Die Militärreform in Russland und ihre Folgen

Von Alexander Golts (Moskau)

Zusammenfassung
Die Fähigkeit der russischen Streitkräfte zu effektivem, flexiblem und schnellem Eingreifen, wie es sich bei der Annexion der Krim gezeigt hat, sowie bei der Führung eines hybriden Krieges im Donbass und dem Einsatz in Syrien sind Ergebnis einer Militärreform, die von 2008 bis 2012 durchgeführt wurde. Dies wirft die Frage auf, ob die »liberale« Militärreform dem autoritären Staat einen Nutzen gebracht hat. Es ist nicht ausgeschlossen, dass Russland das Aufkommen eines »neuen Militarismus« zu erwarten hat, in dem sich moderne Modelle des Militäraufbaus mit der totalitären Ideologie einer mobilisierten Massenarmee verbinden würden. Bereits jetzt ist klar: Selbst eine »richtige« Reform in einem bestimmten Bereich, beispielsweise beim Militär, garantiert noch keineswegs eine positive Entwicklung des autoritären Regimes.

»Liberale« Militärreform (2008–2012)

Die Rolle, die die Streitkräfte Russlands bei der Einnahme der Krim, bei dem hybriden Krieg im Donbass und dem Eingreifen in Syrien gespielt hat, ist mehr als nur ein Anlass, über die Folgen einer radikalen Militärreform in einem autoritären Staat nachzudenken. Es wird angenommen, dass gerade die strategische Mobilität (die Fähigkeit, eine militärische Aufgabe innerhalb weniger Stunden nach Erhalt des Befehls zu erledigen) von 30 bis 40 Eliteeinheiten das wichtigste Ergebnis der Militärreform ist, die in den Jahren 2008 bis 2012 durchgeführt wurde. Diese Fähigkeit zeigte sich zunächst nach dem 26. Februar 2014, als Präsident Wladimir Putin eine »umgehende Prüfung« der Einsatzbereitschaft der Streitkräfte verkündet hatte und dann innerhalb von ein bis zwei Tagen rund 40.000 Militärangehörige entlang der russisch-ukrainischen Grenze stationiert wurden.

Im Zuge der Reform war eine gewaltige Zahl von Offiziersstellen abgebaut worden. Von den 355.000 Offizieren blieben 220.000, und von den 140.000 »Praporschtschiki« (Heer) und »Mitschmany« (Marine) [zwischen Offizier und Unteroffizier angesiedelte Dienstgrade, engl.: warrant officer; d. Red.] nur 50.000. Doch selbst solche Kürzungen verblassen vor dem Hintergrund der durchgeführten »organisatorischen Maßnahmen«: Die Zahl der Einheiten und Verbände der Landstreitkräfte (Heer) wurde auf ein Elftel reduziert, von 1890 auf 172; bei der Luftwaffe (Luft- und Weltraumstreitkräfte) erfolgte eine Halbierung von 240 auf 120 und bei der Seekriegsflotte (Marine) eine Verringerung von 240 auf 123. Eine derart drastische Reduzierung ist dadurch zu erklären, dass alle »nicht einsatzbereiten« Verbände (diese hatten in den Streitkräften rund 80 Prozent der Gesamtzahl der Verbände ausgemacht) aufgelöst wurden. Es erfolgte ein Übergang vom vierstufigen Organisationssystem der Streitkräfte (Militärbezirk – Armee – Division – Regiment) zu einem dreistufigen: (Militärbezirk /vereinigtes strategisches Kommando – Armee – Brigade). Im Heer wurden aus 23 Schützen- und Panzerdivisionen rund 60 allgemeine Brigaden gebildet. Bei der Luftwaffe wurden die Stützpunkte zur wichtigsten operativen Einheit. Im Zentralapparat des Verteidigungsministeriums hatten 2008 noch 10.523 Militärangehörige gedient, darüber hinaus waren 11.000 Offiziere den Stellen der Militärverwaltung zugeteilt, wodurch sich eine Gesamtzahl von fast 22.000 ergab. Durch die Kürzungen im zentralen Apparat des Verteidigungsministeriums sind nur noch rund 8.500 Offiziere übriggeblieben.

