Putins »Direkter Draht« mit dem Volk

Von Sergey Medvedev (Berlin)

Potupschik: Selbst ein derart mächtiger Präsident wie Putin kann nicht drei Millionen Fragen lösen

»Die Russen haben auch in diesem Jahr ein reges Interesse an der »Frühlingsausgabe« des Direkten Drahtes mit Wladimir Putin gezeigt. Natürlich konnten nicht alle zweieinhalb Millionen Fragen, die der Präsident erhalten hat, im Rahmen des zeitlich begrenzten Gesprächs »von Angesicht zu Angesicht« beantwortet werden. Aber der Kreis der Probleme, die den Bürgern im Wahljahr am meisten Sorgen bereiten, wurde sehr anschaulich dargestellt. […]

Bei einem Resümee, darf man nicht davon ausgehen, dass selbst ein derart mächtiger Präsident wie Putin alle drei Millionen Fragen klären kann. Allerdings mögen die Menschen dieses Format [des »Direkten Drahtes«; d. Red.], genauso wie die Möglichkeit, mit einem Anruf die Probleme ihrer Familie oder ihrer Region zu lösen. Vielleicht ist es an der Zeit, dieses Format auf regionale und kommunale Führungen auszuweiten? Putin hat ja gesagt: »Wenn jemand ertrinken will, dann kann man ihn nicht retten. Wir sind aber bereit, jedem eine helfende Hand zu reichen, der das selbst möchte« [Dieses Zitat war in der Sendung die Antwort Putins auf die Frage eines Zuschauers, wen der Herr Präsident zuerst vor dem Ertrinken retten würde: Poroschenko oder Erdoğan?; d. Red.]. Und wir sollten nicht darüber nachdenken, wie wir mit Amerika fertig werden, sondern darüber, wie wir unsere eigenen internen Probleme lösen können.«

Kristina Potuptschik am 14. April auf »Livejournal«; <http://krispotupchik.livejournal.com/677351.html>.

Nawalnyj: Na los, versuch mal über meinen Schwiegersohn zu fragen… über den Weltraumbahnhof hat ein Mutiger schon gefragt…

»Ich habe seit Langem keine so falsche Überschrift wie heute bei Forbes gesehen: ›Kirill Schamalow ist zum jüngsten Milliardär Russlands geworden‹.

Klar ist aber, dass es richtigerweise so klingen sollte: ›Kirill Schamalow wurde zum Schwiegersohn Putins und dann zum jüngsten Milliardär Russlands‹.

Und heute findet der »Direkte Draht mit Präsident Putin« statt, und ein wahnwitziger Gedanke lässt die Phantasie schwirren: Vielleicht kommt irgendjemand daher und fragt ›Sagen Sie, wie kam es eigentlich, dass Ihr Schwiegersohn zum jüngsten Milliardär Russlands geworden ist?‹

Zwei andere Überschriften des Tages bringen uns allerdings sanft aber sicher in die Realität zurück.

Zunächst: ›Der Direkte Draht mit Putin wurde in einer Hotelanlage im Moskauer Gebiet geprobt‹.

Und dann (als es noch eine bescheidene Hoffnung gab, dass jemand vom Drehbuch abweichen könnte): ›In Ussurijsk wurde ein Bauarbeiter festgenommen, der Putin über den Bau des Weltraumbahnhofs »Wostotschnyj« gefragt hatte«.

Da wurde klar, dass niemand von dem Drehbuch abweichen und über den Schwiegersohn und Milliardär fragen würde.

Lasst uns also etwas über den Wiederaufbau von Palmyra, über die Vorbereitungen der Feierlichkeiten zum 71. Jahrestag des Sieges und über die Machenschaften der Feinde hören, die eine monopolare Weltordnung schaffen und unsere Rolle im Zweiten Weltkrieg schmälern wollen.«

Alexej Nawalnyj am 14. April auf seiner Website navalny.com; <https://navalny.com/p/4825/>.

Tschubais: Kurze Kommentare zu einem langen Direkten Draht

»Aus dem Netz: Tscheljabinsk, 14. April. Dmitrij Dudkin aus Tscheljabinsk, der sich während des Direkten Drahtes mit Präsident Wladimir Putin über Verzögerungen bei der Gehaltsauszahlung im Unternehmen ›Uralawtoprizep‹ beschwert hatte, wurde in den Sicherheitsdienst der Fabrik zum Verhör einbestellt.

