Über Gedöns

Von Jens Siegert (Moskau)

Ganz Russland scheint auf dem Weg zurück in finsterste, vormoderne Zeiten. Ganz Russland? Nein, natürlich nicht. Es gibt Hoffnung. Sie mag klein sein, gegenwärtig nicht sehr politikmächtig, aber sie ist da, und manchmal kann man sie sogar sehen. Vor drei Jahren war so ein Moment, als im Winter 2011/2012, wie es schien aus dem Nichts, plötzlich eine Protestbewegung auftauchte, die sogar dem mächtigen Kreml Angst machte. Soviel Angst, dass er, der ideelle Gesamtkreml, zum allumfassenden Gegenschlag ausholte, sich in eine Konfrontation mit dem Westen stürzte, damit das Übel namens »Moderne« mit seinen apokalyptischen Reitern Demokratie, Freiheit und Menschenrechten vor den russischen Toren halt mache.

Nun ist der Winter 2011/2012 lange her, die Krim schon über ein Jahr in russischer Hand und alles Oppositionelle in Russland in tiefer Depression gefangen oder im Exil, oft auch beides. Ins Exil getrieben wurde vor einem Jahr auch ein großer Teil von Russlands bis dato populärster Internetzeitung Lenta.ru. Der Eigner wechselte Mitte März über Nacht Chefredakteurin Galina Timtschenko aus, nachdem die auch für Medien zuständige staatliche Kontrollbehörde »Roskomnadsor« ein Interview mit Andrij Tarasenko, dem Chef des ukrainisch-nationalistischen »Rechten Sektors«, als »extremistisch« gerügt hatte. Über 80 Mitarbeiter solidarisierten sich mit Galina Timtschenko und verließen die nun gemainstreamte Redaktion. Nur ein halbes Jahr später, Mitte Oktober 2014, ging, unter Timtschenkos Leitung und mit vielen ehemaligen Lenta-Redakteuren an Bord, »Medusa« online. Sitz der Redaktion ist die lettische Hauptstadt Riga.

Seither versucht die Medusa-Redaktion, erneut zu einem wichtigen Medium auch der Selbstverständigung der liberalen, demokratischen Opposition zu Putin zu werden. Nach überwiegender Meinung, der ich mich anschließe, gelingt das inzwischen immer besser. Soweit der Vorrede. Nun zum eigentlichen Anlass dieser Notizen.

Am 19. März machte die Medusa-Redaktion per Twitter auf einen neuen Artikel mit der Überschrift »Wie kann man in Russland vermeiden, Sexist zu sein?« (<https://meduza.io/cards/kak-ne-byt-seksistom- v-rossii>) aufmerksam (das »man« ist hier durchaus als »Mann« zu verstehen). Der Reklame-Tweet lautete: »Männer, hier ist eine Anleitung, wie man Kälbchen nicht beleidigt« (<https://twitter.com/meduzaproject/status/578564500355416064>). Das von mir hier mit »Kälbchen« übersetze Wort heißt im Russischen »tjolotschki« [siehe auch Anmerkung im Blogbeitrag von Bella Rapoport auf S. 21, d. Red.] und bezeichnet weibliche Kälber, wird aber umgangssprachlich auch, meist von Männern, für Frauen benutzt. Eine deutsche Entsprechung ist nicht so leicht zu finden, aber »Tussi« wohl eine gute Annäherung. Frauen werden dadurch also von oben herab und, wenn auch eher freundlich als grob, so doch als sexuelle Objekte betrachtet. Also, hier passt das Wort, natürlich sexistisch.

Dabei will ja der so reklamierte Artikel, wie die Überschrift sagt, das Gegenteil erreichen. Russische Männer sollen sensibilisiert werden, sich eben nicht typisch (also sexistisch) zu verhalten. Dazu werden zehn Fragen gestellt und zehn Antworten gegeben. Es fängt mit Fragen wie »Was ist Sexismus?« an, geht dann aber schnell zu so praktischen wie seltsamen Verhaltenstipps über, wer im Café die Rechnung bezahlen und ob Mann einer Frau die Hand geben soll oder nicht. Kurz: Vielleicht gut gemeint, aber zu kurz gesprungen. Bewusst oder unbewusst werden zahlreiche sexistische Stereotype wiederholt.

