Perspektiven einer kooperativen europäischen Ordnung und die OSZE

Von Wolfgang Zellner (Hamburg)

Zusammenfassung
Die gegenwärtige politische Lage in Europa ist gekennzeichnet durch eine Vielzahl sich wechselseitig beeinflussender Krisen, von denen der Konflikt zwischen Russland und dem Westen nur eine Dimension darstellt. Dieser Konflikt ist im Kern ordnungspolitischer Natur. Unter den gegebenen Bedingungen ist es unmöglich, bereits eine geschlossene Strategie hin zu einer kooperativen europäischen Ordnung vorzulegen. Vielmehr sollte man sich zunächst darauf konzentrieren, interessenbasierte Kooperationsinseln als Voraussetzung für eine langfristige kooperative Wende zu schaffen.

Vielzahl von Krisen

Ein zentrales Merkmal der gegenwärtigen politischen Lage in Europa besteht in der Vielzahl, Komplexität und Heftigkeit ganz unterschiedlicher Krisen. In einem globalen Kontext, in dem Europa deutlich an Macht verliert und die USA Führungsschwächen in Bezug auf Europa zeigen, was sich unter kommenden Administrationen vertiefen könnte, sind aus europäischer Sicht vier Konfliktdimensionen zentral:

Die Existenzkrise der Europäischen Union, deren Fähigkeit strategisch zu handeln von zentrifugalen Tendenzen, einer wirtschaftlich Nord-Süd-Spaltung und allgemeiner Entsolidarisierung bedroht wird.Die Kriege im Nahen und Mittleren Osten, deren Auswirkungen Europa zum ersten Mal direkt betreffen.Der Konflikt zwischen Russland und dem Westen, der anderer Natur ist als der Kalte Krieg, aber nicht unbedingt weniger gefährlich.Und schließlich das Erstarken populistischer bis extremistischer Kräfte, die bereits Regierungen beeinflussen und in Zukunft die eine oder andere übernehmen könnten.

Soviel Un-Ordnung war lange nicht, schon deshalb ist es schwierig, über europäische Ordnung zu schreiben. Die Konflikte sind dynamisch und interaktiv. Eine Vielzahl von Wechselwirkungen kann zu schnellen nichtlinearen Effekten und Politikwechseln führen, die Entwicklung des russisch-türkischen Verhältnisses ist nur ein Beispiel.

Die Krise der Beziehungen zwischen Russland und dem Westen (in diesem Kontext die Mitgliedsstaaten von EU und NATO), auf die hier besonders eingegangen werden soll, ist eingebettet in diesen größeren Zusammenhang. Das bedeutet auch, dass Entwicklungen außerhalb Europas in den europäischen Kontext hineinwirken können und umgekehrt, beides in positivem und in negativem Sinn. Der Abschuss eines russischen Kampfflugzeugs durch die türkischen Streitkräfte verschlechterte das Verhältnis dieser beiden Staaten drastisch. Umgekehrt könnte eine dauerhafte Zusammenarbeit zwischen Russland, den USA und europäischen NATO-Staaten in Sachen Syrien positive Auswirkungen auf Europa haben.

