Nous ne sommes pas Charlie. Debatten zur Meinungsfreiheit

Der Terroranschlag auf die Redaktion der Satire-Magazins Charlie Hebdo hat Frankreich und die ganze Welt erschüttert. Wie die meisten Staaten hat das offizielle Moskau den islamistischen Terror zwar verurteilt. Der Vorsitzende der Staatsduma Sergej Naryschkin hat aber neben den unmittelbaren Tätern auch die europäischen Politiker für verantwortlich erklärt, deren Politik konsequent Hass aufgrund sprachlicher, nationaler und religiöser Merkmale [das ist dem Volksverhetzungsparagraphen des russischen Strafgesetzbuches entlehnt; d. Red.] schüre und die Täter provoziert habe. Angesichts der riesigen Resonanz auf die Ereignisse in Frankreich hat das russische Meinungsforschungsinstitut »WZIOM« eine Umfrage durchgeführt und unter anderem festgestellt, dass 48 % der Befragten die Menschen, die die Redaktion überfallen haben, »nicht verstehen und nicht gutheißen«, 39 % [den Anschlag] »nicht gutheißen aber die Motive dieser Menschen verstehen« und 5 % es »verstehen und die Taten dieser Menschen gutheißen«. Die kremlnahen Experten sahen in dem Anschlag eine Niederlage der Politik des Multikulturalismus und des europäischen Models und verweisen vor allem auf die Gefahr unbegrenzter Meinungsfreiheit.

Die Medienaufsichtsbehörde »Roskomnadsor« verbot die Veröffentlichung jeglicher Karikaturen von Mohammed und zu religiösen Themen in der russischen Presse. Tabu sind auch Fotos der ersten nach dem Terroranschlag erschienenen Ausgabe von Charlie Hebdo. Daraufhin wurden sechs Medien, darunter die große Medienholding »RBC«, von »Roskomnadsor« verwarnt und dazu verpflichtet, diese Bilder unverzüglich zu löschen. Auch alle Solidaritätskundgebungen waren de facto untersagt, nachdem zwei Aktivisten mit dem Plakat »Je suis Charlie« während individueller Mahnwachen in der Nähe vom Roten Platz festgenommen, auf eine Polizeiwache gebracht und zu hohen Geldbußen verurteilt wurden. Das Oberhaupt Tschetscheniens, Ramsan Kadyrow, hingegen organisierte in Grosnyj eine Großdemonstration mit Hunderttausenden Teilnehmern. Parole der Kundgebung war die Verurteilung der Karikaturen des Propheten Mohammed und Protest gegen die Beleidigung religiöser Gefühle von Muslimen. Kurz davor hatte Kadyrow in mehreren Instagram-Beiträgen Äußerungen von Michail Chodorkowskij kritisiert, der für einen Nachdruck der Karikaturen in russischen Medien plädiert hatte, sowie Alexej Wenediktow, den Chefredakteur des Radiosenders »Echo Moskwy«, der eine Umfrage dazu durchgeführt hatte, ob man in Russland Karikaturen zu religiösen Themen veröffentlichen dürfe. Schließlich erklärte der tschetschenische Herrscher beide »Liberalen« zu Feinden der Muslime.

Die Pariser Tragödie hat heftige Debatten über die Grenzen der Meinungs- und Pressefreiheit ausgelöst. Auf die Äußerungen von Kadyrow antwortete unter anderem die Fernsehmoderatorin Ksenija Sobtschak; die Strafanzeige von Abgeordneten der Staatsduma wegen des Aufrufs von Chodorkowskij kommentierte der namhafte Rechtsanwalt Genri Resnik; der Chef des Russischen Eisenbahnkonzerns Wladimir Jakunin nahm in seinem Blog Stellung zu Politik und Meinungsfreiheit im Westen.

Kadyrow: Wenediktow hat »Echo Moskwy« zum führenden antiislamischen Sprachrohr gemacht

