»Nacht der langen Baggerschaufeln«.

In der Nacht vom 8. auf den 9. Februar führte die Moskauer Verwaltung eine Säuberungsaktion gegen angeblich illegal errichtete Kleinläden und Imbissbuden durch, die seit den 1990er Jahren das Bild der russischen Hauptstadt prägen. In Begleitung der Polizei wurden Dutzende Kiosks und Pavillons innerhalb von wenigen Stunden trotz Proteste der Besitzer und Mitarbeiter von Bulldozern abgerissen. Obwohl viele Moskauer sich seit Langem über die Kleinläden mit Billigwaren und Imbissbuden fragwürdiger Qualität beschweren, stieß das Vorgehen von Bürgermeister Sergej Sobjanin auf viel Kritik, weil er trotz zahlreicher Gerichtsentscheide per Erlass in einer Nacht- und Nebelaktion Tausenden Ladenbesitzern ihre Existenzgrundlage entzog. Der Kreml unterstützte das entschlossene Vorgehen Sobjanins. Der Leiter der Präsidialadministration Sergej Iwanow sprach sich in einem Interview mit RIA Nowosti strikt gegen das Weiterbestehen von Billigläden an Metrostationen aus: »Diese hässlichen Buden haben mit sogenanntem Kleinunternehmertum nichts zu tun, weil sie in der Regel Nährboden für Kriminalität und unhygienische Bedingungen sind«. (<http://ria.ru/moscow/20160211/1372819779.html>). Aber auch einige Oppositionsvertreter fanden die Aktion der Moskauer Regierung angemessen. Die Fernsehmoderatorin Ksenija Sobtschak schreibt, sie sei trotz des rechtswidrigen Vorgehens für den willkürlichen Abriss der hässlichen Bauten, weil man sie sonst aus Moskau nie loswerde. Das russische Netz diskutiert über die »Nacht der langen Baggerschaufeln«, die einmal mehr das Recht auf Eigentum in Russland in Frage stellte. Neben Sobtschak meldeten sich u. a. zu Wort: Walerij Solowej, Historiker und Professor an der Moskauer Staatlichen Hochschule für Internationale Beziehungen (MGIMO), Eduard Birow, Journalist der kremlnahen Zeitung »Wsgljad«, Georgij Alburow, Jurist der Stiftung für Korruptionsbekämpfung, und Leonid Nikitinskij, Journalist, Bürgerrechtler und Mitglied des Menschenrechtsrates beim Präsidenten.

Sobjanin: Bringe Moskau den Moskauern zurück

»Der Abriss illegaler Bauten in Moskau ist ein anschauliches Beispiel dafür, dass in Russland die Wahrheit, das Erbe und die Geschichte unseres Landes nicht zum Verkauf stehen. Die sollen sich nicht hinter Eigentumpapieren verstecken, die offensichtlich ergaunert wurden. Wir werden Moskau den Moskauern zurückbringen. Seine offenen, schönen und geliebten Grünanlagen, Plätze und Straßen.«

Sergej Sobjanin am 10. Februar 2016 auf »V Kontakte«; <https://vk.com/mossobyanin?w=wall265870743_15755>

Solowej: Diese Macht hasst Kapitalismus und Freiheit

»Warum werden die Kioske in Moskau abgerissen?

Es liegt in der Natur unserer russischen Staatsmacht. Ganz offen hasst sie alles, was sie nicht kontrollieren kann. Kleine und mittlere Unternehmen sind genau das, was Lenin als »kleinbürgerliche Naturkraft, die stündlich den Kapitalismus erzeugt«, bezeichnet hat. Der Gencode dieser Macht ist kommunistisch. Sie hasst Kapitalismus. Und die damit verbundene Freiheit.«

Walerij Solowej am 9. Februar 2016 auf »Facebook«; <https://www.facebook.com/permalink.php?story_fbid =1680520878884958&id=100007811864378>

Birow: Das Krämer-Russland geht, das imperiale Russland kehrt zurück

»Die massenhafte Beseitigung von Kiosken in Moskau ist nicht das erste, aber ein symbolträchtigstes Zeichen der strukturellen Änderungen im russischen Staat. Das Krämer-Russland geht, das imperiale Russland kehrt zurück. Kleinliche Einzelinteressen von Privatunternehmern machen staatlicher Ordnung und hehren Träumen der großen Nation Platz.