a) Die Kluft zwischen Regime und Gesellschaft wird immer tiefer. Beißend witzige und ironische Fragen, die den Sinn der bevorstehenden PR-Aktion bloßlegen, waren bereits vor dem Direkten Draht im Netz aufgetaucht; noch höher war der Grad der Ironie bei den Kommentaren zu diesen ›Vor-Fragen‹. Die Situation rund um den »Draht« erinnert einen an die Kluft zwischen den Bürgerprotesten auf dem Sacharow[-Prospekt] und dem Bolotnaja[-Platz] einerseits, und der bezahlten, mit Bussen zusammengekarrten »Bekundung des Volkswillens« auf dem Poklonnaja[-Berg] andererseits. Der Auftritt Putins ist keine Top-Nachricht mehr, die auf großes Interesse stößt.

b) Die Atmosphäre im Studio des Direkten Drahts war vollkommen offiziell, nicht lebendig, angespannt, die Teilnehmer saßen »völlig zugeknöpft«, niemand scherzte; nur die Moderatoren unterbrachen den Präsidenten ab und zu etwas unschön und korrigierten ihn, weil sie »Moderationsvorgaben« folgen mussten, an die sich der Sprecher nicht gehalten hatte.

c) Die Fragen, die gestellt wurden, betreffen Probleme der mittleren und unteren Ebene, die nicht zum Verantwortungsbereich des Präsidenten gehören. Die wichtigsten, strategischen Themen »interessierten niemanden«; und wenn man sie antippte, erschien die Diskussion wie inszeniert. Niemand hat über Verfassungsverletzungen, rechtswidrige Repressionen und Zensur, über einen fehlenden Rechtsstaat, über ein Hundert abgerissener Läden und über Verletzungen des Eigentumsrechts, über Kriege und die gefährliche Provokation durch die russische Luftwaffe über der Ostsee gefragt, und darüber, auf welche Ziele sich unser Land zubewegt und was die nationalen Interessen unseres Landes sind […]«

Igor Tschubais am 15. April bei »Echo Moskwy«; <http://echo.msk.ru/blog/i_chub/1748396-echo/>.

Schulman: Der alljährliche Direkte Draht Putins ist ein Ritual mit eigenen Regeln

»Bevor man erörtert, was an Wichtigem während des Direkten Drahtes gesagt wurde, sollte man sich über die Regeln dieses Genre im Klaren sein. Eine lange Unterhaltung des Präsidenten live mit den Wählern wird oft als eine lateinamerikanische Tradition bezeichnet: in Venezuela verbrachte der verstorbene Hugo Chaves viele Stunden auf Sendung mit seiner wöchentlichen Sendung »Hallo Präsident!«, bei der er diverse Probleme der Bürger klärte, Lieder sang, das Publikum unterhielt und sogar Minister entließ. In einem ähnlichen medialen Stil trat auch Fidel Castro auf.

Was ist für dieses Genre charakteristisch? Zum einen, dass solche Auftritte ein Ritual darstellen. Die Bedeutung von Ritualen im politischen Raum sollte nicht unterschätzt werden; dieses Wort wird hier nicht in einem abwertenden Sinne benutzt. Die »Direkten Drähte« kann man mit den jährlichen Neujahrsansprachen vergleichen. Niemand erwartet, dass der Präsident fünf Minuten vor Mitternacht eine sensationelle, schockierende Erklärung abgibt, die das Leben der Bürger verändern wird. Es ist klar, dass alle die durchaus traditionellen Worte erwarten. Durch dieses Traditionelle fügen sie sich organisch in das Silvester-Ritual ein.

Und genauso unterhält sich der Präsident jedes Jahr mit seinen Bürgern und antwortet auf deren Fragen. Er vermittelt eine einzige Botschaft – die Botschaft von der Stabilität des Geschehens. Darin besteht die heilende Kraft des Rituals.

Aus welchen Komponenten besteht diese Botschaft? Nicht zuletzt demonstriert der Präsident seine gute physische Form. Wir wissen, dass jedes Jahr gemessen wird, wie viele Stunden er auf Sendung war. […]

Außerdem zeigt der Präsident, dass er die Lage im Griff hat, dass er schnell auf Fragen zu sämtlichen Lebensbereichen des Landes reagieren kann, dass er über die Zahlen und Statistiken verfügt (obwohl allen bewusst ist, dass die Antworten auf die Fragen im Voraus ausgearbeitet wurden, ist es für die Fernsehzuschauer angenehm zu sehen, was für einen kompetenten und versierten Staatschef sie haben).

Das wohl Wichtigste, was der Fernsehzuschauer während der Live-Unterhaltung zu sehen bekommt, ist die Ausgewogenheit und Stabilität stiftende Rolle des Staatsoberhaupts. Es muss unbedingt jemand gerügt werden, und andere wiederum gelobt; ein Mädchen muss einen Tannenbaum oder ein kleines Hündchen geschenkt bekommen. Immer muss es auch humorvolle Fragen und scherzhafte Antworten darauf geben. Das alles soll das Publikum beruhigen und zeigen, dass der Präsident guter Laune ist, dass also auch wir keinen Grund haben, ganz in Panik oder Depression zu verfallen. Dabei werden auch ernsthafte Fragen behandelt, aber nur in gewollt oberflächlicher und beruhigender Weise.