Die Reaktion folgte unerbittlich auf dem Fuße. Bella Rapoport, eine junge, aber schon bekannte Feministin, antwortete in der Internetzeitung Colta.ru (die dabei ist, den freigewordenen Platz von Lenta.ru einzunehmen, mit einem Verriss, der nicht nur den Tweet, sondern auch den Medusa-Artikel des »Ganz normalen Sexismus« (<http://www.colta.ru/articles/media/6755>) zeiht. Im Untertitel heißt es: »Wie progressive Medien bewusst oder unbewusst völlig unprogressive Ansichten transportieren«. Medusa, oder zumindest der- oder diejenige, die oder der den Twitter-Account bedient, kann nicht an sich halten und twittert am 24. März zurück: »Männer, schaut mal, unser Tweet hat ein Kälbchen zu einer Kolumne animiert« (<https://twitter.com/meduzaproject/status/580400313414389760>).

Ob diese wohl als lockerer (und auflockernder) Scherz gemeinte Antwort nun das Fass zum Überlaufen brachte oder schlicht nur zu spät kam, die liberale und demokratische Szene reagierte bereits und es entspann sich die meiner Erinnerung nach hitzigste politische Debatte der vergangenen drei Jahre (wobei der Mord an Boris Nemzow Ende Februar dieses Jahres eine derart besondere Stellung einnimmt, dass sich schon der Gedanke an einen Vergleich verbietet). In schneller Folge äußerten sich alle und alles, was und wer Rang und Namen hat, Blogger, politische Beobachter, Wirtschaftsexperten und einfach nur bekannte Persönlichkeiten. Kein Medium, das etwas auf sich hält, kam an der Debatte vorbei. Dass der Medusa-Tweet etwas angestoßen haben muss, das weitaus mehr Menschen bewegt als die meisten bei diesem Thema gedacht haben, zeigen schon die bis heute (Stand 7. Mai 2015) fast 220.000 Aufrufe von Bella Rapoports Antwortartikel auf Colta.ru. Soviel Interesse hat ein feministischer Text in Russland noch nie hervorgerufen.

Die Argumente der »Tjolotschki-Verteidiger« bewegten sich weitgehend in den auch anderswo bekannten Bahnen. Dabei überwogen zwei Argumentationslinien (ich übertreibe der Deutlichkeit wegen bei beiden ein wenig). Die eine stellte der Aufregung um das Wort »tjolotschki« den Ernst der politischen Lage entgegen (insbesondere nach dem Mord an Boris Nemzow): Es gebe momentan Wichtigeres als Etikette und die große (männliche) Politik, der »Kampf gegen das Regime« sollte nicht von solchen Kleinlichkeiten beeinträchtigt werden. Die zweite Argumentationslinie (wenn man sie denn so nennen kann) war unangenehmer, weil abgeschmackt: Diese Feministinnen sollten sich nicht so haben, »tjolotschki« sei doch durchaus nett gemeint. Und überhaupt nehme diese westliche »politische Korrektheit« langsam totalitären Charakter an.

Interessanter Weise sind in dieser Diskussion die üblichen ideologischen Trennlinien kaum zu erkennen. Auch entspann sich der Streit nicht zwischen Männern auf der einen und Frauen auf der anderen Seite. Wenn überhaupt eine Frontlinie sichtbar wurde, dann zieht sie sich meiner Beobachtung nach (und die ist in keiner Weise soziologisch unterfüttert, aber das sind hier ja auch nur Notizen) eher zwischen jung und alt (oder besser: jünger und älter). Vielleicht lässt sich noch eine weitere Unterscheidung machen: möglichst frühe westliche Sozialisation erhöht die Wahrscheinlichkeit, dass jemand »tjolotschki« nicht lässlich findet.