Diese quantitative Reduzierung führte zu einer vollständigen Abkehr von dem Konzept, das in den 1870er Jahren eingeführt wurde und in der massenhaften Mobilisierung eine notwendige und äußerst wichtige Bedingung zur Abwehr einer militärischen Bedrohung sieht. Im Falle einer solchen Bedrohung sollten vier bis acht Millionen Reservisten zu den Waffen gerufen werden, die dann unter dem Kommando von »überzähligen« Offizieren in zu Friedenszeiten nicht einsatzbereiten »Rahmeneinheiten« stehen würden.

Diese Maßnahmen waren begründet, da die Autoren der Reform davon ausgingen, dass selbst zu Kriegszeiten nicht mehrere Millionen, sondern lediglich 700.000 Reservisten eingezogen würden.

Diese Kürzungen waren es, die die strategische Mobilität der Streitkräfte Russlands gewährleisteten: Die verbliebenen Verbände werden jetzt hinsichtlich der Personalstärke wie zu Kriegszeiten besetzt. Nach Erhalt eines Befehls verlieren sie somit keine Zeit durch die personelle Komplettierung der Einheiten. Gleichzeitig bewegt sich die Armee nun in Richtung Professionalisierung.

Anfangs war davon gesprochen worden, dass bis 2017 425.000 Zeitsoldaten per Vertrag rekrutiert werden sollten. Der neue Verteidigungsminister Sergej Schojgu verkündete dann die Vorgabe von 495.000 Zeitsoldaten bis 2020. Derzeit hat die Zahl der Zeitsoldaten 300.000 erreicht, wodurch diese Zahl zum ersten Mal in der Geschichte die Zahl der Grundwehrdienstleistenden übertrifft. Die Rekrutierung von Wehrpflichtigen soll zwar erhalten bleiben, allerdings nicht mehr als zehn Prozent der erklärten Millionenstärke der Streitkräfte ausmachen. Die Rekrutierung Wehrpflichtiger soll somit praktisch freiwillig werden: Eingezogen würden nur jene, die planten, Berufssoldat zu werden.

Teilweise Rücknahme von Reformvorhaben

Die Reformen wurden dann jedoch in der »quantitativen« Phase gestoppt; sie blieben auf eine Reduzierung des Personals und der Armeeverbände beschränkt. Der Verzicht auf eine Wehrpflichtarmee machte dabei den Übergang zu einem grundlegend verbesserten Ausbildungsniveau des Personals erforderlich. Man stand also vor der Notwendigkeit, das System der militärischen Ausbildung tiefgreifend zu ändern, sich von der alten Laufbahnordnung für Offiziere zu verabschieden, und die Institution professioneller befehlshabender Unteroffiziere einzuführen. Serdjukow hatte beschlossen, alle Offiziersschulen –2008 waren das 68 – in 10 wissenschaftliche Ausbildungszentren umzuwandeln (entsprechend den Teilstreitkräften und Truppengattungen der Streitkräfte). Dort sollten die in den jeweiligen Bereichen führenden Militärwissenschaftler konzentriert und Möglichkeiten geschaffen werden, dass Offiziersanwärter und Offiziere an die modernsten Methoden militärischer Einsätze herangeführt werden.

Darüber hinaus wurde beschlossen, sich von den Akademien der Teilstreitkräfte zu verabschieden sowie die Ausbildung an der Akademie des Generalstabes bis auf einige Monate zu verkürzen. Die Architekten der Reform gingen davon aus, dass Offiziersanwärter an den Hochschulen, nachdem sie eine militärische Grundbildung vermittelt bekommen haben, anschließend neue Kenntnisse erwerben würden, ohne ihren Dienstort für längere Zeit verlassen zu müssen (beim alten System konnte es geschehen, dass der Offizier eine beträchtliche Zeit fern von der Truppe verbrachte: drei Jahre an der Akademie und dann zwei weitere Jahre an der Akademie des Generalstabs). Für den nächsten Dienstgrad und Rang müsste er nun zwangsläufig (die Dienstjahre allein wären nicht hinreichend) nicht allzu lange Ausbildungskurse absolvieren und sich in einem bestimmten Bereich neues Wissen und neue Fertigkeiten aneignen.

