Der Tod des Generals Kolesnikow im Ermittlungskomitee. Ein Selbstmord?

Am 16. Juni 2014 soll General Boris Kolesnikow nach Angaben seines Anwalts beim Verhör im Strafverfolgungskomitee (SKR) in Moskau Selbstmord begangen haben. Der ehemalige Stellvertretende Leiter der Hauptverwaltung für Korruptionsbekämpfung des Innenministeriums (MWD), sein Vorgesetzter Denis Sugrobow sowie ihre Mitarbeiter standen im Rahmen eines aufsehenerregenden Falls vor Gericht. Der Ermittlung zu Folge hatten die Offiziere des Innenministeriums versucht, einen FSB-Mitarbeiter zu belasten, indem sie ihm als angebliche Geschäftsleute 10.000 US-Dollar monatlich für eine »Kryscha« anboten (dt.: »Dach«, Protektion, informelle »Schutzleistungen« der Polizei oder des FSB für Unternehmer). Im Februar 2014 wurde Kolesnikow verhaftet und wegen »Überschreitung dienstlicher Befugnisse«, »Bildung einer kriminellen Vereinigung« sowie »Anstiftung zur Bestechlichkeit« angeklagt. Für diese Taten kann er zu einer Haftstrafe von bis zu zwanzig Jahre Freiheitsentzug verurteilt werden. In staatlichen Medien werden Kolesnikow und Sugrobow als »Werwölfe in Uniform« bezeichnet – d. h. als Polizisten, die in Wirklichkeit Kriminelle sind.

Beim letzten Verhör, als Kolesnikow die Ergebnisse der medizinischen Untersuchung präsentiert wurden, die ihn als haftfähig einstuften und verneinten, dass eine Gedächtnisstörung vorliege, sprang General Kolesnikow aus einem Fenster im fünften Stock des Strafverfolgungskomitees.

Rechtsanwälte und Blogger schließen eine fremde »Hilfe« bei dem Suizid nicht aus und diskutieren über die Ermittlungsmethoden der Sicherheitsorgane in Russland.

Sie sind weder »Werwölfe in Uniform« noch Robin Hoods

»Die MWD-Generäle Boris Kolesnikow und Denis Sugrobow sowie ihre Mitarbeiter können nicht als ›Werwölfe in Uniform‹ gelten.

So werden diejenige bezeichnet, die zum MWD, FSB oder einem anderen ›Machtministerium‹ kamen, unter Eid schworen, dem Gesetz zu dienen, Verbrecher zu ermitteln und aufzuspüren und dabei in Wirklichkeit aber selbst schwere Verbrechen begingen, indem sie Kriminelle gegen Geld schützen oder ihnen zu Diensten sind.

Nichts dergleichen haben die Generäle getan.

Sie haben ihre Ansichten und ihr Verhalten nicht geändert. Sie haben mit den Maßnahmen, die das Föderale Gesetz ›Über operative Ermittlungstätigkeit‹ bereithält, und unter Einsatz ihrer kriminalistischen Kenntnisse versucht, Personen ausfindig zu machen, die zur Bestechlichkeit neigen. […]

Es brauchte keine besonderen Findigkeit, um Mitarbeiter und Personen, die sie für diese ›Arbeit‹ gewonnen hatten, als Geschäftsleute auftreten zu lassen, damit sie monatlich Tausende Dollars für die ›Aufnahme unter eine ‚kryscha‘‹ anbieten.

Mit solchen Methode lassen sich in einer beliebigen Behörde Russlands Empfänger von Bestechungsgeldern ›aufspüren‹. […]

Die Mitarbeiter selbst oder diejenigen, die sie zur Mitwirkung an dieser »Methode« hinzugezogen hatten, dachten, dass die Verantwortung für Bestechung (§ 291 des Strafgesetzbuches der Russischen Föderation, UK RF) oder Beihilfe zu Bestechung oder Bestechlichkeit (§ 291.1. UK RF) sie nicht betreffen werde.

