Neue Kriegseskalation nach den Wahlen im Donbass?

Eine Woche nach den Parlamentswahlen in der Ukraine fand eine Abstimmung über die »Republikchefs« in den von den Separatisten kontrollierten Gebieten statt. Die Wahlkommissionen der sogenannten Volksrepubliken Donezk (DNR) und Luhansk (LNR) verkündeten die Siege für Alexander Sachartschenko in Donezk und Igor Plotnizkij in Luhansk. Kiew bezeichnete die Wahlen als »Farce« und droht mit einem neuen Militäreinsatz gegen die Separatisten. Brüssel erkennt die Wahl im Donbass ebenfalls nicht an und hält sie für einen Verstoß gegen das Minsker Abkommen vom September 2014. Moskau hat die Wahlergebnisse in der DNR und der LNR de facto anerkannt und die Willensäußerung der Bevölkerung im Donbass begrüßt. Die Blogger diskutieren über die Folgen der Abstimmung in der Ostukraine und prognostizieren eine neue Stufe der Eskalation zwischen Russland, der Ukraine und dem Westen; es meldeten sich unter anderem zu Wort: Jewgenij Kiseljow, ein russischstämmiger Journalist aus Kiew; der Politologe Gleb Kusnezow, der Soziologe Igor Ejdman und der Publizist Alexander Selitschenko.

Es kann ein neuer Krieg kommen

»Die sogenannten Wahlen auf Teilen der Gebiete Donezk und Luhansk, die sich im Moment unter der Kontrolle bewaffneter prorussischer Separatisten befinden, kann man meines Erachtens nur in fetten Anführungszeichen als ›Wahlen‹ bezeichnen.

Das hätte sich selbst der alte Tschurow [Wladimir Tschurow, seit 2007 Vorsitzender der Zentralen Wahlkommission Russlands; Anm. d. Red.] nicht träumen lassen: Wahlen ohne Wahlkommissionen, ohne Wählerlisten, ohne irgendein formelles Wahlverfahren, ganz zu schweigen vom Wettbewerb. Wahlen, bei denen sogar Menschen mit russischen Pässen ihre Stimme abgeben können. Wo per Internet gewählt wird.

Die Schlangen vor den Wahllokalen, wo den Wählern buchstäblich Möhren geboten wurde – im Netz sind zahlreiche Bilder veröffentlicht worden, auf denen eine Menge Säcke mit Möhren, Kartoffeln, Kohl, Zwiebeln für einen symbolischen Preis von einer Hrywnja, rund drei Rubel, pro Kilo zu sehen sind. Auf junge Männer warteten in den Wahllokalen neben den Möhren noch weitere ›angenehme Überraschungen‹. Ihnen werden Vorladungen zur Einberufung in die bewaffneten Einheiten der Separatisten ausgehändigt (›LNR‹ und ›DNR‹). Allem Anschein nach mangelt es denen akut nun an Personal. […]

Russische Medien berichten dabei von irgendwelchen ausländischen Wahlbeobachtern, die angeblich bestätigen, dass die Wahlen fair und nobel ablaufen. Zum Teufel nochmal, welche internationalen Beobachter möchte man fragen, wenn sowohl die USA als auch die EU und die NATO sich weigern, die Wahlen als rechtmäßig anzuerkennen und Russland dafür kritisieren, dass es eine völlig gegensätzliche Position eingenommen hat?![…]

Im Internet sind derweil Informationen aufgetaucht, dass einige ultrarechte und ultralinke europäische Politiker – genannt werden der Italiener Alessandro Musolino, der Österreicher Ewald Stadler, der Belgier Frank Krejelman – tatsächlich auf dem Territorium der Separatisten erschienen sind und versuchen haben, als Wahlbeobachter einer von ihnen selbst gegründeten Organisation, einer Art geklonter OSZE, die sie als ASZE bezeichnen, wohl einer ›Agentur‹ oder ›Assoziation‹ für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa, auftreten. Was soll’s, wir wissen nicht erst seit heute, dass europäische Ultraradikale angesichts Putins Regime in Wallung geraten.

Das alles wäre lustig, wenn es nicht so traurig wäre.

Es ist nämlich so, dass der Westen den Rückhalt Moskaus für die Wahlen in der ›LNR‹ und der ›DNR‹ zwangsläufig als einen neuen Schritt Moskaus zur Eskalation des Konflikts in der Ukraine sowie als ernsten Verstoß gegen das Minsker Abkommen bewerten wird. Das hat u. a. der UN-Generalsekretär Ban Ki-moon bereits erklärt. Das wird wiederum zu neuen Sanktionen gegen Russland führen.

