Leitgedanken für die nun notwendige Russlandpolitik. Zusammenarbeit, soweit wie möglich. Gefahrenabwehr, soweit wie nötig

Von Karsten Voigt (Berlin)

Manchmal sieht man aus der Ferne klarer. Vor einigen Wochen sprach ich mit chinesischen Ukraine- und Russland-Experten. Deren Analyse: Die Konflikte auf der Krim und in der Ost-Ukraine werden zu einer größeren Zäsur in der europäischen und internationalen Politik führen als die Terrorangriffe vom 9. September. Ich widersprach, weil es unser Ziel bleiben sollte, eine gesamteuropäische Friedensordnung unter Einbeziehung Russlands zu etablieren. Aber die mehr als ernüchternden Erfahrungen der vergangenen Monate lehren, dass dieses Ziel in weite Ferne gerückt ist. Diese negative Entwicklung aber resultiert nicht in erster Linie aus der Politik des Westens.

Nach dem überwiegend friedlichen Zerfall der Sowjetunion hatte sich die gesamteuropäische Zusammenarbeit vertieft und beschleunigt: Russland wurde in den Europarat aufgenommen und zum Partner von EU und NATO. Handel und Kulturaustausch nahmen zu, das Netz der gesamteuropäischen Beziehungen wurde dichter. Das Ziel einer Vollmitgliedschaft Russlands in der EU und NATO war zwar nie realistisch, aber der Westen bemühte sich, wenn auch nicht konsequent genug, um eine engere Kooperation. Die Große Koalition begann noch im Herbst 2013 mit der Absicht, die Zusammenarbeit mit Russland durch neue Initiativen zu vertiefen.

Russland hat sich geändert

Russlands Führung behauptet heute, ihre außenpolitische Neuorientierung sei eine Reaktion auf die Politik des Westens und hier vor allem der USA. Ja, die Vereinigten Staaten und die EU haben Fehler im Umgang mit Russland gemacht. Aber diese Fehler rechtfertigen weder die Annexion der Krim, noch die politische, militärische und finanzielle Unterstützung der Separatisten in der Ost-Ukraine.

Die Gründe für die außenpolitische Neuorientierung Russlands liegen in der Innenpolitik: Präsident Putin betrachtet den Zerfall der Sowjetunion und das Ende des Sowjet-Kommunismus nicht als historische Chance für den Aufbau eines modernen und demokratischen Russland, sondern »als größte geostrategische Katastrophe des zwanzigsten Jahrhunderts«. Putins Russland will international nicht als das Land anerkannt werden, das es heute ist, sondern als das, was es einmal war: als Imperium. Das Streben nach Erhalt und Wiedergewinnung von Einflusszonen wird von den meisten Nachbarn als russischer Revisionismus wahrgenommen.

Demgegenüber wird eine »Verwestlichung« des Landes als Bedrohung angesehen. Diese Sicht verbindet die gegenwärtige Führung Russlands geistig und politisch mit den antiwestlichen linken und rechten Rändern des europäischen Parteienspektrums. Solange die russische Führung von dieser Weltsicht geprägt ist, wird ihre Politik für das übrige Europa ein Problem bleiben. Dennoch sollten unsere konstruktiven gesamteuropäischen Ziele bestehen bleiben.

Unsere Sympathie und Solidarität sollte deshalb den nach Demokratie strebenden Kräften in Russland gelten, auch wenn sie zurzeit eine Minderheit darstellen. Andererseits kann das Land nicht gegen den Willen seiner politischen Führung und erst recht nicht gegen den Willen der Mehrheit des russischen Volkes von außen verändert werden. Die Mittel der Außen- und Sicherheitspolitik können den negativen Folgen der heutigen Politik Russlands für die internationalen Beziehungen entgegenwirken. Bevor es aber zu einer tiefgreifenden Wende in der russischen Politik kommt, dürften Jahre – hoffentlich nicht Jahrzehnte – vergehen. In der vor uns liegenden Phase wird es nicht mehr um eine Politik der sich ergänzenden Kooperation und Integration gehen. Stattdessen könnte das Motto für die nun notwendige Russlandpolitik lauten: Zusammenarbeit, wo möglich – Gefahrenabwehr, wo nötig.

Punktuelle Zusammenarbeit

Russland, die EU und die USA sollten punktuell weiter zusammenarbeiten, etwa bei den Verhandlungen über das iranische Atomprogramm oder beim gemeinsamen Vorgehen gegen internationalen Terrorismus. Wenn die russische Führung die Vereinbarungen von Minsk einhält, sollten auch die Wirtschaftssanktionen aufgehoben werden. Die Ukraine, Russland und die EU können die sicherheitspolitischen Bestimmungen des Minsker Abkommens nur gemeinsam verwirklichen, und sie müssen zusammen über mögliche negative wirtschaftliche Folgen des Assoziationsabkommens sprechen.

