Islam in Tschetschenien: Das Verhältnis von Religion und Widerstand gegen Russland

Von Christian Osthold (Göttingen)

Zusammenfassung
In kaum einer anderen Region, die Russland in seiner Geschichte unterworfenen hat, ist ihm ein derart hartnäckiger Widerstand entgegengeschlagen wie in Tschetschenien. Seit mehr als 250 Jahren tobt dort ein Konflikt, der mit wenigen Unterbrechungen bis ins frühe 21. Jahrhundert reicht und im Westen vor allem durch die postsowjetischen Tschetschenienkriege wahrgenommen worden ist. Als tschetschenische Islamisten im Windschatten dieser Kriege zahlreiche Terroranschläge gegen Russland verübten, gelangte Moskau rasch zu der Erkenntnis, dass dem Konflikt im Kern religiöser Fanatismus zugrunde liege – eine Eigenschaft, die man nun pauschal dem tschetschenischen Islam zuschrieb. Dabei handelt es sich jedoch um einen fatalen Trugschluss, dessen Bedeutung nur verstehen kann, wer einen Blick in die Frühphase der russisch-tschetschenischen Beziehungen wirft.

Tschetschenien und Russland

In der Geschichte Russlands spielt Tschetschenien eine unikale Rolle. Wie kaum eine andere Nation, gegen die die Zaren im Zuge der Errichtung ihres Vielvölkerreichs kämpften, haben die Tschetschenen sämtliche Versuche, ihr Land zu unterwerfen und sie damit unter die russische Oberherrschaft zu beugen, stets mit großer Vehemenz beantwortet. Das Streben, die eigene Unabhängigkeit gegen Russland zu verteidigen, zieht sich dabei wie ein roter Faden durch die tschetschenische Geschichte und hat damit eine jahrhundertelange Kontinuität geschaffen. Der jüngste Tschetschenienkonflikt, der auch von der Gewalt islamistischer Terroristen geprägt gewesen ist, hat im postsowjetischen Russland zu der Erkenntnis verleitet, dass dem Widerstand der Tschetschenen im Kern religiöser Fanatismus zugrunde liege. Gleichzeitig ging man so weit anzunehmen, dass dieser Fanatismus ein bestimmendes Wesensmerkmal des tschetschenischen Islam sei, von dem man zu wissen glaubte, dass er seit jeher gegen Russland gerichtet gewesen war und den man daher als Relikt der als archaisch geltenden Kultur der Tschetschenen diffamierte.

Die frühe russische Wahrnehmung des Islam in Tschetschenien

Wie im Folgenden darzustellen sein wird, liegt dieser Einschätzung jedoch ein kardinaler Irrtum zugrunde – ein Trugschluss, der aus der Frühphase der russisch-tschetschenischen Beziehungen stammt und das in Russland tradierte Bild des tschetschenischen Islam bis heute maßgeblich geprägt hat. Dabei ist es wichtig zu wissen, dass man in Russland sehr lange Zeit bestenfalls nebulöse Vorstellungen über die Beschaffenheit des Islam der Tschetschenen hatte. Diese Situation ist im Wesentlichen auf zwei Ursachen zurückzuführen.

Einerseits war die Islamisierung der Tschetschenen im letzten Drittel des 18. Jahrhunderts, als es Katharina II. gelang, die Gebiete am Mittellauf des Terek militärisch dauerhaft zu unterwerfen, noch nicht vollständig abgeschlossen, sondern lediglich in ihre Endphase eingetreten. Dies lässt sich daran erkennen, dass bei den Tschetschenen damals noch große Teile des vorislamischen Brauchtums lebendig waren, obwohl sich die überwiegende Mehrheit der tschetschenischen Sippenverbände der Ebene bereits zum Islam bekannte.

Darüber hinaus wirkte sich aus, dass Russland in jenen Tagen noch nicht über genug Wissenschaftler verfügte, die eine systematische Erforschung der nordkaukasischen Bergstämme vornehmen konnten, weshalb die kaiserliche Akademie der Wissenschaften auf die Hilfe europäischer Forscher angewiesen war. Da die meisten von ihnen aus Deutschland stammten, erschienen die frühsten Forschungsberichte zu Tschetschenien in deutscher Sprache und konnten somit nur von wenigen russischen Gelehrten studiert werden. Gleichwohl waren die in ihnen enthaltenen Schilderungen für das im Entstehen begriffene Tschetschenenbild von prägender Bedeutung. Denn in allen von ihnen werden die Tschetschenen als kriminelles und wildes Bergvolk mit einer stark ausgeprägten Affinität für Raubüberfälle beschrieben; Darstellungen des Islam hingegen nehmen dort kaum Raum ein.