Konflikte zwischen Russland und dem Westen

Die Beziehungen zwischen Russland und dem Westen dominieren das Denken und Handeln in Europa mehr, als ihrer abnehmenden Bedeutung eigentlich zukommt. Bei der aktuellen Krise sind zumindest fünf Ebenen zu unterscheiden: Erstens ist sie eine normative Krise: Beide Seiten beziehen sich zwar auf die KSZE-Schlussakte von Helsinki (bei der Charta von Paris ist das schon nicht mehr so klar), interpretieren aber deren Prinzipien in ganz unterschiedlicher Weise. Das bedeutet, dass eine primär normbasierte kooperative Sicherheitspolitik zwischen Russland und dem Westen derzeit nicht möglich ist. Andererseits eröffnet die Berufung auf dieselben Prinzipien zumindest grundsätzlich die Chance, über deren Bedeutung für konkrete Politik zu sprechen. Zweitens betrifft die Krise subregionale Konflikte, die teils neu entstehen (Ukraine) oder wie im Falle von Berg-Karabach erneut eskalieren. Beides birgt das Risiko eines gesamteuropäischen Konflikts zwischen Russland und der NATO. Ein drittes Element ist der verstärkte Konfliktaustrag mit militärischen Mitteln. Neu ist hier, dass Russland in Europa zum ersten Mal seit dem Ende des Kalten Krieges militärische Mittel gegen westliche Interessen einsetzt. Ergebnis ist eine Remilitarisierung der sicherheitspolitischen Beziehungen, die bisher hauptsächlich zu vermehrter militärischer Übungstätigkeit und der Bereitstellung von Reserven, aber noch nicht zu einem allgemeinen Wettrüsten geführt hat. Ein solches ist jedoch genauso wenig auszuschließen wie eine Renuklearisierung der Sicherheitsbeziehungen. Viertens hat die Krise in und um die Ukraine gezeigt, dass wirtschaftliche und integrationspolitische Konkurrenz unter den gegebenen Bedingungen in einen militärischen Konflikt umschlagen kann. Fünftens unterscheiden sich die jeweiligen Erzählungen (»Narrative«) der Seiten darüber, warum alles so gekommen ist, nicht nur grundlegend, sondern schließen sich häufig wechselseitig aus. Damit ist es schwieriger geworden, einen Ausgangspunkt für den Dialog zu finden. Die genannten Elemente führen zusammen genommen zu einem umfassenden ordnungspolitischen Konflikt. Es gibt kein gemeinsames Verständnis mehr über die Rules of the Road, darüber, was in den Beziehungen zulässig bzw. verboten ist. Hinzu kommen viel Enttäuschung und Vertrauensverlust, allein schon deshalb ist eine schnelle Rückkehr zu einem business as usual kaum denkbar.

Die Schwierigkeiten, eine »Strategie« für eine europäische Ordnung zu finden

Eine Strategie ist die Verknüpfung von Mitteln in Bezug auf Ziele vor dem Hintergrund gegebener Bedingungen. Derzeit hakt es bei allen drei Elementen: Die Bedingungen ändern sich laufend, die Ziele sind (noch) kaum definiert oder strittig, damit ist die Rolle konkreter Politikinstrumente schwer zu bestimmen. Etwas konkreter sind es vor allem die folgenden Elemente, die die Erarbeitung einer Strategie hin zu einer kooperativen europäischen Ordnung schwierig machen. Erstens erfordert das hohe Niveau an Unsicherheit und Kontingenz häufig eigene schnelle Politikwechsel auch grundlegenderer Art, die mit den Erfordernissen einer zielgerichteten Strategie oft nicht zu vereinbaren sind. Das betrifft keineswegs nur das Verhältnis des Westens zu Russland, sondern auch innerwestliche Prozesse, z. B. einen möglichen Brexit oder den Türkeischwenk der Bundesregierung in der Flüchtlingspolitik. Zweitens sind zumindest die Konflikte im Nahen und Mittleren Osten derart tief verwurzelt, dass sie, wenn überhaupt, nur langfristig lösbar sind. Drittens macht Misstrauen, ja oft auch schon Feindschaft bereits kleine Schritte schwierig. Und viertens haben Regierungen und Experten die bisherigen Entwicklungen kaum verarbeitet, verstehen vieles nicht und sind insgesamt überfordert von der Wucht zahlreicher Schocks, auf die es fortlaufend zu antworten gilt.

Konsequenzen für das Nachdenken über eine kooperative europäische Ordnung

Das erst vor sechs Jahren erklärte Ziel bleibt eine kooperative europäische Ordnung, eine »euroatlantische[n] und eurasische[n] Sicherheitsgemeinschaft von Vancouver bis Wladiwostok […], deren Grundlagen vereinbarte Prinzipien, gemeinsame Verpflichtungen und gemeinsame Ziele sind.« (OSZE-Gedenkerklärung von Astana, Dezember 2010). Der Abstand zwischen der heutigen Lage und diesem Ziel ist allerdings so groß, dass es unmöglich ist, eine realistische Strategie zu entwickeln. Das ist kein Defaitismus, sondern eine wichtige Erkenntnis, führt doch die Hoffnung auf eine schnelle grundlegende Verbesserung der Lage regelmäßig in die Sackgasse: Man müsse nur einen OSZE-Gipfel zusammenbringen oder einen Durchbruch in der Abrüstung schaffen, dann werde schon alles besser. Das sind Illusionen, es gibt keine Game Changer oder Silver Bullets, noch nicht einmal Low Hanging Fruits. All diese Vorstellungen aus der US-amerikanischen Verhandlungs-»Theorie«, wonach Dinge schnell machbar sind, wenn man es nur richtig anstellt, treffen nicht (mehr) zu, sondern repräsentieren eine in die Irre führende Vorstellungswelt. Die wichtigste Aufgabe besteht heute darin, eine weitere Verschlechterung der Gesamtlage zu verhindern, einzelne Konflikte einzudämmen und zu stabilisieren und den Ausbruch neuer zu verhindern.