Schließlich und als wichtigstes wurde das Programm der Basisausbildung vollständig überarbeitet. Dieses sollte auf der Aneignung grundlegender wissenschaftlicher Fachkenntnisse beruhen, während der Aneignung konkreter militärischer Fertigkeiten erheblich weniger Aufmerksamkeit geschenkt werden sollte (da letztere leicht in speziellen Ausbildungszentren erworben werden können). Die Reformer wollten geisteswissenschaftliche Disziplinen, in erster Linie das Erlernen von Fremdsprachen, an allen militärischen Hochschulen zu Hauptfächern machen. Kurz gesagt, an die oberste Stelle wurden Führungsqualitäten wie etwa die Fähigkeit gesetzt, ständig dazuzulernen und die Welt um sich herum sowie den eigenen Platz in ihr zu verstehen.

Militärisches Bildungswesen bleibt traditionell

Nach der Entlassung Serdjukows jedoch wurde bei der Reform der Rückwärtsgang eingelegt. Das Verteidigungsministerium beschloss, 18 Hochschulen und 15 ihrer Außenstellen beizubehalten. Dabei ist wohl kaum zu erwarten, dass 33 über das gesamte Land verstreute Militärschulen ein modernes Ausbildungsniveau gewährleisten werden. Die Ausbildungseinrichtungen, die sich zu Zeiten Serdjukows in der Zuständigkeit des Ausbildungsreferats des Verteidigungsministeriums befanden, wurden erneut den Oberkommandos der jeweiligen Teilstreitkräfte unterstellt. In Erfüllung der engen behördlichen Vorgaben (möglichst schnelle Aneignung der Dienstpflichten und -vorschriften durch den Leutnant), wird gefordert, dass die Hochschulen die Absolventen nicht mit grundlegenden Kenntnissen ausstatten, sondern vor allem mit praktischen Fertigkeiten. Hierzu dürfte wohl auch die von Schojgu verkündete Rückkehr zum alten sowjetischen Muster der Militärausbildung (Militärhochschule – Akademie der Teilstreitkräfte – Akademie des Generalstabs) ihren Beitrag leisten.

Dass die Regierung auf eine Reform des militärischen Bildungswesens verzichtet hat, ist kein Zufall. Wenn gebildete, selbständige, sich selbst und ihrer Rechte bewusste Menschen in die Armee eintreten, wären diese wohl kaum mit dem bestehenden System zufrieden, in dem ein Offizier jeden, sogar einen verbrecherischen, Befehl auszuführen hat. Ich möchte betonen, dass dies insbesonders jetzt aktuell ist, in einer Zeit, in der im Kreml ernsthaft davon gesprochen wird, dass die »bunten Revolutionen« eine neue Art Kriegshandlung sind. Gleichzeitig drängt Verteidigungsminister Sergej Schojgu darauf, wissenschaftlich begründete Möglichkeiten zu finden, um die Armee im Landesinnern einzusetzen. Der Generalstab hat sich nun schon ein Jahr lang der Ausführung dieses Befehls entzogen.

Das Verteidigungsministerium hat anscheinend von der Idee Abstand genommen, ein umfangreiches Kontingent von Unteroffizieren (sershanty) als professionelle Kommandeure für die unteren Ebenen zu schaffen. Deren Funktionen will man nach wie vor Offizieren übertragen. Deshalb auch wendet sich das Verteidigungsministerium wieder in Richtung der alten »extensiven Reproduzierung« der Offizierskräfte. Alle Offiziersschulen, die nicht aufgelöst wurden, werden versuchen, bei den Oberkommandos der Teilstreitkräfte eine Aufstockung der Zahl ihre Anwärter zu erreichen. Ein Überschuss an Offizieren droht dem Land auch dadurch, dass die Dienstzeit der Offiziere vor kurzem auf fünf Jahre verlängert wurde. Offiziere werden aber dazu gebraucht, das Kommando über jemanden zu führen. Das bedeutet wiederum, dass weder die Einberufung von Wehrpflichtigen, noch die Zahl der Offiziersstellen verringert wird.