Nun ist es so, dass sich »politisch korrekt« zu verhalten in liberalen und demokratischen Kreisen in Russland längst nicht so out of date ist, wie die Empörung der »Tjolotschki-Verteidiger« zu zeigen scheint. Wenn es, sagen wir, um antisemitische oder rassistische Äußerungen ginge, gäbe es wohl kaum eine Diskussion. Der Grund ist recht einfach: Das »Private« wird in Russland auch im aufgeklärteren Teil der Gesellschaft immer noch kaum als politisch aufgefasst (nicht umsonst flocht Bella Rapoport das Thema »häusliche Gewalt« prominent in ihre Antwort auf den Medusa-Tweet ein).

Man könnte auch (ich weiß, ich betrete hier vermintes Territorium) sagen, Russland hat sein 1968 (noch?) nicht erlebt. Zwar verändern sich auch hier die Herrschaftsverhältnisse zwischen Staat und Individuum ebenso wie zwischen Mann und Frau (oder, um noch weiter zu gehen, Eltern und Kind). Aber die Beschleunigung, die diese Entwicklung im Westen durch das erfahren hat, was heute mit der Zahl »68« zusammen gefasst wird (auch wenn sich die damals an vorderster Front agierenden Männer sich das sicher so nicht gedacht haben und sich diese Entwicklung selbstverständlich nicht darauf beschränkt), gibt es in Russland nicht.

Es gibt aber auch keinen Stillstand. In den vergangenen, in der russischen Geschichte beispiellos freien 25 Jahren ist eine neue Generation (vielleicht, wenn man anders zählt, auch zwei) herangewachsen, der vor allem eines fehlt: Die (fast) allen sowjetischen Menschen eigene Angst vor der »(Staats)Macht« (die eben auch eine, wie könnte es anderes sein, überwiegend männliche Macht ist und sich, nicht zuletzt über die »Schule« Armee, ihre gewalttätigen und frauenverachtenden Männer immer wieder neu zurichtet). Arsenij Roginskij, Vorsitzender von Memorial, hat das vor Jahren in einer Diskussion einmal so ausgedrückt: »Bei jedem von uns sitzt im Kopf ein kleiner Stalin.» Doch nicht nur die Angst fehlt bei diesen eher jüngeren Menschen, es fehlt auch, wenn man so will, der übergroße Respekt vor Autoritäten jeder Couleur. Das zeigt sich bis in den Habitus und ist nicht auf den liberalen Teil der russischen Gesellschaft beschränkt. Diese Entwicklung vollzieht sich in kleinen Schritten, eher im Verborgenen und wird öffentlich, also politisch meist nur in solchen Momenten sichtbar wie dem hier zum Anlass genommenen. Dazu noch drei kleine Beobachtungen.

Die Heinrich Böll Stiftung hatte von 1994 bis 2013 in Russland ein Sur-Place-Stipendienprogramm. Über die Jahre wurden mehr als 350 Student/innen und Doktorend/innen in den Fächern Geschichte, Soziologie und Jura (mit Schwerpunkt Menschenrechte) gefördert. Alljährlich trafen sie sich zu einer Konferenz, die allmählich in eine Sommerschule überging. An diesen Konferenzen/Sommerschulen nahmen auch immer Stipendiat/innen der Heinrich Böll Stiftung aus Deutschland teil. Sie allein schon äußerlich, umso mehr aber in ihrem Verhalten den Organisatoren, Dozenten oder anderen Autoritäten gegenüber, in ihrer Art zu diskutieren und Doziertes in Frage zu stellen (oder eben nicht), von ihren russischen Kolleg/innen zu unterscheiden, war lange kein Problem. Der Unterschied war offensichtlich. Heute sind sie kaum mehr auseinander zu halten.

Nun lässt sich zwar einwenden, unsere Stipendiat/innen, ausgewählt durch unsere NGO-Partner/innen seien nicht repräsentativ für Russland, sondern nur ein kleiner, zudem sehr »verwestlichter« Ausschnitt. Das stimmt. Ich wage aber trotzdem die Behauptung, dass die Veränderungen, die sich hier zeigen, tief in die gesamte russische Gesellschaft gehen.