Islamisch geprägter Widerstand im 18. Jahrhundert

Unter diesen Bedingungen machte Russland 1785 dann erstmals Erfahrungen mit islamisch geprägtem Widerstand in Tschetschenien. In einem Militärrapport von März 1785 wird darüber berichtet, dass ein Mann, der auf den Namen Utscherman höre, seit kurzem jedoch den Titel »Scheich« führe und von seinen Mitmenschen Imam genannt werde, infolge eines religiösen Erweckungserlebnisses damit begonnen habe, unter seinen Landsleuten den Islam zu predigen. Obwohl Utscherman, der als Imam Mansur in die russische Geschichte eingehen sollte, nachweislich über keine islamische Bildung verfügte, sondern Analphabet war und von den Religionsgelehrten Dagestans deswegen hämisch verspottet wurde, gelang es ihm, seine Landsleute in den folgenden Monaten mithilfe religiöser Appellationen zu einem Großaufstand gegen Russland zu mobilisieren. Um seine Mitmenschen von sich zu überzeugen, bedeutete er ihnen, dass schon bald Wunder geschehen würden, die die Rechtmäßigkeit seiner Mission bewiesen. Gleichzeitig gab sich Mansur als Imam zu erkennen, kündigte den baldigen Beginn der Endzeit an und erklärte es zur religiösen Pflicht der Muslime, ihre Heimat von der russischen Herrschaft zu befreien. Nachdem der Aufstand bereits im Folgejahr zerschlagen und Mansur in den Nordwestkaukasus geflohen war, kamen die russischen Entscheidungsträger zu dem Schluss, dass die Tschetschenen nicht nur kriminelle Räuber, sondern vor allem religiöse Fanatiker seien.

Stellt man diesem Fazit nun die Quellen des 18. Jahrhunderts gegenüber, wird deutlich, dass eine solche Erklärungsschablone zu kurz greift. So lässt sich zweifelsfrei belegen, dass die Erhebung von 1785 mitnichten die Folge von religiösem Fanatismus gewesen ist. Vielmehr war sie das Ergebnis einer repressiven Kolonialpolitik, die das Zarenreich seit 1757 in Tschetschenien aplliziert und das Land bis 1785 im Rahmen zahlreicher Strafexpeditionen in Schutt und Asche gelegt hatte. Selbst zarische Historiker wie Wassilij Potto schilderten später eindrücklich, dass Tschetschenien damals vollständig in Flammen gestanden habe. In diesem Zusammenhang war auch Alda, das Heimatdorf Mansurs, zuletzt 1783 von russischen Truppen verwüstet worden. Nach dem Ende der Kampfhandlungen empfahl Fürst G.A. Potjomkin, der die Operation persönlich geleitet hatte, dass es besser sei, die in der Ebene siedelnden Tschetschenen in die Berge zu treiben, um sie dort verhungern zu lassen. Auf diese Weise – so Potjomkin – ließen sich am besten weitere Verluste für das Militär vermeiden.

Das zarische Kolonialregime und islamisch geprägter Widerstand im 19. Jahrhundert

Zusammenfassend lässt sich sagen, dass es 1785 in ganz Tschetschenien nicht einen einzigen einheimischen Islamgelehrten gegeben sowie lediglich eine rudimentär ausgeprägte islamische Infrastruktur existiert hat. Darüber hinaus war Mansur ohne Zweifel ein religiöser Laie, der weder Arabisch verstehen noch den Koran studieren konnte. Aus dieser Faktenlage kann man daher folgende Erkenntnis ableiten:

Obwohl oder vielleicht gerade weil die Tschetschenen im letzten Drittel des 18. Jahrhundert über keinerlei tiefgreifende Kenntnisse des Islam verfügten und die Religion bei ihnen lediglich oberflächlich verankert war, konnte Mansur mit seiner religiösen Mission, deren Agenda sich unter programmatischen Gesichtspunkten als wenig profund herausstellt, überhaupt erfolgreich sein. Dass man die Erhebung auf russischer Seite folglich nicht als das erkannte, was sie tatsächlich war, nämlich die Reaktion einer seit Jahrzehnten bekämpften Bevölkerung auf das repressive Kolonialregime der russischen Besatzungsmacht, sondern sie wegen Mansurs Selbstinszenierung als islamische Erlösergestalt für das Symptom eines weit verbreiteten religiösen Fanatismus hielt, lag an der völligen Unkenntnis, der die zarischen Behörden damals in Hinblick auf die Religion der Tschetschenen unterlagen. Entscheidend aber war, dass der tschetschenische Islam ungeachtet seiner oberflächlichen Ausprägung fortan mit dem nahezu unauslöschlichen Stigma des Fanatismus behaftet war und ihm nun unterstellt wurde, sui generis gegen Russland gerichtet zu sein.