Reservisten als Teil der Massenmobilisierung

Etwas Vergleichbares geschieht mit dem System der Komplettierung der Streitkräfte durch Reservisten. Ende 2008 war verkündet worden, dass erstmals in der Geschichte Russlands der Dienst als Reservist bezahlt und freiwillig werde, und dass sich Interessenten nach dem Grundwehrdienst oder dem Dienst auf Zeit als Reservisten registrieren lassen können. Aus den Reservisten sollten gesonderte Einheiten gebildet werden, deren personelle Ausstattung durch den Militärbezirk zu erfolgen habe.

Die russische Generalität hat diese Idee jedoch bewusst ins Absurde getrieben: Es wurde ein »Experiment« verkündet, das sich bis in die Gegenwart hinzieht. Es stellte sich heraus, dass nur 5.000 Soldaten und Offiziere für den Dienst in der Reserve registriert werden sollten. Und später, falls das Experiment erfolgreich war, werde die Zahl der Reservisten auf 8.000 steigen. Das entspricht ungefähr zwei Brigaden – von benötigten 60. Das heißt, es gelingt ganz offensichtlich nicht, 58 Brigaden auf freiwilliger Basis zu bilden. Es gelänge jedoch mit Hilfe von »Mobilisierungsressourcen«, indem wie zu sowjetischen Zeiten die diensttaugliche männliche Bevölkerung als Reserve registriert wird. Damit würde jedoch die vormalige Anzahl an Dienststellen für Offiziere und Generäle erhalten bleiben, damit nämlich jemand da ist, der diese sagenhaften Divisionen kommandiert. Somit würde die Zahl der Reservisten riesig und unbestimmt bleiben müssen.

Hierin ist der Grund zu sehen, warum die russische Generalität den Vorschlag Wladimir Putins torpedierte, ein System des Armeedienstes für Studenten einzuführen, im Rahmen dessen diese ihre Hochschule nicht verlassen müssten. Diesem System zufolge würden Studenten innerhalb von anderthalb oder zwei Jahren einen Tag pro Woche der militärischen Ausbildung widmen. Nach Absolvierung dieses Kurses hätten sie ein dreimonatiges Trainingslager zu durchlaufen. Anschließend würden sie als einfache Soldaten oder Unteroffiziere in die Reserve entlassen, ohne je einen echten Dienst in der Truppe absolviert zu haben. Schojgu versuchte die prinzipiell unlösbare Aufgabe zu lösen, die Putin gestellt hatte (die Personalstärke der Streitkräfte sollte auf eine Million gebracht werden), indem er auf einen Schlag Zehntausende Studenten in den Dienst der Streitkräfte aufnahm. Doch auch hier griffen die Generäle zu Sabotage. Statt der ursprünglich geplanten 58.000 Studenten, die im Jahr 2015 nach dem neuen System ausgebildet werden sollten, waren es tatsächlich nur 15.000.

