Russland-Diskurse: Versöhnung mit dem Westen, Rückkehr zur UdSSR oder »russischer Totalitarismus«?

Die turbulenten Ereignisse in der russischen Politik der letzten Jahre geben viele Denkanstöße zur gegenwärtigen und zukünftigen Entwicklung des Landes. Aus dem demokratischen Lager sind zunehmend besorgte Stimmten über die Gefahr einer weiteren Spirale der Konfrontation mit dem Westen zu hören. Die Oppositionellen warnen vor einer aussichtslosen Zukunft des derzeit bestehenden politischen Modells und einem Rückfall in die Diktatur. So zeichnet Michail Chodorkowskij ein düsteres Szenario für das System Putin im Jahr 2035 und schlägt einen Fahrplan mit sieben Punkten vor. Diese soll einen Beitrag leisten zur Versöhnung und Integration Russlands mit der »europäisch-atlantischen« Weltordnung, zu der Russland nach Meinung des ehemaligen Oligarchen eigentlich gehört. Ajder Mushdabajew, der ehemalige stellvertretende Chefredakteur der Tageszeitung »Moskowskij Komsomolez«, stimmt Chodorkowskij grundsätzlich zu, weist aber darauf hin, dass wenn Russland eine Normalisierung der Beziehungen zum Westen und Wiederherstellung von Vertrauen anstrebt, es zuerst auf seine »besondere Rolle« verzichten und das Völkerrecht respektieren muss. Auch der Schriftsteller Boris Akunin erörtert die Zukunft Russlands und weist dabei auf vier Hauptprobleme hin, mit denen das Land nach einem Abgang Putins zu kämpfen haben wird.

Angesichts der Repression gegen Oppositionelle und Andersdenkende verstärken sich Debatten über eine Rückkehr Russlands zum sowjetischen Modell. Sergej Roganow, Philosoph und Kolumnist der Tageszeitung »Iswestija« besteht darauf, dass es in der Gesellschaft nicht nur Nostalgie, sondern auch eine bestimmte Nachfrage nach sowjetischen Werten gibt. Wladimir Gelman, Professor für Politikwissenschaft an der Europäischen Universität in St. Petersburg,erörtert die Frage, ob Russland schon gefährlicher sei als die Sowjetunion. Der aktuelle Kurs des Kreml, der sowohl in der Innen- als auch in der Außenpolitik immer mehr an den alten russischen Spruch aus der Kriminalwelt »Angst heißt Respekt« erinnert, stellt für Iwan Ochlobystin anscheinend keine Bedrohung dar. Der skandalträchtige ultraorthodoxe Aktivist geht noch einen Schritt weiter und wirbt in seinem Beitrag »Russischer Totalitarismus« für die Wiederherstellung der Gesellschaftsordnung aus der Zeit des Zarenreiches.

Chodorkowskij: Go West: Wie man Russland aus der Sackgasse führen kann

»2035. Russland führt schon seit zwanzig Jahren einen kalten Krieg gegen den Westen. Die Rüstungsausgaben des Haushalts sind auf 30 % des BIP gestiegen. Die Ausreise ins Ausland ist nicht nur den Mitarbeitern des Innenministeriums und der Geheimdienste verboten, sondern allen, die beim Staat oder in öffentlichen Einrichtungen arbeiten. Staatliche Planwirtschaft ist eingeführt worden. Der nichtstaatliche Sektor macht weniger als 10 % der Wirtschaft des Landes aus. Nach einer weiteren Krise auf den Rohstoffmärkten kommt es im Land zu Schwierigkeiten bei der Lebensmittelversorgung. Es entwickeln sich zentrifugale Tendenzen: Einzelne Teile Russlands werden zu jenen Regionen der Welt hingezogen, die in den letzten zwanzig Jahren in die globale Wirtschaft integriert waren und sich rapide entwickelten.