Dass es sich dabei um eine fatale Fehleinschätzung handelte, zeigte sich dann zu Beginn des 19. Jahrhunderts. Denn mit General Jermolow gelangte 1817 ein Mann auf den Posten des Oberbefehlshabers im Kaukasus, der es sich zum Ziel gemacht hatte, den Widerstand renitenter Bergstämme mit aller Gewalt zu brechen. Im Rahmen der von ihm forcierten Unterwerfung Tschetscheniens betrachte Jermolow dessen Bevölkerung von Anfang an durch das seit 1785 geschliffene Prisma. So ist es kein Zufall, dass Jermolow Zar Alexander I. bereits 1818 in mehreren Berichten explizit vor den Tschetschenen warnte, die er als das gefährlichste Volk des Nordkaukasus beschrieb – ein Volk, das seine Nachbarn mit religiösem Fanatismus anzustecken drohe. Um diese Gefahr zu eliminieren, verschärfte Jermolow das bestehende Kolonialregime nun erheblich, indem er die an Terek und Sundscha lebenden Tschetschenen nach Süden vertrieb, um in den freigewordenen Gebieten Kosaken anzusiedeln. Dass dabei tausende Familien ihrer Lebensgrundlage beraubt wurden, nahm der Oberbefehlshabers bereitwillig in Kauf.

Angesichts dieser Entwicklungen begann sich in Tschetschenien nun erneut Widerstand zu formieren. Im Gegensatz zu 1785 wurde dieser jetzt allerdings nicht von einer »islamischen« Figur, sondern von Bebulat Tajmi organisiert, einem der mächtigsten Aufstandsführer Tschetscheniens. Nachdem Bebulat festgestellt hatte, dass es mithilfe religiöser Appellationen möglich war, große Bevölkerungsteile für militärischen Widerstand zu gewinnen, versah er seine Bewegung ab 1822 mit einem islamischen Siegel. Da er selbst weder ein frommer Muslim war, noch über nennenswerte Kenntnisse des Islam verfügte, ging Bebulat nun ein Bündnis mit den wenigen islamischen Würdenträgern ein, die es damals im Land gab. Seine Entschlossenheit, Russland mit allen Mitteln zu bekämpfen, reichte dabei gar soweit, dass er nicht davor zurückschreckte, seinen Landsleuten einen Betrüger namens Awko als neuen Imam zu präsentieren, um seinem Kampf damit eine religiöse Legitimation zu verleihen. Als dieses Kalkül jedoch nicht aufging, erklärte Bebulat kurzerhand seinen engsten Mitstreiter Mullah Magoma zum Imam, der daraufhin willfährig den Dschihad gegen Russland proklamierte.

Der Dschihad der Naqšbandī-Imame

Unterdessen hatte sich bis 1828 in Dagestan unter der Führung des Imam Ghazi Muhammad, der dem Sufi-Orden »Naqšbandīja-Ḥalīdiīja« angehörte, mit den Muriden eine neue Bewegung gebildet, deren vordringlichstes Ziel in der Erneuerung des islamischen Gesetzes bestand – ein Unterfangen, zu dessen Umsetzung man den militärischen Kampf gegen Russland als legitimes Mittel erachtete und ihn fortan als Dschihad führte. Während Ghazi Muhammads Nachfolger Hamsah Bek nur wenig Interesse an dessen Fortsetzung zeigte, wurde der Kampf seit 1834 von Imam Schamil mit großer Vehemenz vorangetrieben. Wichtig ist, dass in den späten 1820er Jahren unter Taschu Hadschi auch in Tschetschenien eine islamische Widerstandsbewegung entstanden war, die zwar einen eigenen Kampf gegen die Militärverwaltung führte, die Muriden ab 1836 aber immer mehr unterstützte. Auf der Grundlage dieser Kooperation konnte Schamil 1839 nach einer vernichtenden Niederlage in Dagestan dann zu den Tschetschenen wechseln und deren Widerstand übernehmen.