In dem liberalen prowestlichen Milieu, das persönliche Bereicherung und eigene Unverantwortlichkeit den Volksinteressen vorzieht, gilt dies als ein Angriff der Großmacht-Tyrannei auf die Rechte der freien Persönlichkeit […]

Wie üblich mit der Hauptstadt beginnend, reinigt sich Russland von den pseudo-baukünstlerischen Ablagerungen des wilden Kapitalismus, macht Straßen, Alleen und Plätze frei, um die Bürger allein schon mit diesem Anblick wieder an das imperiale Selbstgefühl, an Weite und Herrlichkeit zu erinnern.

Der städtische Raum, der plötzlich nun unter den »Shanghais« der Händler wieder zum Vorschein kommt, fasziniert durch seine Perspektive und versetzt einen gedanklich in die Höhen Puschkins und Peters [des Großen]. Die monumentalen massiven Gebäude wiederum erinnern an die tausendjährige, wenn auch nicht immer einfache, so doch große heimatliche Geschichte. […]«

Eduard Birow am 10. Februar 2016 in »Wsgljad«; <http://vz.ru/opinions/2016/2/10/793479.html>

Alburow: Wie populäre Initiativen durch Lüge scheitern

»Es ist natürlich unfassbar, wie es die Moskauer Regierung hinbekommen konnte, sich bei dieser wichtigen und gefragten Sache, dem Abriss all der verdammten Kioske, öffentlich so abgrundtief zu blamieren.

Alles hätte so einfach sein können: Gehen Sie vor Gericht, und wenn das Gericht eine Absage erteilt, kaufen Sie alles zu Marktpreisen und machen damit, was Sie wollen. Alle würden das unterstützen, allen würde es gefallen. Sobjanin wäre ein Held.

Aber verdammt nochmal, nein. Es mussten zuerst Lügen über »Samostroj« [ungenehmigter Eigenbau] in die Welt gesetzt werden, über den Zugang zu Versorgungsleitungen (Hallo! Irgendwie hatte es 20 Jahre lang keinerlei Probleme mit dem Zugang gegeben), über die Einsturzgefahr der Unterführungen (auch hier: 20 Jahre war nichts passiert), über »Gefahr von Terroranschlägen« usw.

Nach diesen Lügen folgte bereits eine Kettenreaktion: Da man schon über Versorgungsleitungen und Terroranschläge gelogen hatte, musste man erklären, dass es dort keine Kioske mehr geben werde, sondern nur Parkanlagen. Am nächsten Tag stellte sich jedoch heraus, dass es nicht zu knapp Kioske geben wird, sogar Shopping-Zentren, allerdings die eigenen!

Auch auf die Frage des »Samostroj« musste eine Antwort gegeben werden. Natürlich wurde umgehend festgestellt, dass alle Objekte registriert waren, sie waren vom Staat offiziell abgenommen, hatten Katasternummern und waren überhaupt Privateigentum. Worauf Sobjanin mit dem schon legendären »Die sollen sich nicht hinter Eigentumspapieren verstecken« antwortete. Nach solchen Worten wäre jedem Politiker in jedem zivilisierten Land der Weg zu einem gewählten Amt für immer versperrt […].«

Georgij Alburow am 11. Februar 2016 auf Facebook; <https://www.facebook.com/alburov/posts/973506626074163>

Sobtschak: Zwischen Gesetz und Willkür haben wir keine Wahl

»[…] Die Entscheidung, Kioske abreißen zu lassen, ist keine Dummheit. Hier unterstütze ich Sobjanin vollkommen. In diesem Dilemma – den trostlosen Scheiß dem Gesetz gemäß zu dulden oder alles in Willkür abzureißen – bin ich für die Willkür, einfach, weil ich gegen den Scheiß bin.

