Terroranschlag in Paris

Am späten Abend des 13. Novembers wurden an sechs verschiedenen Orten in Paris Terroranschläge verübt. Mehr als 130 Menschen wurden getötet, 90 Menschen schwer verletzt. In sozialen Netzwerken werden Kondolenzschreiben veröffentlicht. Als Zeichen der Solidarität haben viele Facebook-User ihre Fotos in französische Nationalfarben eingefärbt. Die ganze Welt trauert mit Frankreich. Russland zeigte ebenfalls seine Anteilnahme. In den staatsnahen Medien wurden jedoch schnell Erklärungen zu den Ursachen der Anschläge verbreitet: Dies sei nicht nur eine Vergeltung der radikalen Islamisten für den Militäreinsatz Frankreichs in Libyen, Syrien und dem Irak, zu denen die USA die Fünfte Republik gezwungen habe, sondern auch Konsequenz der Multikulti-Politik und der Toleranz in der französischen Gesellschaft. Auch in der russischen Blogosphäre häufen sich Äußerungen, dass es nur eine Frage der Zeit war, bis Europa für seine Politik der offenen Grenzen einen bitteren Preis zu zahlen hätte. Mit diesen Gedanken spielt der orthodoxe Prediger Dionisij Posdnjajew auf der Online-Plattform »Orthodoxie und die Welt« (»Prawoslawije i mir«). Der Journalist der Wirtschaftszeitung »Kommersant«, Andrej Archangelskij, empört sich über die Art und Weise, in der der Kreml durch gesteuerte Medien den Anschlag in Paris instrumentalisiere. Der Nahost-Experte Alexander Schmeljow weist darauf hin, dass eine Abkehr von den europäischen Werten einen Sieg der Terroristen bedeuten würde. Der Blogger Alex Petrakov empört sich über die Heuchelei des Westen, der den Franzosen gegenüber Mitleid zeige und den Russen nach dem Anschlag auf ein Passagierflugzeug vor zwei Wochen lediglich ein diplomatisches Standard-Beileidschreiben habe zukommen lassen. Kirill Martynow, ein Kolumnist der »Nowaja Gazeta«, bezeichnet die Anschläge in Paris als Kriegserklärung und weist darauf hin, dass die Menschheit nach siebzig Jahren wieder vor einer gemeinsamen Gefahr stehe, die in einen Dritten Weltkrieg münden könnte. Der Oppositionelle Ilja Jaschin verurteilt den Militäreinsatz des Kreml in Syrien, mit dem Putin alle russischen Bürger zur Zielscheibe der Terroristen des Islamischen Staats gemacht habe. Der Ex-Oligarch Michail Chodorkowskij kritisiert ebenfalls die Politik Russlands im Nahen Osten und glaubt nicht, dass ein Bündnis mit dem Westen zur Bekämpfung der Terroristen entstehen könne, da das Putin-Regime sich nicht allzu sehr vom Islamischen Staat unterscheide.

Petrakow: Wo waren Sie alle vor zwei Wochen?

»[…] Sämtliche globalen Medien berichten live von dem Ort dieser fürchterlichen, tragischen Ereignisse. Die Weltführer sind einer nach dem anderen vor der Kamera beinahe in Tränen aufgelöst. Die Städte hüllen sich in die französischen Nationalfarben. Nein, nein, das ist alles richtig, das muss man machen. Warum haben Sie aber VERDAMMT NOCH MAL (!) all das nicht vor zwei Wochen getan?

Diejenigen, die Hollande gegenüber ihr Beileid bekunden, sollten sich daran erinnern, dass sie sich vor zwei Wochen auf ein nüchternes diplomatisches Telegramm an Moskau beschränkten. Obama und seine Minister grinsten und rissen sarkastische Witze nach dem Motto, das sei der Preis, den Russland für seine Selbständigkeit und dafür, dass es sich nicht in einem gemeinsamen Pferdestall befindet, zu zahlen habe. Niemand hat live berichtet. Niemand hat im Netz Solidaritäts-Flashmobs organisiert oder Trauer-Hashtags kreiert. Niemand hat Brücken und Gebäude in den Farben der russischen Fahne bemalt. Nur wir, die Russen, waren in Trauer. Und die Freunde Russlands. Die restliche Welt hat geschwiegen und tat so, als ob nichts geschehen sei.