Schojgus Balanceakt

Dem erfahren Politiker Sergej Schojgu gelingt es vorläufig noch, eine gewisse Balance zwischen einer »liberalen« Militärreform und den Grundprinzipien des derzeitigen Regimes aufrechtzuerhalten, eines Regimes, das auf der Annahme beruht, dass es einer Großmacht schlicht und einfach nicht ansteht, eine Armee von weniger als einer Million zu haben. Dabei ist bereits jetzt offensichtlich: Die russische Regierung ist von der Effizienz der Streitkräfte derart überzeugt, dass sie ihnen Aufgaben aufzuerlegen begann, die sie nicht erfüllen können. Im gleichen Maße, in dem die Ambitionen des Kreml, die mit einem Einsatz militärischer Mittel zusammenhängen, zunehmen, wird die andere Seite der Reform der Streitkräfte erkennbar. Im März 2014 war der Kreml genötigt, im Süden und Osten der Ukraine auf ein Szenario zu verzichten, das die Annexion der Krim wiederholt hätte. Eine Einnahme der Gebiete Donezk und Luhansk wäre in dieser Situation nicht schwierig gewesen. Eine neue Grenze zu schaffen und Einheiten zu stationieren, die diese Grenze über einen längeren Zeitraum schützen ist jedoch eine Aufgabe, die ganz andere Dimensionen hat und, was schwerer wiegt, eine andere Personalstärke der Streitkräfte erfordert – Elitetruppen von 40.000 bis 50.000 reichen da nicht aus. Es war kein Zufall, dass im Februar 2015, als der strategisch wichtige Eisenbahnknotenpunkt Debalzewe eingenommen werden sollte, das russische Kommando gezwungen war, ein Panzerbataillon aus Burjatien, aus dem asiatischen Teil des Landes heranzuführen. Die Streitkräfte Russlands wurden in den letzten Jahren nach einem Modell aufgebaut, wie es einst Colin Powell dargelegt hatte: Streitkräfte müssen kurzfristig und massiv eingesetzt werden, und sie müssen nach dem Sieg unverzüglich abgezogen werden. Der Krieg in der Ukraine hat jedoch andere Anforderungen gestellt.

Die Geheimoperation im Donbass, an der die russische Armee beteiligt ist, hat darüber hinaus Disziplin und Moral der Truppe erheblich geschadet. In dem Bestreben, diese Beteiligung geheim zu halten, hat die Militärführung geheime Begräbnisse der Gefallenen abgehalten. Die militärische Führung wartete mit der absurden Behauptung auf, dass russische Militärangehörige in der Ukraine gekämpft haben, während sie angeblich Urlaub von ihren Einheiten genommen hatten. Dabei ist allen wohlbekannt, dass ein Militärangehöriger, der Urlaub nimmt, verpflichtet ist, in einem Bericht den voraussichtlichen Ort des Urlaubs anzugeben. Wer solche Erklärungen abgibt, fügt den Streitkräften enormen Schaden zu.

Moral und Disziplin in der Armee beruhen auf dem vollen Vertrauen zum Kommandeur, der wiederum die volle Verantwortung für das Leben seiner Untergebenen trägt. Derzeit ist es aber so, dass Kommandeure von Eliteverbänden der russischen Streitkräfte mit Hilfe äußerst mieser Tricks versuchen, die Verantwortung für gegebene Befehle abzugeben. Das könnte sehr viele davon abhalten, professionell zum Militär gehen zu wollen, und es würde die Absicht des Verteidigungsministeriums durchkreuzen, bis zu 50.000 Zeitsoldaten pro Jahr zu rekrutieren.

Dadurch werden gerade jetzt, in einer Situation, in der die russische Armee scheinbar ihre Effizienz demonstriert, die Probleme der Reformen immer deutlicher. Einerseits hat sich die Regierung lediglich auf »quantitative« Veränderungen beschränkt, auf eine Reduzierung des Offizierskorps und der Anzahl der Verbände. Von qualitativen Veränderungen hat der Kreml dabei abgesehen, da diese offensichtlich den »ideologischen Grundlagen« des von Wladimir Putin errichteten Staates zuwiderlaufen. Eine Reform der Streitkräfte, so sie bis in eine »qualitative« Phase hinein fortgeführt würde, könnte langfristig nicht nur auf die militärische Organisation einen erheblichen Einfluss haben, sondern auch auf die russische Gesellschaft insgesamt. Über dreihundert Jahre hinweg, seit der Einführung eines stehenden Heeres, hat der Staat in den Bewohnern des Landes vor allem eine Ressource zur Führung von Kriegen gesehen. Das gesamte System der ideologischen Lenkung des Landes baute auf der Vorstellung auf, das Land sei ein geschlossenes Feldlager, eine belagerte Festung. Ein Verzicht auf massenhafte Mobilisierung, ein Übergang zu einer Freiwilligenarmee würde die Beziehung zwischen Bürger und Staat grundlegend verändern. Und hier trat der Präsident auf die Bremse. Schließlich halten nicht nur er, sondern auch ein erheblicher Teil der Bevölkerung die Armee für eine exakte Kopie des autoritären Staates.