Das Traurigste daran ist jedoch, dass Putin anscheinend einen anderen Plan im Kopf hat. Es ist nicht ausgeschlossen, dass er sehr bald die ›Wahlergebnisse‹ zur Ausweitung der russischen – auch militärischen – Einmischung im Osten und Südosten der Ukraine einzusetzen versucht, indem er beispielsweise auf Bitten der angeblich legitimen neugewählten Regierungen der ›DNR‹ und der ›LNR‹ verweist. Das bedeutet leider, dass uns ein neuer Krieg bevorstehen könnte. […]«

Jewgenij Kiseljow bei Echo Moskwy, 3.11.2014 <http://echo.msk.ru/blog/kiselev/1430218-echo/>

Ihr habt doch selbst für den Feldzug gestimmt

»Die Wahlen im Donbass sind sehr gute Wahlen. Sie zeigen, dass ›Demokratie‹, ›Wahlen‹, ›Prozeduren‹, ›Parlament‹ an sich keine Probleme lösen. Der Preis der ›Legitimität‹ durch die Wahlen beträgt eine Hrywnja pro Kilo. Sehr bald begreifen die schlangestehenden Menschen, dass sie zum zweiten Mal in einem halben Jahr von der ›Willensäußerung‹ nur Krieg, Tode, Elend und Banditismus erhalten. […]

Ich habe großes Mitgefühl mit der Bevölkerung im Donbass, die gestern erneut betrogen wurde und schon heute im Interesse der frisch gewählten Feldkommandeure und ukrainischen nationalistischen Falken weiter plündern und töten könnten. ›Ihr wolltet es doch selbst – für Mariupol, Slowjansk, Kramatorsk und Dnepropetrowsk samt Odessa kämpfen – Ihr habt mich schließlich selbst gewählt, ich habe Euch nichts anderes versprochen‹, könnte Sachartschenko sagen, und das wäre formal die reine Wahrheit. ›Ihr habt doch selbst für den Feldzug nach Mariupol und Odessa, für dieses ganze Noworossija gestimmt‹, wird das ukrainische Militär sagen, ›da darf man sich nicht wundern, dass wir einen möglichen Aggressor liquidieren wollen.‹ Auch das wäre formell die Wahrheit. Ich hoffe, dass alle genug Verstand haben, um keinen ›heiligen Krieg‹ unter dem Banner der Wahlergebnisse zu veranstalten, seien es die aus Kiew oder die aus Luhansk. Dieser Fall soll aber auch als Beispiel dafür dienen, warum die Rolle und die Bedeutung von Wahlen sowie elektoraler Legitimität unter modernen Bedingungen extrem überschätzt wird und einer Revision bedarf. […] Den Menschen müssen zunächst die Grundrechte gesichert werden, unter denen das Recht auf Leben das wichtigste ist. Erst dann sollte es um den Aufbau kommunaler Verwaltungen und Vertretungen gehen. Alles andere wäre afrikanischer Cargo-Kult. Unweigerlich mit afrikanischen Ergebnissen.«

Gleb Kusnezow auf Facebook, 3. November 2014 <https://www.facebook.com/gleb.kuznetzov/posts/665595630228476>

Wer entzündet das Feuer des russischen [hier: »ethnisch russischen«; Anm. d. Red.] Dschihad?

»Eine der schwerwiegendsten und anhaltendsten Folgen des Donbass-Abenteuers von Putin ist die Entstehung einer informellen bewaffneten Bewegung ›russischer Dschihadisten‹. Diese Bezeichnung ist willkürlich. Zu der Bewegung gehören sowohl [russisch-]orthodoxe Fundamentalisten, als auch Duginsche Eurasier, Stalinisten und russische Nazis. Sie alle eint ein aggressiver National-Konservatismus, der Hass gegen den Westen und europäische Werte, Xenophobie, die Orientierung auf Krieg und Gewalt. Diese breite ideologische Grundlage ist eher die Stärke dieser ›Dschihadisten‹ als eine Schwäche. Fundamentale Orthodoxie genießt in der russischen Gesellschaft keinen großen Rückhalt. Antiwestliche Haltung, der Glaube an die eigene nationale Überlegenheit und Exklusivität, Xeno- und Homophobie sind jedoch ziemlich verbreitet.

Girkin/›Strelkow‹, der informelle Führer der ›Dschihadisten‹, formulierte in einem jüngst gegebenen Interview grundlegende Prinzipien dieser Bewegung, die dem islamischen Modell sehr ähneln.