Ja, Rechtslosigkeit ist furchtbar. Es gibt jedoch keine großartig andere Wahl. Ist es wirklich besser in einem ewigen Basar zu leben, der sich nie ändern wird? Welche Alternativen hätte die Stadt noch?

Wohl keine, denn all das wurde gekauft, registriert und legalisiert lange bevor Sobjanin Bürgermeister wurde oder in den ersten Jahren seiner Amtszeit. Jetzt – das weiß ich aus eigener Anschauung genau – ist dieses Korruptionsgeschäft vollständig gestoppt. Gegen kein Geld der Welt und mithilfe keinerlei Absprache kann man einen Kiosk errichten. Leute, die solche Fragen auf diese Weise klären könnten, gibt es in Moskau heute nicht mehr. Von daher ist es sinnvoll, was Sobjanin gemacht hat. Er hat die Korruptionsmethoden zum Aufbau von Kiosken, gläsernen Buden und Anbauten zerstört. Er will wirklich das Stadtbild verändern. Das lässt sich schlecht realisieren, wenn gleichzeitig provisorische Läden mit synthetischen Strumpfhosen und Piroggen mit Katzenfleischfüllung beibehalten werden.

Mich empört die Heuchelei der Internet-Öffentlichkeit, ihre doppelten Standards. Sind Sie für das Gesetz? Gefallen Ihnen das »Dima-Jakowlew-Gesetz« [Gesetz über ein Verbot der Adoption russischer Waisenkinder durch amerikanische Staatsbürger; d. Red.], das NGO-Gesetz, die Gesetze über Demonstrationen? Oder akzeptieren Sie womöglich, dass manche Gesetze keineswegs zu positiven Veränderungen im Land beitragen?

Vielleicht dürfen nur diejenigen schädliche und hämische Gesetze verletzen, mit denen Sie über Facebook befreundet sind? Als Ihr lieber Kapkow [ehemaliger Leiter des Gorki-Parks und Leiter der Kulturabteilung in der Moskauer Regierung; d. Red.] Schaschlik-Buden im Gorki-Park abreißen ließ, freuten Sie sich, applaudierten und lagen ihm zu Füßen. Kapkow machte aber genau das Gleiche, was heute Sobjanin unternimmt. […]

Ja, es stimmt: In Willkür. Ja, in einer Nacht. Ja, ohne Vorwarnung. Das ist ein sehr trauriger aber im heutigen Russland unvermeidlicher Ablauf der Ereignisse. Es kann leider nur so funktionieren. Wir haben keine Wahl zwischen Gesetz und Willkür. Die Wahl ist eine andere: in Willkür zwischen Verunstaltung und Misere zu leben oder – wiederum unter Umgehung des Gesetzes – zu versuchen, irgendetwas Besseres zu erreichen.«

Ksenija Sobtschak am 11. Februar 2016 auf Snob.ru <https://snob.ru/selected/entry/104423>

Nikitinskij: »Unter den Baggerschaufeln brach das Gericht zusammen«

»[…] Vor lauter schepperndem Glas, polternden Ziegelsteinen und dem Heulen des pleitegehenden Kleinbürgertums haben wir nicht mal gemerkt, wie in Moskau die Judikative verstorben ist. Leise und unmerklich. Insofern, hat die Moskauer Regierung, die den Erlass Nr. 829-PP verabschiedete, diesen einfach außer Acht gelassen. Das Gericht wurde vergessen und man hat es geschlagen. »Später wird es [per Gericht] bestätigt werden«. Genauso agieren stets auch die »Rechtsschutzbehörden«: Wir haben jemanden eingelocht – sie werden es schon bestätigen. […]«

Leonid Nikitinskij am 13. Februar 2016 in der »Nowaja Gaseta«; <http://www.novayagazeta.ru/columns/71841.html>

Ausgewählt und zusammengefasst von Sergey Medvedev, Berlin (Die Blogs, auf die verwiesen wird, sind in russischer Sprache verfasst)


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