Fazit

Eine mobilisierte Massenarmee ist für das Putinsche autoritäre Modell des Staatsaufbaus von grundlegender Bedeutung, da sie das Gefühl vermittelt, dass jeder Bürger, ganz unabhängig von sozialem Status, Bildung oder Wohlstand, dem Staat ständig »etwas schuldig ist«. Der Kreml stand vor der Notwendigkeit, sich zwar einerseits von der Mobilisierungsgrundlage der Armee sowjetischen Typs zu verabschieden, gleichzeitig aber den militaristischen Überbau beizubehalten. Offensichtlich gelang dies, indem die Reform Serdjukows auf halber Strecke, in der »quantitativen Phase«, gestoppt wurde.

Der Konflikt um die Ukraine verweist auf einen weiteren Grund, warum die Regierung in Russland möglicherweise mit der Militärreform unzufrieden sein könnte – selbst wenn der Kreml durch diese Reform einsatzfähige Streitkräfte erhielt. Sie garantieren zwar in jedem Konflikt im postsowjetischen Raum einen Sieg, haben sich aber als unzureichend erwiesen, wenn es um eine Besetzung des Donbass geht. Falls die sogenannten »geopolitischen Ambitionen« Russlands sich ausweiten sollten, entstünde bei der Führung des Landes unausweichlich die Versuchung, zu einer Armee zurückzukehren, die auf massenhafter Mobilisierung beruht und dem Kreml Millionen Reservisten an die Hand geben würde, die ein Besetzungsregime sicherstellen könnte.

Auf jeden Fall stehen die Wissenschaftler vor der wichtigen Frage, welche Folgen eine »liberale« Militärreform in einer Situation hätte, in der das Land autoritär bleibt. Es erscheint angemessen, Russland mit Deutschland zu Beginn des 19. Jahrhunderts zu vergleichen. Die Grundprinzipien des Aufbaus der deutschen Streitkräfte wurden seinerzeit von »Liberalen in Uniform« geschaffen: von Clausewitz, Scharnhorst und Gneisenau. Es ging um eine Wehrpflichtarmee, die nach Vorstellung ihrer Organisatoren eine Gemeinschaft von »Bürgern in Uniform« sein sollte. Allerdings muss hier angemerkt werden, dass dieses »liberale« Modell in einem zutiefst autoritären preußischen Staat angewandt wurde; das führte später zur Schaffung einer nahezu idealen Militärmaschine, die blind die Befehle des »Führers« ausführte. Es ist durchaus wahrscheinlich, dass auch in Russland die Geburt eines »neuen Militarismus« zu erwarten ist, bei dem moderne Modelle des Militäraufbaus sich mit der totalitären Ideologie einer Armee der Massenmobilisierung verbinden. Bereits jetzt ist klar: Selbst eine »richtige« Reform in einem bestimmten Bereich, sei es beim Militär oder im Steuerwesen, garantiert noch keineswegs eine positive Entwicklung des autoritären Regimes. Das Regime könnte im Gegenteil dadurch gestärkt werden, dass es durch Reformen effektive Instrumente zur Verfügung bekommt, zum Beispiel moderne Finanzinstitutionen oder modernisierte Streitkräfte.

Übersetzung: Hartmut Schröder

Lesetipps / Bibliographie

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  • Norberg, Johan: High Ambitions, Harsh Realities. Gradually Building the CSTO’s Capacity for Military Intervention in Crises, Stockholm: FOI, Mai 2013; <www.foi.se/ReportFiles/foir_3668.pdf>.
  • Renz, Bettina: Russian Military Capabilities after 20 Years of Reform, in: Survival, 53.2014, Nr. 3, S. 61–84.
  • Sutyagin, Igor: Russian Forces in Ukraine [= Royal United Services Institute. Briefing Paper], 9. März 2015; <https://rusi.org/sites/default/files/201503_bp_russian_forces_in_ukraine.pdf>).

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