Noch ist es ein düsteres Szenario, eine künstlerische Fiktion, obwohl sie bei einer Fortsetzung der gegenwärtigen Politik der russischen Führung durchaus wahrscheinlich ist. Es gibt aber auch ein anderes Szenario, über das ich diese Woche mit Vertretern des politischen und wirtschaftlichen Establishments der USA sprechen werde. […]

Hier nun, wovon ich meine Gesprächspartner bei der Frage der Beziehungen Russlands zum Westen überzeugen möchte:

Momentan geht Russland den Weg der Selbstisolation; dieser Weg ist jedoch falsch und nach einem Abgang von Wladimir Putin wird sich die Lage unweigerlich ändern.Für den Westen ist es nicht wichtig, eine Isolation Russlands zu betreiben, sondern dessen allmähliche, wenn auch schwierige Integration in die euro-atlantische Welt zu erreichen.Nolens volens muss auf das jetzige politische Regime in der Russischen Föderation eingewirkt werden, um es in Schlüsselfragen zu einer konventionellen Position zu bewegen.Die US-amerikanischen Eliten müssen die objektiven und den Entwicklungszielen entsprechenden Interessen Russlands verstehen und akzeptieren. Gewahrt werden müssen diese Interessen von einer nächsten Generation der Eliten, die sich personell zum Teil mit den gegenwärtigen Eliten überschneiden wird, wie sehr wir diesen auch kritisch gegenüber stehen.Russland ist hinsichtlich seiner Geschichte, seiner Volksmentalität und der in ihm vorherrschenden Kultur ein europäisches Land, und es hat ein objektives Interesse an einer europäischen und euroatlantischen Integration. Im Endeffekt bedeutet dies einen Beitritt zur NATO und dann zur EU.Russland hat nicht die Aufgabe, China – unseren größten Nachbarn – ›einzudämmen‹; die zukünftige Russische Föderation kann aber mit den USA und EU eine gemeinsame China-Politik ausarbeiten. Ihr Kernpunkt: ›kooperieren ohne zu dominieren‹.Russland kann und sollte zu einer führenden Kraft bei der europäischen und euroatlantischen Integration des postsowjetischen Raumes werden. Das ist sowohl Garantie als auch Voraussetzung für eine Führungsrolle in diesem Raum. Diese Führungsrolle wäre nicht imperialer Art, sondern moderner, ideell-technologischer. Es wäre auch ein Mechanismus zur Wiederherstellung der moralischen und politischen Autorität Russlands in den Weiten der ehemaligen UdSSR.

Wir sind auf der Suche nach Verbündeten, die Russland dabei helfen, endlich Europa zu werden. Russland seinerseits kann für den Westen eine Möglichkeit bieten, an einem neuen Durchbruch in der Wirtschaft teilzuhaben, und zum wichtigsten Faktor bei der Neutralisierung unterschiedlichster globaler Gefahren zu werden.

Michail Chodorkowskij auf »RBK Daily«, 16. Juni 2015, <http://www.rbcdaily.ru/politics/562949995645278>

Ajder Mushdabajew: Um ein Teil des Westens zu werden, muss Russland zunächst einmal selber Westen werden

»Dem von mir hochverehrten Michail Chodorkowskij kann man hier in vielem zustimmen, in fast allem. Außer in zwei Punkten, denke ich:

Nach der Krim-Annexion und dem Krieg mit der Ukraine hat Russland leider die Möglichkeit verloren, zu einer Führungskraft, einem Gravitationszentrum für den postsowjetischen Raum zu werden. Es wird Russland kaum gelingen, das Vertrauen der Nachbarn (nicht nur der Ukraine, sondern aller) zurückzugewinnen, bis nicht eine absolute und tatkräftige Abkehr von vulgären imperialen Ambitionen und allen territorialen Ansprüchen erfolgt ist. Höchstwahrscheinlich wird es auch dann nicht vollständig gelingen: Die perfide Verletzung des Völkerrechts wird nicht einfach so, durch schöne Augen, die plötzlich nach Westen gerichtet werden, vergessen sein; darüber sollte man sich keine Illusionen machen.Der Westen hat den Wechsel der politischen Eliten von der Realpolitik zu einer Politik der Prinzipien fast abgeschlossen. Und es wird Russland kaum gelingen, allein aufgrund einer halben Anerkennung eines halben Unrechts mit dem Westen übereinzukommen. Als ob wir sagen: Wir wollen zu Euch, nehmt uns, solange wir noch freundlich sind, aber ihr sollt auch wissen, dass wir besonders sind. Nein. Entweder zeigt Russland Reue, gesteht den verbrecherischen Charakter seiner derzeitigen internationalen Politik ein, entschuldigt sich und gibt das Geraubte samt Kontributionen zurück; oder man kann eine vollständige Integration – und nur die hat Sinn, wenn es um einen realen Fortschritt gehen soll – vergessen. Der Westen wird mit einem ›Besonderen‹ keine Integration zu einem gemeinsamen politischen und wirtschaftlichen Raum unternehmen; zu groß wäre das Risiko, dass die Prinzipien verwässert werden, auf deren Grundlage er [der Westen] heute so effektiv vereinigt ist. Um ein Teil des Westens zu werden, muss Russland zunächst einmal selbst Westen werden. Und genau darin liegt das Problem und nicht unbedingt in der Person Putin.«