Anders als Historiker gewöhnlich behaupten, ist dieses Manöver jedoch nicht deshalb gelungen, weil Schamil die Tschetschenen von seiner islamischen Agenda überzeugt hätte. Denn zunächst ist zu berücksichtigen, dass die Repression des zarischen Kolonialregimes in Tschetschenien bis 1840 ihren vorläufigen Höhepunkt erreicht hatte, weshalb die Bereitschaft der tschetschenischen Muslime, sich am antikolonialen Krieg der Naqšbandīja zu beteiligen, zu dieser Zeit größer war als jemals zuvor. Dass die Unterstützung Schamils und damit auch die Übernahme seines Dschihad-Konzepts für die Tschetschenen 1840 die einzige Möglichkeit darstellte, um sich dem kulminierenden Kolonisationsdruck des Zarenreichs entgegenzustellen, wird mehr als deutlich, wenn man bedenkt, dass ihr eigener als Dschihad deklarierter Kampf unter Bebulat und Taschu Hadschi bereits zweimal gescheitert war, ohne nennenswerte Ergebnisse zu bringen. Da es den Tschetschenen in der Folge nicht gelang, eine alternative Strategie für den Umgang mit der zarischen Kolonialpolitik zu entwickeln, ließ man sich notgedrungen ein drittes Mal darauf ein, unter dem Banner des Islam zu kämpfen, in der Hoffnung, mit Schamil nun den geeigneten Anführer gefunden zu haben. Diesen Zusammenhängen kann man entnehmen, dass die tschetschenische Unterstützung Schamils im Jahre 1840 also nicht der Erfolg seiner religiösen Mission, sondern vielmehr die Folge einer akuten politischen Alternativlosigkeit gewesen ist.

Dass der tschetschenischen Unterstützung Schamils in Wahrheit kaum religiösen Motive zugrunde lagen, zeigte sich spätestens nach dessen Gefangennahme im Jahr 1859. Ungeachtet der Tatsache, dass Schamil 1840 in Tschetschenien einen Imamstaat konstituiert und in seiner Einflusssphäre konsequent islamisches Recht durchgesetzt hatte, kehrten die Tschetschenen nun massenhaft zu ihrem vorislamischen Brauchtum zurück. Überhaupt ist die Vorstellung als obsolet zurückzuweisen, dass der antikoloniale Widerstand Schamils sowie dessen Fokussierung auf den Dschihad als genuin islamisch-tschetschenisches Phänomen gelten könnten.

Die Qādirīya – ein Gegenentwurf zum Dschihad-Konzept

Der wohl stichhaltigste Beleg zur Widerlegung dieser These besteht nun darin, dass in den 1860er Jahren mit der Qādirīya ein neuer Sufi-Orden in Tschetschenien Verbreitung fand. Im Gegensatz zu den Muriden lehnte die Qādirīya, an dessen Spitze der in Russland als Kunta Hadschi bekannte Tschetschene Kischi Khant stand, den bewaffneten Kampf gegen das Zarenreich kategorisch ab und rief die Menschen dazu auf, den Kontakt mit Nichtmuslimen auf ein Minimum zu beschränken, um sich ganz der Pflege der Religion zu widmen. Das Auftreten der Qādirīya ist dabei in verschiedener Hinsicht von Bedeutung.

Einerseits wird deutlich, dass der tschetschenische Islam entgegen der allgemeinen Auffassung in Russland nicht von Schamil verdorben und damit zu einer religiösen Widerstandsbewegung gemacht worden war, die sich per se gegen Russland richtete. Vielmehr hatte sich die tschetschenische Geistlichkeit nach der Niederlage Schamils wieder von der Programmatik der Naqšbandīja entfernt und damit die Voraussetzungen dafür geschaffen, dass mit der Qādirīya eine neue Bewegung Fuß fassen konnte, deren Ideologie nicht mehr in der Stilisierung des militärischen Widerstands als religiöse Pflicht, sondern in der sofortigen Einstellung jedweder Feindseligkeiten bestand. Vor dem Hintergrund der vergangenen Jahrzehnte, die vom permanenten Abwehrkampf der Tschetschenen gegen Russland geprägt waren, kann man die Hinwendung der kriegsmüden Bevölkerung zur Qādirīya durchaus als logischen Schritt betrachten, der umso leichter fiel, als Kischi Khant es vermochte, seine pazifistische Agenda im Rahmen eines religiösen Diskurses plausibel zu begründen und seinen Landsleuten damit vorübergehend eine Alternative zum Dschihad-Konzept der Muriden an die Hand zu geben.