Wie bei den Islamisten ist das Weltbild ›russischer Dschihadisten‹ in ›Rechtsgläubige‹, also sie selbst, und die Feinde des rechten Glaubens, also die Feinde Russlands und der Orthodoxie geteilt. Ihre einzig rechte Zivilisation widersteht dem Rest der Welt, einer ›absolut apostatischen, geistlosen Welt, in der alles auf materiellen Werten beruht‹ (›Strelkow‹). Hauptantagonist Russlands sei der Westen. China sei aber nicht viel besser, wo ›Strelkow‹ zufolge dieselben materiellen Werte vorherrschen.Zwischen der rechten ›Russkij mir‹ [›Russische Welt‹; Anm. d. Red.] und dem verderbten Westen ist ein Krieg unvermeidbar. ›Russland hat einen Krieg zu erwarten… Wir stehen vor einem Krieg, und diesen Krieg werden wir entweder gewinnen oder verlieren, aber wir werden uns so oder so sehr stark verändern.‹ Seinen Ideologen zufolge ist dieser ›Dschihad‹ unabwendbar, und alle ehrlichen russischen Menschen sind verpflichtet, daran teilzunehmen. […]

Das Übel besteht darin, dass das Ungeheuer ›russischer Dschihadismus‹ nicht nur für den glücklosen Diktator Russlands gefährlich ist, sondern auch für die ganze Welt. Der Westen hat noch nicht begriffen, dass er vor einer neuen Gefahr steht. In Europa könnten Prozesse beginnen, vor denen der IS-Terror in Syrien und Irak verblassen würde. […]

Wovon ›Strelkow‹ auch immer träumen mag, die Bevölkerungsmehrheit Russlands wie auch des Westens und Chinas besteht aus materiell orientierten Menschen (das belegen alle Umfragen). Sie werden niemals ›Dschihadisten‹ unterstützen, die Isolation, Entbehrungen und Krieg mit sich bringen. Die aggressiven Fanatiker haben dennoch Chancen. Ihnen könnte der militanteste Teil der herrschenden Elite Russlands Hilfe leisten – die ›Silowiki‹. Unter den ›Falken‹ gibt es viele, die den Geheimdiensten entstammen, deren Verstand schon in der Jugend in Sonderschulen durch Hurra-patriotische, antiwestliche Mythologie vergiftet wurde. Deren Unterstützung könnte für die Entwicklung der russischen dschihadistischen Bewegung entscheidend werden.«

Igor Ejdman bei Echo Moskwy, 4. November 2014 <http://echo.msk.ru/blog/igeid/1431022-echo/>

Tapfer werden wir in den Krieg ziehen für…

»[…] Für den Lebensraum? Nein, wir sind kein Drittes Reich. Mit diesem Raum ist bei uns alles in Ordnung.

Für eine hehre Idee? Wofür unsere Großväter gekämpft haben? Aber nein. Wir haben keine hehre Idee. Unsere Ideen sind, von der Vergangenheit zu leben. In unserer Seele gibt es nichts anderes.

Für Respekt, damit uns auch noch jede Motte aber so richtig respektiere? In echt… Na, ja. Das wäre nicht schlecht. Wird das aber klappen?

Die ganze Welt […] gegen uns zu vereinigen, indem wir ungehorsame Völker mit Gewalt zu unterwerfen versuchen, das machen wir natürlich. Das haben wir schon in erheblichem Maße getan. Unterdrücker werden aber nicht respektiert. Auch wenn sie sehr stark sind. Respekt genießt man nicht durch die Fähigkeit zu töten. Respekt erhält man durch die Fähigkeit, besser zu leben als der andere lebt […].

Was hat der Westen der Welt gebracht und was bringt er weiterhin? Die Wissenschaft, Technologien, die Fähigkeit, sein Leben zu organisieren. Dafür wird der Westen respektiert, auch von denen, die ihn nicht mögen.

Was bringen wir der Welt? Geschrei über ›Pindosy‹ [umgangssprachlich für ›Amerikaner‹: ›Amis‹; Anm. d. Red.] und ›Gayropa‹? Großtuerei? Angeberei mit Verdiensten, mit denen wir nicht das Geringste zu tun haben? Eine perverse, archaische Deutung des Christentums, die oft altertümlicher und traditioneller als der Islam ist […] Eine solche Deutung findet man höchstens noch in Afrika.

Was sonst? Eine Wirtschaft, die nicht in der Lage ist, etwas anderes außer Waffen zu produzieren? Die heilige Überzeugung, dass man uns für all das lieben muss? Kindliche Komplexe?

Für das alles werden wir brav in den Krieg ziehen? Ist es das, was auf unseren Bannern steht?«

Alexander Selitschenko via Echo Moskwy, 5. November 2014 <http://echo.msk.ru/blog/russkiysvet_dot_narod_dot_ ru/1430388-echo/>

Ausgewählt und zusammengefasst von Sergey Medvedev, Berlin(Die Blogs, auf die verwiesen wird, sind in russischer Sprache verfasst)


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