Ajder Mushdabajew auf Facebook, 16. Juli 2015, <https://www.facebook.com/ayder.muzhdabaev/posts/986928544674354>

Akunin: Nach Putin

»Ich denke immer häufiger nicht mehr darüber nach, welche Prüfungen Russland noch unter Putin wird durchlaufen müssen (darüber schreiben viele; die Versionen sind mehr oder weniger klar), sondern darüber, welche Suppe wir danach auslöffeln müssen.

Natürlich wird zum einen viel davon abhängen, wie lange sich das Regime noch halten wird, und zweitens davon (und das ist der Kernpunkt), wie der Regimewechsel vor sich geht: unblutig oder blutig, und wenn doch – geb’s Gott, dass nicht das Zweite geschieht –, dann davon, wie blutig. Je länger sich die Agonie hinzieht und je traumatischer der Abgang wird, desto mehr Probleme wird der erneuerte Staat zu bewältigen haben, und desto stärker werden die Probleme verschleppt.

Wenn es schlecht läuft, sind ein Wirtschaftskollaps, Hyperinflation und enorme Auslandsschulden unausweichlich (nachdem das Regime das eigene Geld vergeudet hat, wird es bis zum Äußersten Geld leihen, um die soziale Explosion hinauszuzögern). Aber selbst wenn das Schicksal mit Russland gnädig sein sollte und das Regime schnell und unblutig wechselt, wird es viele schwierige Probleme geben. Ich denke, darüber werden wir noch sprechen; vorerst aber will ich mit Ihnen vier wichtige und dabei keineswegs hypothetische, sondern voll ausgewachsene Probleme erörtern.

Es ist klar, dass die ›Öl-und Gas‹-Wirtschaft auf jeden Fall, auch ohne westliche Sanktionen, das Land nicht mehr ernähren kann. Und wir haben weder die Zeit noch das Geld zum Aufbau eines neuen Modells. Zehn fette Jahre und enorme Export-Einnahmen waren für die Katz.Ein Rückzug aus der Ostukraine-Krise wird sehr schwierig. Das Problem wird sich nicht allein durch ein Einstellen der militärischen, propagandistischen und wirtschaftlichen Unterstützung für die Separatisten lösen lassen. Dort, in den Gebieten Donezk und Lugansk, wohnen viele gewöhnliche Menschen, die sich nun in einer schwierigen Lage befinden, dann aber in eine fürchterliche Lage geraten würden. Sie würden praktisch zu Gefangenen der bewaffneten Einheiten, die nirgendwo hin können und nichts mehr zu verlieren haben.Das Problem der Krim. Dieses Territorium wurde auf Diebesart genommen, schwupp und weg. Jedoch es erst an sich zu nehmen und dann einfach so ›zurückzugeben‹ funktioniert nicht. Nicht, weil eine Rückgabe schade wäre, sondern weil Nawalnyj Recht hat: Es ist kein Fahrrad [, das man sich mal ›ausleiht‹]. Dort wohnen Menschen, sie haben ihre Wünsche und Rechte. Wie soll man ihnen sagen: ›Das war’s, ab morgen gehört ihr nicht mehr zu uns, seht zu, wie ihr da von allein wieder rauskommt‹? Diese Frage muss gemeinsam mit der Ukraine und unter Berücksichtigung des Willens der Krim-Bevölkerung gelöst werden, wo es in einer Krisensituation höchstwahrscheinlich zu ernstem inneren Zwist kommen wird.Natürlich wird es mit Kadyrow Probleme geben, der seine privilegierte Lage ausgenutzt und sich in seiner Domäne mächtig festgesetzt hat. Nimmt man dessen derzeitige Aktivität, bereitet er sich schon auf ein Leben nach Putin vor. Und allem Anschein nach will er sich nicht auf Tschetschenien beschränken, er wird sich wohl zum Anführer des gesamten Nordkaukasus aufschwingen. Wie schmeckt Ihnen die Aussicht auf einen feudalistischen Scharia-Staat an der Südgrenze? Mir gefällt das nicht besonders. […]«