Andererseits konnte der Pazifismus, den die Qādirīya den Tschetschenen als Gegenentwurf zur Idee des Dschihad lieferte, letztlich aber nicht dauerhaft funktionieren. Der Grund dafür findet sich jedoch nicht bei den tschetschenischen Muslimen, sondern liegt in der zarischen Politik. Denn anstatt zu erkennen, dass es den Tschetschenen mit der Qādirīya tatsächlich gelungen war, den Islam jenseits des bewaffneten Kampfes zu praktizieren, betrachtete man den neuen Orden wegen seines regen Zulaufs sowie öffentlich praktizierter Rituale rasch als akute Bedrohung und verkannte damit seinen wahren Charakter.

An dieser Stelle sei daher folgende Hypothese gewagt: Der alte Trugschluss, dem zufolge der Islam der Tschetschenen schon immer die ultimative Manifestation von Banditentum und religiösem Fanatismus gewesen sei, verhinderte nun, dass die große Chance genutzt wurde, die sich aus der Existenz der Qādirīya für eine nachhaltige Entschärfung des Konflikts mit den Tschetschenen ergab. Sämtliche Bemühungen, die das Zarenreich bisher vergeblich zur Befriedung Tschetscheniens unternommen hatte, wären nun obsolet gewesen, da die Qādirīya dieses Ziel bereits selbst erreicht hatte. So bestand deren große Leistung darin, dass es ihr trotz des schwelenden Konflikts mit Russland gelang, eine Ideologie hervorzubringen, die eine friedliche Koexistenz mit Russland möglich machen konnte. Damit hatte Kischi Khant in Tschetschenien vermocht, was in Dagestan lediglich der große Gelehrte und Schamil-Mentor Muhammad al-Yaragi geleistet hatte.

Gleichzeitig entlarvt die pazifistische Agenda der Qādirīya aber auch die zarische Tschetschenienpolitik als unfähig, angemessen auf die innertschetschenischen Entwicklungen zu reagieren. Denn nach beinahe 100 Jahren des Kampfes hatte sie immer noch nicht mehr zu bieten, als den Konflikt mit den Tsche­tschenen durch die forcierte Anwendung militärischer Gewalt zu regulieren. Dass das pazifistische Bekenntnis der Qādirīya zudem tatsächlich weit mehr war als nur eine leere Sprechblase, zeigte sich 1864 nach der Inhaftierung Kischi Khants. So reagierten die Anhänger des Ordens auf den Verlust ihres Oberhaupts nicht etwa, indem sie in alte Gewaltmuster zurückfielen, sondern blieben ihrer Agenda zunächst auch weiterhin treu. Erst als das Zarenreich die Qādirīya als kriminielle Organisation verbot, gingen ihre Anhänger in den Untergrund und wurden folglich zu erbitterten Feinden Russlands.

Die Tragweite dieser verpassten Chance auf eine Entschärfung des Konflikts wird schließlich vollends erkennbar, wenn man bedenkt, dass es in der Chronologie der russisch-tschetschenischen Beziehungen bislang zu keiner Zeit eine ähnlich günstige Gelegenheit gegeben hatte, um zu einer dauerhaften Lösung zu gelangen. Die Kriminalisierung der Qādirīya ist verantwortlich dafür, dass der alte Mythos fortbestehen konnte, demzufolge der tschetschenische Islam seit jeher gegen Russland gerichtet gewesen war und in dieser Weise bis in die Gegenwart gelangen.

Lesetipps / Bibliographie

  • Perović, Jeronim: Der Nordkaukasus unter russischer Herrschaft. Geschichte einer Vielvölkerregion zwischen Rebellion und Anpassung. Wien, Köln, Weimar: Böhlau 2015.
  • Dettmering, Christian: Russlands Kampf gegen Sufis. Die Integration der Tschetschenen und Inguschen in das Russische Reich 1810–1880. Oldenburg: Dryas 2011.
  • Sidorko, Clemens: Dschihad im Kaukasus. Antikolonialer Widerstand der Dagestaner und Tschetschenen gegen das Zarenreich (19. Jahrhundert bis 1859). Wiesbaden: Reichert 2007.
  • Gammer, Moshe: The Lone Wolf and the Bear. Three Centuries of Chechen Defiance of Russian Rule. London: Hurst 2006.
  • Zelkina, Anna: In Quest for God and Freedom. The Sufi Response to the Russian Advance in the North Caucasus. London: Hurst & Co. 2000.
  • Osthold, Christian: Islamismus in Tschetschenien. Die Rolle des Islamismus für den tschetschenischen Separatismus, Genf: Optimus Mostafa Verlag 2011.

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