Ich möchte es nicht und ich werde die Opferzahlen nicht vergleichen, genauso wenig wie ich die »richtigen« und »falschen« vergleichen möchte, die mehr oder weniger toleranten Bestien, die unschuldige Menschen in Paris getötet und mehr als zweihundert Passagiere und Bordpersonal der Fluglinie »Kogalymavia« in die Luft gesprengt haben. Die Haltung gegenüber den Toten und den Lebendigen aber will ich und werde ich vergleichen. Dazu habe ich das Recht. Deswegen bin ich kein Charlie, kein Pariser und kein Franzose. Deswegen werde ich mein Foto weder heute noch morgen in den Farben Frankreichs einfärben und auch keinen dunklen Hintergrund für mein Foto wählen oder Trauerkerzen anzünden. Obgleich ich verstehe, dass diejenigen, die das machen, es für richtig halten das zu machen, auch ein Recht dazu haben. Ich bin nicht ihr Richter. Ich habe ihnen nichts vorzuwerfen, wenn ihre Trauer und Anteilnahme aufrichtig und ungeheuchelt ist.

Ich möchte aber meinen Freunden und Followern Folgendes sagen: Das ist kein Rat, sondern eine Meinung, die man wahrnehmen oder auch, das verstehe ich, ignorieren kann. Bevor Sie öffentlich gemeinsam mit den Franzosen, mit Paris trauern, denken Sie darüber nach, wie Sie auf den Absturz der russischen Passagiermaschine, unserer Landsleute, reagiert haben. Wenn es genauso war, dann ok… Wenn Sie sich »wie immer« verhalten haben«, überlegen Sie, ob Sie im richtigen Land leben. Vielleicht sind Sie mehr Franzose, als Russe.«

Alexander Petrakow am 14.11.2015 auf Facebook; <https://www.facebook.com/alexpetrakov1980/posts/102037204539 30820?pnref=story>

Chodorkowskij: Man kann kein Verbündeter einer Gemeinschaft sein, wenn man die Werte der Gemeinschaft nicht teilt

»Heute zeigen alle normalen Menschen ihr Mitgefühl mit dem französischen Volk, das erneut von Terroristen attackiert wurde.

Vor kurzem wurden meine Mitbürger ähnlich angegriffen, und das war offenbar nicht das letzte Mal.

Wenn es auch noch keinen Krieg bedeutet, dann ist es zumindest sein Vorfeld, wenn auch in einer anderen Art, die sich von dem, was wir aus den letzten Jahrhunderten kennen, unterscheiden mag.

Das ist der Konflikt zweier Zivilisationen, der europäischen, die nach Jahrhunderten wechselseitigen Mordens das Leben des Menschen zum höchsten Gut erklärt hat, und einer anderen Zivilisation, die diese Werte nicht anerkennt und den Menschen zuerst als Mittel zur Umsetzung anderer, für uns nachvollziehbarer oder nicht nachvollziehbarer Ziele hält. Auf welcher Seite steht eigentlich das russische Regime, das verkündet hat, es führe in Syrien einen Kampf gegen den »Islamischen Staat«? Die Antwort ist längst nicht offensichtlich […]

Und wir, die Russen, müssen endlich begreifen: Wir sind Teil der europäischen Zivilisation, wir haben einen gemeinsamen Feind. Man kann nicht in demselben Lager sein und dabei die Werte der Gemeinschaft nicht teilen. Das endete schon einmal in einem Kalten Krieg zwischen ehemaligen Verbündeten, der mindestens drei Mal beinahe zum »heißen« [Krieg] geworden wäre.

Das Land, in dem sich Kadyrows als Herrscher sehen, unterscheidet sich kaum vom IS. Ein gemeinsamer Kampf gegen eine Zivilisation, die den Wert des menschlichen Lebens nicht anerkennt, muss mit der Anerkennung der Rechte und Freiheiten als höchstem menschlichen Gut beginnen, und nicht mit einer falschen ›Großherrlichkeit des Staates‹.«

Michail Chodorkowskij am 14.11.2015; <https://openrussia.org/post/view/10593/>

Archangelskij: Vergeltung für die Freiheit. Wie werden Ursachen und Konsequenzen der Terroranschläge in Russland gesehen

»Freude zu empfinden angesichts eines möglichen Verzichts Europas auf demokratische Werte wäre nach Freud Kompensierung eines eigenen sozialen Misserfolgs. Da es bei uns selbst mit dem europäischen Leben »nicht geklappt hat«, möchte man nun denken, dass es prinzipiell bei niemandem klappen konnte. Wir wollen annehmen, dass die Demokratie ein Trugbild, eine Täuschung, eine Illusion der Menschheit sei. Dies geht auf eine noch grundlegendere russische Vorstellung zurück, nämlich dass die Idee politischer Freiheit an sich eine vorübergehende Anwandlung, einen Irrtum darstelle. Der Drang nach Freiheit gilt in Russland üblicherweise als Krankheit, als Jugendsünde. Verzicht auf Freiheiten wird als ein natürliches Moment des Erwachsenwerdens angesehen. Eine in den Medien dominierende Idee lautet: Der Anschlag in Frankreich sei die „Vergeltung für den Unwillen erwachsen zu werden«. »Charlie Hebdo«, die Flüchtlinge, die Anschläge vom 14. November – nach all dem müsste dieses Frankreich »erwachsen werden«. Nun »werde dies Europa die Augen öffnen«, »vielleicht werde Frankreich es nun verstehen« und es werde sich dabei gleichzeitig aus der Abhängigkeit von den USA befreien […]«