Zweite Beobachtung. Die Heinrich Böll Stiftung unterstützt seit Beginn der 1990er Jahre russische NGOs, insbesondere in den Bereichen Ökologie, Geschlechterdemokratie, Menschenrechte und Aufarbeitung der totalitären Geschichte. Seinerzeit verstanden sich NGOs unterschiedlicher inhaltlicher Ausrichtung untereinander oft nicht sonderlich. Interessanter Weise fanden sich unter den Menschenrechtler/innen viele Naturwissenschaftler und Ingenieure, die mit der Anti-Atom-Haltung der Ökologen wenig anfangen konnten. Und beide, Menschenrechtler und Ökologen, nahmen die sich mit Geschlechtergerechtigkeit beschäftigenden Frauen (und es waren fast ausschließlich Frauen) nicht ernst. Das war eine Exotik, die zu tolerieren sie nur bereit waren, weil diese seltsamen, aber netten und hilfreichen Grünen darauf bestanden.

Im Dezember 2001 organisierten wir dann einen ersten Genderworkshop für unsere NGO-Partner/innen, zu dem auch NGO-Vertreter/innen aus Georgien, der Ukraine, Polen, Tschechien und Deutschland eingeladen wurden. Der Workshop hatte zwei Ergebnisse: Die meisten unserer russischen Partner/innen begannen zu verstehen, dass es sich bei Geschlechterfragen nicht schlicht um »Gedöns« handelt (um einen Freund ihres Damals-Schon-Präsidenten zu zitieren) und ihnen wurde klar, wie es ein hier namentlich nicht genannt werden sollender wichtiger NGO-Führer ausdrückte, dass es bei »Gender« nicht nur um Frauen, sondern auch um Männer geht. Diese Entwicklung wäre übrigens ohne den passenden historischen Kontext so wohl nicht passiert. Zur gleichen Zeit wurden sich viele russische NGOs unter dem Druck der einsetzenden Normierungsversuche des nun Putinschen Staates ihrer grundsätzlich gleichgerichteten Interessen eben diesem Staat gegenüber bewusst. Solidarität, selbst wenn sie von außen erzwungen ist, hilft mitunter, (sich) zu verstehen.

Ähnliches wiederholte sich kürzlich, gut zehn Jahre später noch einmal, diesmal schon ohne die pädagogische Einmischung von außen. Die staatliche Repression gegen Schwule und Lesben führte, ebenso über den Umweg Solidarität, zu (zwar nur gewisser, ich gebe es zu, aber doch) Anerkennung. Auch hier lassen sich deutliche Altersunterschiede erkennen.

»Wie weit flog die Tomate?« fragte 1999, 30 Jahre nach dem berühmten Tomatenwurf von Sigrid Damm-Rüger auf dem Frankfurter SDS-Kongress ins ausschließlich männliche Tagungspräsidium, eine Publikation der Heinrich Böll Stiftung. Nicht weit genug, war die erwartbare Antwort der Autorinnen. So ist es selbstverständlich auch in Russland. Das hier Beschriebene ist keine Revolution und wird keine Revolution werden. Es soll aber auf untergründige Änderungen in der russischen Gesellschaft aufmerksam machen, die oft übersehen und von den aktuellen politischen Ereignissen überlagert werden. Diese und ähnliche Änderungen sind die Basis, ja die Voraussetzungen, dass es beim nächsten Versuch, ein demokratischeres, menschlicheres Russland aufzubauen, vielleicht ein wenig besser klappt.

Die Medusa-Twitter-Geschichte endete übrigens mit einer Entschuldigung: »Der Tweet (ihr wisst schon, welcher) war grob, wir bitten bei allen um Entschuldigung, die wir beleidigt haben. Wir behalten ihn als Fehler im Gedächtnis. Wir wollten nichts Böses und lieben alle.« (<https://twitter.com/meduzaproject/status/580742267239006208>).

Diesen und andere Texte finden Sie auf Jens Siegerts Russlandblog <http://russland.boellblog.org/>.

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