Kooperationsinseln schaffen

Vor diesem Hintergrund geht es darum, zu einzelnen Themen, bei denen es parallele Interessen gibt, zu einer interessenbasierten Zusammenarbeit zu gelangen. Die Hoffnung besteht darin, diese zunächst unverbundenen »Kooperationsinseln« in einem längeren Prozess zu verknüpfen und darüber das Vertrauen zu schaffen, das zur Erörterung weiterreichender Perspektiven nötig ist. Zivilgesellschaftliche Akteure können helfen, Themen anzupacken, an die sich die Regierungen noch nicht wagen.

Für einen solchen Ansatz sind die drei Themenfelder, die der stellvertretende russische Außenminister Alexei Meschkow vor einigen Monaten zur Kooperation im OSZE-Kontext vorgeschlagen hat (s. Meshkov, in den Lesetipps), von Bedeutung: Erstens eine Diskussion über die sog. »Integration der Integrationen«, um »einen gemeinsamen wirtschaftlichen und humanitären Raum vom Atlantik bis zum Pazifik« (Meshkov …, S. 45; Übersetzung durch den Autor) zu schaffen. Das dürfte nicht mehr unmöglich sein; haben doch auch die vier Staatschefs des Normandie-Formats (Ukraine, Russland, Frankreich, Deutschland) im Rahmen des Minsker Implementierungsabkommens vom 12. Februar die Frage trilateraler Wirtschaftsgespräche zwischen EU, Ukraine und Russland angesprochen (s. The Press and Information Office of the Federal Government, in den Lesetipps). Zweitens schlug Meschkow vor, sich mit dem Ziel einer Bekräftigung der Prinzipien von Helsinki mit den entsprechenden normativen Problemen zu befassen, »einschließlich der Notwendigkeit, einen Konsens über das Verhältnis zwischen der territorialen Integrität der Staaten und des Rechts auf nationale Selbstbestimmung zu erzielen« (Meshkov …, S. 46). Und schließlich schlug er vor, bei der Bewältigung der Krisen in Syrien, im Irak, in Libyen und im Jemen und bei der Bekämpfung des Terrorismus zusammenzuarbeiten. Man möchte diese Liste gerne um die Ukraine und Berg-Karabach ergänzen. Zu der naheliegenden Frage, ob Meschkows Vorschläge Substanz haben, wird es unterschiedliche Meinungen geben, herausfinden wird man es nur, wenn man sie testet.

Naturgemäß ist die OSZE nicht der Rahmen zur Bearbeitung all dieser Fragen, vieles davon wird im EU- oder NATO-Rahmen behandelt werden müssen. Aber bei Konflikten in Europa, bei Fragen von Prinzipien und Normen und neuerdings auch bei Grundsatzfragen wirtschaftlicher Konnektivität steht die OSZE vorne an. Dabei wirkt die Organisation sowohl als Rahmen, in dem alle zusammenkommen können, als Agenda Setter, als Normsetzungs- und Sozialisierungsinstanz sowie, siehe die Ukraine, als operatives Instrument zur Krisenregulierung. Inwieweit die Organisation tatsächlich liefern kann, hängt weniger von ihr selbst ab, sondern davon, ob relevante Teilnehmerstaaten die OSZE nutzen. Dass Deutschland den OSZE-Vorsitz 2016 übernommen hat, hat ein Zeichen gesetzt. Nun kommt es darauf an, dass andere größere Staaten diesem Beispiel folgen.

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