Hier unterscheiden sich die Direkten Drähte von sonstigen jährlichen öffentlichen Auftritten des Präsidenten vor dem Publikum – den Ansprachen an die Föderale Versammlung und den »großen Pressekonferenzen« und den Interviews für die größten Fernsehsender. In den Ansprachen an die Föderale Versammlung werden die Aufgaben für das kommende Jahr gestellt – das sind programmatische Auftritte, die sich in erster Linie an die Eliten und erst in zweiter Linie an die Bürger wenden. Die alljährlichen Interviews sind ein Zwischengenre: Einerseits stellen sie ebenfalls eine Art Bilanz und die Präsentation eines Zukunftsbilds dar, andererseits sind sie mediale Auftritte, die genauso ein Bild der Stabilität und Kontinuität vermitteln sollen. Unter diesen drei Genres ist der Direkte Draht das beliebteste, und gewissermaßen sowohl demagogisch als auch demokratisch.

Daher wäre es naiv zu erwarten, dass der Direkte Draht Anlass für [echte] Nachrichten werden könnte, und es wäre naiv, sich darüber zu beschweren, es sei nichts Neues gesagt worden. […]

Haben die Direkten Drähte den erwünschten therapeutischen Effekt oder schaffen sie einen Eindruck der Realitätsferne? Da die Stimmungen in der Gesellschaft als depressiv, wenn nicht gar panisch bezeichnet werden können, wäre es logisch anzunehmen, dass die Menschen ein Bedürfnis haben etwas zu hören, was sie schon viele Male gehört haben. Zumindest stellen sich die Organisatoren der Veranstaltung so deren heilende Kraft und psychotherapeutische Wirkung vor.

Hier aber lauert eine Gefahr. Werden Menschen durch die Wiederholung des von Jahr zu Jahr immer Gleichen tatsächlich beruhigt? Wenn sie gleichzeitig spüren, dass ihr eigenes Leben sich zum Schlechteren ändert: Wenn das Einkommen- und Konsumniveau sinkt; wird sie das nicht im Gegenteil eher reizen? […]«

Jekaterina Schulman am 15. April auf snob.ru <https://snob.ru/selected/entry/107>.

Kadyrow: Die Mahnung von Putin ist für mich Gesetz. Ich habe sie zur Kenntnis genommen

»Liebe Freunde!

Mit großer Aufmerksamkeit habe ich beim Direkten Draht dem Präsidenten Russlands Wladimir Putin zugehört. Ich bin für die Bewertung, die Wladimir Wladimirowitsch meiner Vergangenheit und meiner Gegenwart gegeben hat, dankbar. Noch einmal kann ich voller Verantwortung erklären, dass ich nie und unter keinen Umständen einen Schritt gegen die Interessen Russlands und der Völker unseres großen Landes hätte machen können. Das ist die Wahl meines VATERS Achmat-Hadschi Kadyrow, des ersten Präsidenten der Republik Tschetschenien und eines Helden Russlands; und es ist eine bewusste Wahl des tschetschenischen Volks. Die Wahl des Volks zu achten, das wird mir durch den Heiligen Koran auferlegt, durch meine Überzeugungen, meine Lebensprinzipien, die geltenden Gesetze Russlands und der Republik Tschetschenien. Ich habe meine »diplomatische Akademie« im tagtäglichen Kampf gegen die übelsten Feinde Russlands durchlaufen, wobei ich nächste Verwandte und engste Angehörige, Freunde und Mitstreiter verloren habe. Deshalb sind meine Äußerungen manchmal etwas emotional aber aufrichtig, sie kommen vom Herzen. Was das Foto mit Michail Kasjanow angeht, so war das ein Scherz bildhafter Natur, der unter keinen Umständen eine direkte Drohung gegen irgendjemanden enthalten konnte.

Ich bin überzeugt, dass Sergej Dorenko als Journalist mit großer Berufs- und politischer Erfahrung das sehr wohl weiß. Die mahnende Äußerung des Präsidenten Russlands Wladimir Putin ist für mich wie ein GESETZ, das meinerseits unverzüglich zur Kenntnis genommen wurde und umgesetzt wird! Ich erkläre erneut, dass die gesamtnationalen Interessen dem Team Achmat-Chadschi Kadyrows heilig sind.«

Ramsan Kadyrow am 14. April auf Instagram <https://www.instagram.com/p/BELzb_8iRjp/>

Ausgewählt und eingeleitet von Sergey Medvedev, Berlin

(Die Blogs, auf die verwiesen wird, sind in russischer Sprache verfasst)


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