»Täglich passieren in der modernen Welt Tragödien. Meistens werden sie durch dumme Taten bestimmter Kräfte oder Personen provoziert. Die sogenannten Liberalen haben unterschiedliche Begriffe und Termini ausgedacht, die ihnen das Recht geben, unter dem Deckmantel der Redefreiheit das Böse zu erzeugen. Nach den Pariser Ereignissen sind unsere Liberalen eifrig bemüht, ihren westlichen Patronen einen Gefallen zu tun. So führt der Chef des Radiosenders ›Echo Moskwy‹ Alexej Wenediktow eine Umfrage zum Thema durch, ob man Karikaturen des Propheten Mohammed (sas) [Abkürzung für die arabische Eulogie ›Gott segne ihn und schenke ihm Heil!‹, die von Muslimen nach dem Namen des Propheten verwendet wird, Anm. d. Red.] zeichnen soll. Allein die Frage ist eine Provokation. Das ist das Bestreben, die Muslime Russlands und der ganzen Welt zu beleidigen, Feindschaften zwischen den Völkern hervorzurufen, Chaos und Unruhen zu säen. Wenn jemand die Gelegenheit benutzt, ›Echo‹ eine Lehre zu erteilen, würde es sofort den Muslimen zugeschrieben werden. Die Muslime Russlands sehen schon seit langem, dass Wenediktow ›Echo Moskwy‹ zum führenden antiislamischen Sprachrohr gemacht hat. Davon kann man sich vergewissern, wenn man das Material eines beliebigen Tages hört oder liest. Auf dieses Thema ist eine ganze Mannschaft von Autoren spezialisiert, die durch nichts mit Russland verbunden sind. Wenediktow hat weder familiäre noch religiöse Werte. Das gibt ihm aber kein Recht, Dutzende Millionen Muslime endlos in den Schmutz zu ziehen und zu beleidigen. Ich bin der festen Überzeugung, dass die Staatsgewalt den Sender, der Feindschaft und Hass zwischen den Menschen und Völkern schürt, zur Ordnung rufen muss. Sonst werden sich diejenigen finden, die Wenediktow zur Verantwortung ziehen. Russland hat heute viele Probleme, zu deren Bewältigung mehr denn je Einheit und Geschlossenheit der Völker vonnöten sind. Die Wenediktows brauchen aber Wirren, brauchen einen jeden Funken, um das Volk auf die Straßen zu treiben. Wir hoffen, dass diese Versuche nicht ohne Beachtung und Nachfrage durch die Staatsorgane bleiben. Sonst werden die Muslime Russlands, denen das Schicksal ihres Vaterlandes nicht gleichgültig ist, die Rüpeleien von Wenediktow und Co. nicht ewig dulden.«

Ramsan Kadyrow via Instagram, 9.01.2015 <http://instagram.com/p/xos2OpiRri>

Ksenija Sobtschak: Satire ist keine Straftat!

»Die Staatsgewalt muss den Radiosender zur Ordnung rufen«, schreibt Kadyrow. Worin besteht die Verletzung der Ordnung? Gegen welchen Paragraphen des Strafgesetzbuches Russlands hat Wenediktow verstoßen? »Wenediktow hat keinerlei religiöse und familiäre Werte« – Ramsan Achmatowitsch, vielleicht sind das schlicht ANDERE Werte? Nicht bessere und nicht schlechtere als Ihre? Ich zum Beispiel habe die Nase fürchterlich voll von diesen »verletzbaren« Gläubigen und ihren Gefühlen! Ich habe auch antireligiöse Gefühle, die Sie ständig beleidigen; und ich dulde es! Deswegen heißt die einzige friedliche Lösung für uns alle: sich vom GESETZ leiten zu lassen. Glauben Sie an wen Sie wollen, von mir aus auch an einen heiligen Kater, aber bloß keine Aggression, keine ständigen »beleidigten Gefühle«. Allein ein allgemeines SÄKULARES Gesetz für alle. Kein eigenmächtiges Handeln, vorgerichtliche Abrechnungen usw. Oder – machen Sie Lobbyarbeit, ändern Sie Gesetze (vielleicht sollte man es bei der Terrorismusbekämpfung tun, ich weiß es nicht). ABER: Das Gesetz steht höher als die Gerechtigkeit, höher als jegliche Gefühle. Laut Gesetz ist Satire, Verspottung KEINE Straftat! […]

Ksenija Sobtschak via Instagram, 9.01.2015 <http://instagram.com/p/xo5h4MiCF4/>

Genri Resnik: Wir leben, wenn nicht direkt im Irrenhaus, dann zumindest in der Aufnahme

»In den Äußerungen von Chodorkowskij konnte ich keine Erregung von Hass und Feindschaft feststellen. Michail Borisowitsch [Chodorkowskij] hat mit seinem schmissigen Statement seine Verbundenheit zu den Werten der westlichen Gesellschaft erklärt. Mit ›Westen‹ meine ich nicht den geographischen, sondern den sozialen Begriff. Chodorkowskij spricht davon, dass man einer Erpressung gegenüber auf keinem Fall nachgeben darf. […] Ich glaube nicht, dass sie sich die Einleitung eines Strafverfahrens erhoffen. Die Reaktion der Abgeordneten ist politisch. Für sie ist es ein Anlass, ihre Einstellungen kund zu tun.