Boris Akunin auf Livejournal 31. Januar 2015, <http://borisakunin.livejournal.com/142564.html>

Roganow: Der Geist der Sowjetunion geht um in Russland

»[…] Das Volk Russlands fordert eine Rehabilitierung, nicht des Kommunismus und der Repressionen, sondern eine der eigenen Biografien, Leben, Pläne und Hoffnungen. […]

In den sozialen Netzwerken kann man spannende Beiträge ausfindig machen, die auch sehr viel geliket werden. Der Tenor ist in etwa so: Hätten wir uns, als wir gegen das verhasste kommunistische Regime kämpften, da etwa die finstere Putinzeit träumen lassen?! ›Wir hatten ja gedacht, dass wir entspannt nach Europa in Urlaub fahren, uns anständige Sachen kaufen, und dass unsere Kinder in Massachusetts studieren werden‹. Und kein Wort über Russland, über das Land, über den Aufbau von etwas Standhaftem, etwas Dauerhaftem. Ein Vierteljahrhundert ist schon vergangen, und man lebt immer noch mit eben diesem Gedanken.

Was wir auch immer versuchen, es ist unmöglich, die UdSSR aus dem Bewusstsein der heute Lebenden wegzuradieren. Man kann neue Helden anbieten, kann aufklären, kann die Methoden der Bolschewiki kritisieren; niemand aber kann Anspruch auf eine Führungsrolle anmelden und dabei das Sowjetische zu irgendeinem Gespenst machen. Gespenster fangen an, sich zu materialisieren. Ja, unser Volk hat genug kluge Köpfe, um die Perspektiven einer Wiederherstellung der UdSSR in ihrer ursprünglichen Form nüchtern einschätzen zu können. Es gibt aber Millionen Herzen, die den Zusammenbruch der Sowjetunion und aller einstiger Wertesysteme zutiefst bedauern.

Ich glaube, dieses Thema wird bei den Wahlen 2016 das zentrale sein, auch dann, wenn man es maskieren und modern herausputzen wird.«

Sergej Roganow in der Iswestija, 30. April 2015, <http://izvestia.ru/news/586111>

Gelman: Cholera vs. Pocken: Ist Russland gefährlicher als die Sowjetunion?

»Bemerkenswert ist die Debatte zwischen [Pjotr] Awen [Oligarch und Miteigentümer der Alfa-Bank, d. Red.] und [Wjatscheslaw] Inosemzew [Ökonom; d. Red.] darüber, ob das heutige Russland – für sich selbst und die Außenwelt – gefährlicher ist als die UdSSR. Awen behauptet, dass wenn die UdSSR in vielerlei Hinsicht ›schrecklich, schrecklich, schrecklich‹ war, dann kommt Russland heute – trotz zahlreicher ernsthafter Probleme ­diesem Horror nicht im Entferntesten nahe und nähert sich ihm auch nicht an (<https://slon.ru/posts/53631>). Inosemzew weist in seiner Antwort darauf hin, dass die Gefahr, die vom heutigen Russland ausgeht – obwohl sie eine ganz andere ist, als die von der UdSSR ausgehende–, nicht weniger, sondern sehr viel schrecklicher ist (<https://slon.ru/posts/53781>).