Andrej Archangelskij am 15.11.2015 auf Facebook; <https://www.facebook.com/permalink.php?story_fbid=1003928629 669311&id=100001565514705>

Martynov: Der Dritte Weltkrieg

»Massenhinrichtungen in Paris, Franzosen, die im Angesicht des brutalen Feindes die Marseillaise singen – diese Assoziationskette holt den Zweiten Weltkrieg zurück. Im Grunde hat die westliche Welt nun erstmals seit der Nazizeit einen Feind, von dessen Vernichtung ihre Zukunft abhängt. Der IS ist sicherlich um etliches schwächer als Hitlerdeutschland auf dem Zenit seiner Macht, doch weist er eine ähnliche Ideologie auf: Die Idee von einem Großreich und die Vorstellung, dass diejenigen, die dieses nicht unterstützen oder sich nicht der richtigen Ideologie verschreiben, vernichtet werden.

Die Erfahrung zeigt, dass die westliche Zivilisation in solchen Situationen zwar widerstrebend, langsam, aber dennoch in den Krieg eintritt. Jetzt scheint es, als gäbe es die Möglichkeit zur Formierung der größten militärisch-politischen Koalition seit 1945. Auf die eine oder andere Weise werden sich der amerikanische Geheimdienst, die französische Fremdenlegion, die russischen Luftstreitkräfte, kurdische Aufständische der Peschmerga, die säkularen Regierungen des Nahen Ostens, der Zahal [Militär Israels, d. Red.], und sogar Indien in die Koalition einordnen. Von den großen Akteuren bleibt lediglich China außen vor. All diese Kerle sollten losziehen und den Scheichs und Imamen den Hintern versohlen. Enden sollte dies nicht nur mit der Vernichtung der Terroristen, sondern mit einem Militärtribunal nach Art des Nürnberger Prozesses.

Ich denke, dass es mittlerweile für uns Europäer keine akzeptablere Variante mehr gibt. Interessant ist, dass aus all dem folgt, dass Russland einfach dazu verdammt sein wird, für die nächsten Jahre ein westliches Land zu sein – der IS hat Russland keine Chance auf ein anderes Szenario gelassen, so sehr unsere Nazis dies auch gewollt hätten. Die letzteren haben jetzt ein rührendes Argument, sozusagen: »der Westen hat nun zu Ende gespielt und für den Multikulturalismus bezahlt«. Dieses Argument wird aus einem Zustand fortgeschrittener Demenz heraus formuliert, wegen derer bereits vergessen wurde, dass vor ein paar Wochen noch ein russisches Flugzeug in die Luft gesprengt worden ist.

Putin hat alle ausgespielt, auch sich selbst, in einem tiefen-psychoanalytischen Wortsinne: Wir wollten in Syrien zeigen, dass wir cool drauf sind und vor Papa (dem Westen) keine Angst haben. Schlussendlich jedoch sind wir dort vom allgemeinen Erdbeben erfasst und verschüttet worden, nun müssen wir ernsthaft wieder in die Familie zurückfinden.«

Kirill Martynov am 14.11.2015 auf Facebook <https://www.facebook.com/kmartynov/posts/1098168596883574>

Jaschin: Putin hat durch sein Abenteuer in Syrien alle Russen zu möglichen Opfer gemacht

»Jedem normalen Menschen wird es nach dem nächtlichen Albtraum in Paris schwerfallen, sich von den schlimmen Gedanken zu befreien, die unsere Perspektiven hier, in Russland betreffen. Die Wahnsinnigen des IS sind zu allem fähig. Aber ist unser Land bereit für diese Risiken, die der Staat mit den russischen Bombardierungen in Syrien eingegangen ist?

Es ist klar, dass Putin in Syrien nicht interveniert um gegen den IS zu kämpfen. Wenn er ernsthaft gegen den IS kämpfen wollte, hätten die russischen Streitkräfte sich der vereinten westlichen Koalition angeschlossen und so als geschlossene Front agiert.

Nein, Putin ist in Syrien angetreten, um in der Geopolitik mitzumischen und um Obama einen Dialog aufzuzwingen, und um die Agenda von der Ukraine in den Nahen Osten zu verlegen. Es ist alles klar: Solche primitiven Schachzüge durchschaut sogar jeder Erstsemester.