Faktisch provozierten die Generäle eine kriminelle Tätigkeit, die in Wirklichkeit nicht existierte. Es gab keine Amtsperson, die Schmiergeld einforderte. Sie haben diese erst durch Überredung und das Versprechen großer Gelder künstlich geschaffen. […]

Wenn eine Person, die diese Gelder bekommen will, derlei Forderung stellt, dann ist das eine Situation. Dann liegen Handlungen im Zusammenhang mit der Annahme von Bestechungslohn vor (§ 290 UK RF).

Eine andere Situation ist es, wenn ein Amtsträger dazu überredet wird, sehr große Gelder zu bekommen, allerdings nur die Tatsache der Geldannahme durch diejenigen, die überredet werden konnten, dokumentiert wird, nicht aber der Prozess des Überredens, also praktisch die Provokation zur Bestechlichkeit (§ 304 UK RF).

Die bekannten Fälle, in denen Amtsträger durch eine solche »Methodik« verurteilt wurden, sprechen dafür, dass weder staatsanwaltschaftliche noch gerichtliche Aufsicht ihr entgegenwirken konnten. […]

Bei der von den Generälen angewendeten Methodik lässt sich von einem verzerrten unrechtmäßigen Vorgehen gegen das sprechen, was als Korruption bezeichnet wurde.

Die Robin Hoods mit Generals-Epauletten fügen der Gesellschaft und der Behörde, die sie in Uniformen mit paradegestreiften Hosen gekleidet hat, noch mehr Schaden hinzu.

Das Leben zeigt, dass die Kriminalität sich nur auf rechtmäßigem Weg bekämpfen lässt, durch die Einhaltung der Verfassung Russlands und der Normen für ein Strafverfahren, die durch die Prozessordnung festgelegt sind.

Wer aber kontrolliert in Russland das, was die Verfassung und die Prozessordnungen verlangen?«

Wladimir Osin bei Echo Moskwy, 28. Juni 2014 <http://www.echo.msk.ru/blog/advokatvladimir/1349320-echo/>

Wurde General Kolesnikow aus dem Fenster gesprungen?

»Was muss da mit einem jungen Mann passiert sein (der General war keine vierzig Jahre alt), dass er Selbstmord begeht? Dabei hatte er sich, nachdem er in der Gefängniszelle Kopfverletzungen bekommen hatte, geweigert, selbst mit den Rechtsanwälten über die Umstände des Geschehens zu sprechen; er war furchtbar erschrocken…

Was also hat den General dermaßen erschrocken, dass er im Tode seine Rettung suchte? War er mit den Nerven am Ende? Oder hat man dem General geholfen aus dem Fenster zu springen?«

Irek Murtazin bei Livejournal.com, 16. Juni 2014 <http://irek-murtazin.livejournal.com/1218007.html>

Dmitri Bykov: Die Tragödie des Generals Kolesnikow und die globale Hölle Russlands

»Wir werden nie die Wahrheit darüber erfahren, was mit dem 36-jährigen MWD-General Boris Kolesnikow geschah, der, so wird berichtet, während eines Verhörs vom Balkon im fünften Stock gesprungen ist.

Wir wissen nur, dass seine Frau sich weigert, an einen Selbstmord ihres Mannes zu glauben. Zwei Monate vor dem Selbstmord (oder Mord) beharrte Kolesnikow darauf, dass er ehrlich seine Arbeit gemacht habe.

Ihm wurde Provokation vorgeworfen, angeblich sollte auf seinen Befehl hin einem hohen Funktionär aus dem FSB Schmiergeld angeboten werden.

Darüber werden wir ebenfalls nie etwas erfahren. Denn die internen Kämpfe der Silowiki sind unter dem derzeitigen Regime hinter einem Schleier des Geheimen verborgen. Und wenn es zu einem Machtwechsel kommt, werden verspätete Enthüllungen keinerlei Sinn machen.

Diese Geschichte illustriert allein drei wesentliche Veränderungen, die es in letzter Zeit im putinschen Russland gegeben hat. Erstens: die Verwilderung des Volkes, die wir in den Foren, ja sogar schon auf den Straßen beobachten können, ist nichts im Vergleich zu dem, was in den Etagen ganz oben vor sich geht.