Überhaupt wird bei der Bewertung der Ereignisse in Frankreich nicht öffentlich gesagt: ›selbst Schuld‹, doch ist das Wort ›aber‹ präsent und wird zur Verurteilung der Werten von Demokratie und Freiheit eingesetzt.

Man darf ja nicht offen sagen: ›Mord ist gut‹. Deswegen sagt man: ›Mord ist schlecht, aber…‹

[…]

Wir leben, wenn nicht direkt im Irrenhaus, dann zumindest in der Aufnahme, und man wundert sich schon über gar nichts mehr.«

Genri Resnik via Otkrytaja Rossija, 10.01.2015; <https://openrussia.org/post/view/2000/>

Wladimir Jakunin: Welche Wahrheit liefern die Mohammed-Karikaturen?

»[…] Meiner Meinung nach ist der Mord an den Karikaturisten der Zeitschrift Charlie Hebdo nichts anderes als politischer Terror, solche Sachen sind durch nichts zu rechtfertigen – weder durch besondere Umstände noch durch Provokationen.

Dabei halte ich als Politologe (das ist meine Spezialisierung) die französische Tragödie leider für eine unausweichliche Fortsetzung der Weltentwicklung. Damit meine ich die Politik der Globalisierung, die der modernen Gesellschaft von der Finanzoligarchie, vor allem aus den USA aufgenötigt wird. Die europäischen Länder sind ebenfalls daran beteiligt, wobei das Experiment sich gegen diese wendet. Die Ausgangshaltung bestand darin, einerseits das Vorgehen in den Bereichen Wirtschaft, Politik und Medien auf eine verringerte Souveränität aller Länder zu richten, einschließlich derjenigen in Europa, und anderseits alle Zivilisationsgemeinschaften über einen Kamm zu scheren. Die dabei betriebene Ideologie des Multikulturalismus hat die Tatsache ignoriert, dass sich die zivilisatorischen Besonderheiten nicht ohne weiteres unifizieren lassen, selbst beim Einsatz des modernsten Manipulations-Knowhow. […]

Die wichtigsten Schlussfolgerungen laufen darauf hinaus, dass die zukünftige Weltarchitektur auf einer Anerkennung zivilisatorischer Vielfalt basieren muss, und auf der Notwendigkeit eines Dialogs der verschiedenen Zivilisationen und Kulturen, wo die Gleichberechtigung aller Subjekte einer solchen Zusammenarbeit gegeben ist. […]

Der zweite Aspekt, der im Zusammenhang mit dem Terroranschlag in Paris intensiv diskutiert wird, sind die Grenzen des Erlaubten bei der Meinungsfreiheit. Die Reaktionen und Schlussfolgerungen, die zu hören sind, unter anderem aus dem Munde westlicher Politiker, sind meines Erachtens den modernen Herausforderungen, die Europa zu bewältigen hat, nicht angemessen. Einerseits wird der Wert der Meinungsfreiheit bedingungslos verteidigt; die wird in den westlichen Demokratien eindeutig interpretiert: keinerlei Zensur oder Selbstzensur verteidigt, also: ›ich sage, was ich will‹. Andererseits gibt es das Postulat, dass die Freiheit dort ihre Grenzen hat, wo die Freiheit des Anderen beginnt. In diesem Zusammenhang stellt sich die Frage: Ist eine Veröffentlichung heftiger Satire zu religiösen Themen ein Ausdruck der Meinungsfreiheit oder aber eine Provokation, die zu Konflikten innerhalb der europäischen Gemeinschaft führt? Mir scheint, wenn eine solche Publikation die religiösen Gefühle eines beträchtlichen Teils der Bevölkerung verletzt, weshalb wird das dann getan? Wozu die Menschen provozieren, die man zu sich reingelassen hat? […] Welche Wahrheit liefern die Mohammed-Karikaturen?

In einer säkularen Gesellschaft ist es grundsätzlich erlaubt, sich über die Schwächen und Makel von Religion und Glauben lustig zu machen, doch ist dieses Thema recht delikat und heikel. Wenn die westlichen Liberalen die Diskussion aus der Position ›wir verteidigen die Meinungsfreiheit‹ führen, sollte man möglicherweise auch an eine Verteidigung der Rechte Anderer erinnern, die sich im eigenen Hause beleidigt fühlen. Es ist klar, dass solche Fragen auf der Ebene staatlicher Innenpolitik reguliert werden müssen, auf der Ebene der Traditionen und Kanone, die sich in der Gesellschaft formieren. […]«

Wladimir Jakunin via Livejournal, 15. Januar 2015 <http://v-yakunin.livejournal.com/94678.html>

Ausgewählt und zusammengefasst von Sergey Medvedev, Berlin (Die Blogs, auf die verwiesen wird, sind in russischer Sprache verfasst)


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