Hat Putin mit den Risiken gerechnet?

Nun zu Frankreich, das sich seit Langem dem IS entgegenstellt. Es verfügt über eine starke Armee und ernstzunehmende Geheimdienste. Es weiß, was Terroranschläge sind. Und dennoch ist es verwundbar – nur wenige Monate nach der Schießerei gegen »Charlie Hebdo« gab es ein solches Blutbad.

Russland weiß ebenfalls, was Terroranschläge sind. Sind unsere Geheimdienste fähig, das Land zu schützen? Da gibt es Zweifel. Die Praxis zeigt, dass der FSB im Großen und Ganzen nicht nur nicht dazu in der Lage ist, die Gesellschaft zu schützen, sondern auch nicht sich selbst. Erinnern Sie sich an die Aktion von Pawlenskij. Der Junge ist mit einem Kanister ungehindert zum Hauptgebäude des FSB im Zentrum der Hauptstadt spaziert, hat die Eingangstür mit Benzin übergossen und sie seelenruhig angezündet. Erst nach ein paar Minuten kam jemand angelaufen um ihn zu stoppen – und wer war das? Ein Verkehrspolizist!

Lasst es uns geradeheraus sagen: Putin hat in Syrien ein Abenteuer begonnen, das jeden Bürger Russlands zur potenziellen Zielscheibe von verbitterten, blutrünstigen Besessenen gemacht hat.

Geb’s Gott, dass für dieses Abenteuer nicht erneut mit unschuldigen Leben bezahlt werden muss.«

Ilja Jaschin am 14.11.2015 auf Facebook; <https://www.facebook.com/photo.php?fbid=926340024086310>

Posdnjajew: Das ist keine Kriegserklärung, sondern der Beginn eines Krieges

»In Sicherheit kann man sich wahrscheinlich nirgendwo fühlen. Das ist im Prinzip kein Novum, dass es Kräfte gibt, die den Frieden zerstören wollen. Mit diesem Gefühl der Unsicherheit muss man heute leben. Es ist die Zeit der Aufmerksamkeit und des Vertrauens auf Gott. In solch einer Zeit wird der Mensch ernsthafter und begeht möglicherweise weniger Sünden.

Natürlich ist es eine Zeit des Gebets und das Nachdenkens darüber, dass sich der Krieg gegen Gott, gegen den Frieden, die Schönheit und Vernunft verschärft. In diesem Krieg soll man sich treu bleiben, den Kopf und den Mut nicht verlieren.

Im Moment kann man sagen, dass die Anschlagswelle vor allem die in der Gesellschaft verbreiteten Ideen des Multikulturalismus und der Toleranz getroffen hat. Im Bataclan haben die Terroristen mit Methode und dennoch wahllos erschossen, von Angesicht zu Angesicht; das ist eine Kampfansage. Eine Kampfansage an die Gesellschaft und an den Staat. Das ist keine Kriegserklärung, sondern bereits der Beginn eines Krieges.«

Dionisij Posdnjajew am 14.11.2015 auf Prawoslawije i Mir; <http://www.pravmir.ru/teraktyi-v-parizhe-ne-obyavlenie-v oynyi-a-ee-nachalo-prot-dionisiy-pozdnyaev/>

Schmeljow: Die Hauptgefahr für das moderne Europa

»Die Welt wird nie wieder wie früher sein.« »Es ist Krieg und wir müssen die Reihen schließen«, »Europa hat jetzt ausgespielt mit seiner Toleranz und seinem Multikulturalismus«. All diese Gedanken gehen jetzt durch die Köpfe von sehr vielen Menschen. Darin besteht die eigentliche Herausforderung, die die Terroristen an das jetzige Europa gerichtet haben: Verzichtet auf eure Werte der letzten Jahrzehnte, wendet euch in Richtung Archaismus und Militarismus, kommt zu uns zurück in die gute alte Welt der Kriege, Diktatoren und Vertikalen [der Macht]. Kann Europa dieser Herausforderung widerstehen? Noch ist es nicht klar. Man möchte aber darauf hoffen. Es ist die Europäische Union, und nicht die USA, Israel, Kanada oder Australien, ganz zu schweigen von allen anderen, die das Flaggschiff unserer Zivilisation darstellt. Seine Absage an die eigene Entwicklung in den letzten Jahrzehnten würde uns in eine noch größere Barbarei zurückwerfen. Genau das streben eben diese Terroristen an.«

Alexander Schmeljow am 14. 11. 2015 auf Facebook; <https://www.facebook.com/aashmelev/posts/99824 1730219147>


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