Der Kampf um den Einfluss, der Wettkampf unter den Silowiki, der Kampf um den Zugriff auf den Kuchen – wie es bei einer völligen Machtkonzentration in einer Hand stets vorkommt –, das alles hat einen Höhepunkt erreicht: wenn wir, die kleinen Leute, schon so verbittert sind, dann werden sich die Eliten hinter dem Schleier des Geheimen erst recht an die Gurgel gehen, und die Hitze dieses Kampfes ist heftiger als in Breschnews Politbüro.

Zweitens: Die Mechanismen einheimischer Karrieren sind vollkommen unvorhersehbar, zufällig, sinnlos. Jemand bekommt den Auftrag, Korruption aufzuspüren – oder eben sie zu provozieren, wer weiß?! – und wird mit 36 Jahren General.

Der Wind dreht, und seine Karriere geht vor die Hunde, gegen ihn werden derartige Ermittlungsmethoden (oder Provokationen) eingesetzt, dass er drei Selbstmordversuche unternimmt, und glaubt man der Ermittlung, bringt er sich schließlich mit dem dritten Versuch um.

Drittens: Alles Reden von einer unglaublichen nationalen Geschlossenheit sind sinnlos, weil eine solche Einheit nicht durch die Umfragewerte des Staatsoberhauptes gemessen wird, sondern an den menschlichen Beziehungen in den höchsten Etagen der Macht.

Solch gegenseitige Verschlossenheit, Hass, Lüge, Prinzipienlosigkeit und Rachgier, wie wir sie heute beobachten, kannten selbst die sowjetischen Oberen nicht; die Geschichte um Alexej Mitrofanow, die vor kurzem die Duma erschütterte, ist nur ein Einzelfall, und dabei nicht einmal ein ausnehmend beredtes Beispiel.

Sie züchten Hass und treiben Keile nicht nur zwischen uns; mehr noch: sie hetzen Loyalisten und Oppositionelle, ›Krimnaschisten‹ und Liberale aufeinander, und sie fressen sich schon längst gegenseitig im Schutze der Dunkelheit.

Wenn gestern noch ein junger und gesunder Vater dreier Kinder als Muster für beruflichen Erfolg galt, wird man ihn morgen, nach drei Monaten in einen Zustand bringen, dass der Sprung aus dem fünften Stock ihm als einzige Rettung erscheint.

Sie haben nicht nur in Köpfen der Zuträger und abgestumpften Zuschauer der zentralen Fernsehkanäle und nicht nur in der eigenen Propaganda eine Hölle gebaut – sie haben sie auch für sich selbst gebaut. Dies ist ein zweifelhafter Trost, eigentlich überhaupt kein Trost.

Das sind bloß die Vorboten der Morgendämmerung. Was aber werden wir sehen, wenn der Tag anbricht?«

Dmitrij Bykow bei Echo Moskwy, 18. Juni 2014 <http://www.echo.msk.ru/blog/bykov_d/1342860-echo/>

Ausgewählt und zusammengefasst von Sergey Medvedev, Berlin

(Die Blogs, auf die verwiesen wird, sind in russischer Sprache verfasst)

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Analyse

Das unerwartete Ende des Obersten Arbitrage-Gerichts in Russland und die Politisierung der Justizreform

Von Peter H. Solomon (Jr.)
Die Auflösung des erfolgreichen Obersten Arbitrage-Gerichts Russlands1 und dessen Fusion mit dem Obersten Gericht des Landes – eine unpopuläre Maßnahme, die Wellen geschlagen hat – ist von wohlinformierten Beobachtern klar als willkürliche politische Entscheidung interpretiert worden. Sie ist in einer Reihe mit anderen Initiativen zum Gerichtswesen zu sehen, die in der jüngsten eher politischen Zwecken dienten, als dass sie die Bedürfnisse der Gerichte oder die Bestrebungen der Gerichtsreformer berücksichtigten.
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