Aus meiner Sicht liegt das Problem weniger in dem Grad der Gefährlichkeit an sich, sondern vielmehr in der Art ihrer Genese, und wie man ihr begegnen kann. Wenn man die Parallelen zwischen der politischen und medizinischen Diagnostik weiterführt, die in [meinem] aktuellen Buch angestellt wurde (<http://www.litmir.co/br/?b=213740>), können die UdSSR und Russland als zwei Typen einer gefährlichen Erkrankung des sozialen Körpers betrachtet werden. Die UdSSR kann mit den Pocken verglichen werden, einer fürchterlichen und ansteckenden Erkrankung, die in der Vergangenheit ganze Völker getroffen hat (so sehr, dass sich nicht mit Pocken anzustecken, eine Seltenheit war) und in einem hohen Maße tödlich verlief; allerdings hat man schon vor langer Zeit eine Medizin gegen sie gefunden und sie ist jetzt durch Impfungen praktisch ausgerottet. Das heutige Russland ähnelt sehr viel mehr einer anderen ansteckenden Krankheit, nämlich der Cholera mit ihrer ›fäkal-oralen Ansteckungsart‹, ›wasserartigem Durchfall‹ etc.

Obwohl die Cholera noch Anfang des 20. Jahrhunderts Hunderttausende Menschen dahinraffte, ist sie heute nicht besonders verbreitet, doch gibt es bis heute vereinzelte Ausbrüche (auch mit Todesfolge), in der Regel dort, wo die Erkrankten nicht isoliert werden und das Umfeld die Hygienevorschriften nicht beachtet. Deshalb ist die Cholera doch gefährlicher als die Pocken, umso mehr, weil der Impfstoff gegen Cholera (im Gegensatz zu dem gegen Pest) kurzfristig wirkt. Insofern scheint Inosemzew der Wahrheit näher zu kommen als Awen…«

Wladimir Gelman auf Livejournal, 12. Juli 2015, <http://grey-dolphin.livejournal.com/770356.html>

Ochlobystin: »Russischer Totalitarismus«

»In letzter Zeit begegne ich in öffentlichen Diskussionen immer wieder dem Begriff ›Totalitarismus‹. Meist wird der Begriff natürlich im negativen Sinne verwendet; als Beispiel……werden in der [russischen] ›Wikipedia‹ die Sowjetunion, das faschistische Deutschland, die Roten Khmer, die menschenverachtenden Regime Afrikas und das Moskauer Zarenreich genannt. Letzteres hat mich dazu gebracht, mir den Begriff genauer anzuschauen, denn das Moskauer Zarenreich ruft bei mir trotz aller Widersprüche seiner langwährenden Existenz nichts als Sympathie hervor. […]

Wenn ich die Bedeutung des Begriffes ›Totalitarismus‹ weiter analysiere,stoße ich unweigerlich auf die unverrückbare Triade einer idealen russischen Gesellschaftsordnung: ›Sobornost, Derschawnost und Samoderschawije‹. Unter Sobornost ist die geistig-spirituelle Natur eines jeglichen gesellschaftlichen Zusammenschlusses zu verstehen, unter Derschawnost die Verantwortung aller für jeden und eines jeden für alle, unter Samoderschawije die Macht des von Gott Gesalbten. Wahrscheinlich hat eben dies die Redakteure der Enzyklopädie dazu motiviert, das Moskauer Zarenreich unwillkürlich, oder vielleicht auch in böser Absicht, den totalitären Regimen zuzuordnen.

Was entsteht am Ende aus meinem analytischen Puzzle? Das Ergebnis ist eigentlich gar nicht so schwierig: Ich muss mich wegen meiner Sympathien zum Totalitarismus – zum russischen Totalitarismus, der für die meisten Völker unbegreiflich ist, zu dieser Haltung der Bürger, dem oft undankbaren, grausamen, aber eben dem einzigen Vaterland sklavisch zu dienen – nicht schämen. Man muss sich nicht dafür schämen, im Bewusstsein der Teilhabe an diesem Wunder Gottes auf Erden zu leben und zu sterben, einem Wunder, das sich nicht nur in einem grenzlosen Raum, sondern auch in den unendlich tiefen Quellen der Herzen seiner Menschen ausdrückt.

Und [man muss] nicht nach einem größeren Glück suchen, weil es eben kein größeres Glück gibt. Ganz wie es kein leidenschaftlicheres Spiel gibt, als ›russisches Roulette‹ […]«

Iwan Ochlobystin auf Ridus.ru, 27. März 2015, <http://www.ridus.ru/news/181670>

Ausgewählt und zusammengefasst von Sergey Medvedev, Berlin

(Die Blogs, auf die verwiesen wird, sind in russischer Sprache verfasst)


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