Der Krieg in der Ost-Ukraine sollte Anlass genug sein, die OSZE auszubauen und sie handlungsfähiger zu machen. Es sollte geprüft werden, ob in der Ost-Ukraine OSZE-Blauhelme eingesetzt werden können. Ob die russische Führung zu einer Verbesserung der bisherigen Regeln und zu einer größeren Transparenz bei der Rüstungskontrolle bereit ist, sollte spätestens während des deutschen OSZE-Vorsitzes 2016 ausgelotet werden. Dadurch würden in einer von Misstrauen und Konflikten geprägten Umgebung Elemente kooperativer Sicherheit gestärkt.

Russland wird aufgrund seines Verhaltens heute von den meisten seiner Nachbarn als Risiko angesehen. Diese skeptische Einschätzung ist verständlich und wird erst weichen, wenn die Führung Russlands nicht nur ihre Rhetorik, sondern auch ihr Verhalten ändert. Vor allem muss sie ihre Versuche der Destabilisierung der Ukraine beenden. In einem auf diese Weise positiv veränderten politischen Umfeld, könnten dann Verhandlungen zwischen Europäischer und Eurasischer Union erfolgreich sein.

Viele sprechen heute von einem neuen Kalten Krieg. Das ist einerseits verständlich. Besser jedoch wäre es, wenn wir für die heutige Auseinandersetzung auch neue Begriffe entwickeln würden. Denn einerseits handelt es sich bei dem Konflikt in der Ost-Ukraine um einen heißen Krieg. Andererseits sind wir – im Unterschied zum Kalten Krieg – zumindest auf dem Papier durch gemeinsame friedenspolitische und demokratische Werte und Normen miteinander verbunden. Wir sollten diese Institutionen, Verträge und Vereinbarungen nicht leichtfertig aufs Spiel setzen. Wenn Russland aber seinerseits dieses Netzwerk der Beziehungen beschädigt, werden wir den Schaden nicht einseitig beheben können. Deswegen war es richtig, dass die Parlamentarische Versammlung des Europarates das Stimmrecht der russischen Delegation suspendiert hat.

Das heutige Russland besitzt nach wie vor ein mit den USA vergleichbares Arsenal von Atomwaffen. Doch vergleicht man alle der NATO zur Verfügung stehenden militärischen Potentiale mit den russischen Fähigkeiten, besteht eine eindeutige Überlegenheit der NATO – trotz der Modernisierungen der militärischen Fähigkeiten Russlands in den vergangenen Jahren. Diese Überlegenheit käme bei Konflikten mit NATO-Staaten in der unmittelbaren russischen Nachbarschaft zum Tragen. Auf solche Sicherheitsgarantien können sich hingegen die kleineren Nachbarn Russlands, die nicht Mitglied der NATO sind, nicht verlassen. Hier wirkt die regionale militärische Überlegenheit Russlands, von der die unterstützten Separatisten profitieren.

Deutschland hatte seinerzeit gegen die NATO-Mitgliedschaft Georgiens und der Ukraine ein Veto eingelegt. Umso mehr sollte sich Deutschland um eine nichtmilitärische Stabilisierung der Ukraine bemühen. Hierzu gehört die Bereitschaft zur wirtschaftlichen Hilfe für die Ukraine und zu Wirtschaftssanktionen gegenüber Russland. Allerdings wage ich vorauszusagen: Wenn sich die russische Führung und die Separatisten nicht an die Vereinbarungen von Minsk halten, werden die USA und einige europäische NATO-Staaten mit einer militärischen Unterstützung der Ukraine beginnen.

Die deutsche Politik kann in Abwägung aller Risiken gegen eine militärische Unterstützung der Ukraine sein. Man sollte aber nicht bestreiten, dass das Streben der Ukraine nach einer Verbesserung seiner Verteidigungsfähigkeit völlig legitim ist. Der Streit um taktische Mittel sollte die gemeinsame Strategie gegenüber Russland nicht gefährden. Deutschland sollte auch künftig keine Politik gegenüber Moskau betreiben, bei der die Interessen seiner östlichen und westlichen Nachbarn übergangen würden.

Während des Kalten Krieges beanspruchte die von der Sowjetunion vertretene kommunistische Ideologie weltweite Geltung. Ihre Attraktivität ließ im Laufe der Jahrzehnte zwar nach, doch blieb der globale Anspruch bestehen. Heute wehrt sich die politische Führung Russlands gegen den universalistischen Anspruch »westlicher« Werte. Keines der aus diesem Sammelsurium von Ressentiments entstandenen Konzepte ist jedoch geeignet die Probleme des 21. Jahrhunderts zu lösen. Die Ideologie der russischen Führung wirkt nur dort, wo Russland Macht ausübt und nicht etwa, weil sein Gesellschaftsmodell attraktiv wäre. Die EU sollte im Gegensatz dazu zur Stabilisierung der Ukraine beitragen und in eine Politik investieren, die die Attraktivität Europas in den Augen der ukrainischen Bürger stärkt.

Eine ausführlichere Version dieses Beitrags erschien unter dem gleichen Titel in der Aprilausgabe der »Berliner Republik« (2015, Nr. 2, S. 22–24; <http://www.b-republik.de/aktuelle-ausgabe/zusammenarbeit-%E2%80%93-so-weit-wie-moeglich-gefahrenabwehr-%E2%80%93-so-weit-wie-noetig>).

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