heftig sind. Zumal das auch auf die vielen positiven Reaktionen zutrifft (zum Beispiel hier: https://lenta.ru/articles/2016/12/02/nkvd_list/). Zugunsten der Veröffentlichung der NKWD-Mitarbeiternamen sprechen sich zudem nicht nur Nachfahren von Opfern politischer Verfolgung aus. Memorial hat in den vergangenen drei Wochen mehrere Dutzend Zuschriften von Menschen bekommen, die die Namen ihrer Vorfahren in den Listen gefunden haben. Viele von ihnen schickten zusätzliche Informationen, auch Dokumente, um die Datenbank zu vervollständigen. Denis Karagodin berichtet vom ausdrücklichen Dank und einer Entschuldigung der Nachfahrin eines der NKWD-Mitarbeiter, die an der Ermordung seines Urgroßvaters beteiligt waren.

Die heftigen, direkten und kontroversen Reaktionen weisen darauf hin, wie groß und wie tief die Wunden immer noch sind, die das grausame 20. Jahrhundert in die meisten Menschen in Russland geschlagen hat. Doch warum ist das so? Eine (vorläufige) These: Drei tragische Ereignisse prägen die russische Erinnerung an das 20. Jahrhundert: die Kollektivierung, der Terror und der Krieg. Die Erinnerung an alle drei wurde von der sowjetischen Führung kupiert, kanalisiert und letztlich in das enge Bett eines offiziellen Narrativ gepresst. Dazu dienten vor allem zwei Mittel: Die Konstruktion eines »sowjetischen Volkes« und Angst.

Das »sowjetische Volk« sollte eine neue historische Gemeinschaft konstituieren, die das ethnische Alte, angeblich Überkommene hinter sich lässt. Das geschah in Ansätzen auch, aber oft auf eine wohl nicht intendierte, sehr individuelle Weise, indem sich viele Menschen ihrer individuellen Biographie entledigten, zumindest teilweise.

Jeder sowjetische Bürger und jede sowjetischen Bürgerin musste im Laufe des Lebens viele Male einen Lebenslauf, die Anketa, abliefern. Bei der Aufnahme zu den Pionieren, später in den Jugendverband Komsomol. Dann wieder zur Aufnahme in die Universität oder vor dem Erlernen eines anderen Berufs. Beim Antreten einer Arbeitsstelle und vor Beförderungen. Letztlich natürlich beim Versuch, in die kommunistische Partei einzutreten. Immer wieder diente die Anketa zur sozialen Segregation. Viele Menschen hatten in ihren Lebensläufen, zu denen untrennbar die Vorfahren bis ins dritte Glied gehörten, etwas, dass anfangs, bis Stalins Tod, gefährlich, später dann immerhin noch in vielfacher Hinsicht hinderlich war: die »falschen« Vorfahren, die »falsche« ethnische Herkunft, den »falschen«, weil religiösen Glauben. Mit der Zeit, nach und nach, ließen sie immer mehr Details aus ihrer Anketa »verschwinden«. Sie wurden weggelassen, leicht verändert oder umgeschrieben. Was aus der Anketa verschwand, überlebte höchstens als familiäre Erinnerung, aber auch das nicht immer. So entstand ein Land ohne öffentliche und mit fragmentierter privater Erinnerung.

Diese Zurichtung vor allem des öffentlichen Gedächtnisses geschah im Übrigen nicht nur mit dien staatlichen Verbrechen der Zwangskollektivierung und des Terrors, sondern auch mit der Erinnerung an den Krieg. In Erinnerung sollte der Sieg bleiben und nur der Sieg des sowjetischen Volkes (das als Träger der Sowjetunion 1977 in die sogenannte »Breschnjewsche Verfassung« aufgenommen wurde). Weder die Niederlagen und die deutsche Besatzung am Anfang, noch die unermesslichen Leiden des Kriegs, der Preis des Sieges, sollten diese lichte Erinnerung verdunkeln. Vor allem aber sollte damit die Verbindung zwischen den Henkern im Terror und den Helden des Sieges (mitunter dieselben Personen, auf jeden Fall aber die gleichen Herrscher) verborgen werden.

Dafür, dass das Verdrängte nicht so schnell wieder zum Vorschein kam, sorgte zudem die Angst. Sich zu erinnern war in der Sowjetunion gefährlich. Bis zu Stalins Tod nicht selten sogar lebensgefährlich. Später wurde die Gefahr zwar geringer, doch einigermaßen gefahrlos blieb die Erinnerung nur im engsten Familienkreis. Aber selbst das versagten sich viele lieber. Der stalinistische Terror wirkte somit weiter. Er steckt bis heute in den Köpfen der Menschen. Arsenij Roginskij sagte einmal in einer Diskussion zu deutschen Diskussionspartnern (ich zitiere aus dem Gedächtnis): »Ihr müsst wissen, dass im Kopf eines jeden von uns immer noch ein kleiner Stalin sitzt.« So grausam, das ist die kollektive und bis heute unangefochtene Erfahrung, kann (kann!) der russische Staat sein. Warum sich also mit ihm anlegen, zudem er immer wieder, wenn auch in letzter Zeit meist eher verschämt, mit Stalin kokettiert? Die Ruhe und, ja, auch Erleichterung, mit der in der Zeit des Breschnjewschen Stillstands in der Sowjetunion gelebt und erlebt wurde und wie sie heute erinnert wird (in Lewada-Umfragen in Russland ist das stets die am positivsten bewertete Periode des 20. Jahrhunderts), sind ohne den Terror und auch ohne den repressiven Staat nicht verständlich. Es ist kein Zufall, dass Memorial in der Perestroika als Massenbewegung entstanden ist, die mit der Forderung »Wir wollen wissen!« (was mit unseren Vätern und Müttern, Großmüttern und Großvätern passiert ist, ist hier zu ergänzen) Demonstrationen mit mehr als einer Million Menschen auf die Straßen brachte. Die darauf folgende Zeit der Offenheit dauerte allerdings nicht lange.

Das Problem der heutigen russischen Führung ist es, dass sie ihre Herrschaft vor allem mit einem moralisch reinen Sieg im Krieg zu legitimieren und dabei die dunklen Seiten dieses Sieges auszublenden versucht. Solange das geschieht, so lange Leute wie Kulturminister Medinskij unwidersprochen sagen können, Heldenmythen seien wichtiger als geschichtliche Wahrheit, wird sie weder Stalin noch die Verbrechen der sowjetischen Geheimpolizei los. Mehr noch. Es gibt den Versuch, sich eine ruhmreiche Geschichte zurück zu erobern. Die russische Geschichte wird vom Staat heute als eine ununterbrochene Erfolgsgeschichte erzählt. Russland stand dabei diesem Narrativ zufolge immer auf der Seite der Sieger und der moralisch Gerechten. Wer also heute nach Verantwortung oder gar Schuld fragt (und sei es auch nur indirekt), stört. Ein Verständnis dafür, dass es gerade solche Störer sind, die eine Gesellschaft voranbringen, fehlt in Russland fast völlig.

Diesen und andere Texte finden Sie auf Jens Siegerts Russlandblog <http://russland.boellblog.org/>.

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