Russische Erinnerung – bisher lieber einfach als kompliziert

Von Jens Siegert (Moskau)

Am 30. Oktober, dem offiziellen Gedenktag für die Opfer politischer Verfolgung, wurde an einem Haus in der Moskauer Innenstadt eine Gedenkplatte für Warlam Schalamow enthüllt, dem großen Erzähler des Gulag (<http://www.warlamschalamow.de>). Dieses kleine Ereignis ist besonders. Es ist die erste Gedenkplatte in Moskau, die auch daran erinnert, dass der so Geehrte in der Sowjetunion politisch verfolgt wurde. Wer durch Moskaus Straßen geht, kann viele Gedenkplatten lesen. Sie erinnern an Schriftsteller, Zirkusclowns, Generale und Wissenschaftler. Nicht wenige der Menschen, an deren Leistungen so erinnert wird, haben irgendwann im Lager gesessen, manche wurden hingerichtet. Doch davon stand bisher nirgends ein Wort.

Die russische Erinnerung, das, ich entschuldige mich gleich für dieses Wort, russische Massenbewusstsein, für das diese Gedenktafeln beispielhaft stehen, ist bis heute einfach geblieben. Die Tafeln sind natürlich Ausdruck staatlicher Politik. Sie befinden sich aber mit ihren Auslassungen auch in weitgehendem Einklang mit der Erinnerung der weitaus meisten Menschen in Russland, zumindest mit ihrem öffentlichen Teil. Das möchte ich ein wenig näher erläutern (und stütze mich dazu auch auf den großartigen Moskauer Vortrag "Erinnerungen an den Stalinismus" von Arsenij Roginskij, dem Vorsitzenden von Memorial, vom Dezember 2008, <http://www.boell.de/de/navigation/europa-nordameri ka-5709.html>).

Grundsätzlich neigen Menschen dazu, ihre Erinnerung zu vereinfachen oder, anders ausgedrückt, sie zu begradigen. Was nicht zum (meist guten) Selbstbild passt, wird oft angepasst oder ausgeblendet. Gesellschaften, die sich zudem über die Erinnerung verständigen müssen, verhalten sich kaum anders. Die Vergangenheit war aber immer komplizierter, weniger eindeutig. Sich dieser schwierigen Vergangenheit anzunähern, sie sich als Gedächtnis anzueignen, ist Arbeit. Arbeit, die bewusst und mit Mühe (und oft mit Schmerzen) geleistet werden muss.

Die meisten Menschen und Gesellschaften, nicht nur in Russland, scheuen diese Mühe und fürchten diesen Schmerz. Dem heutigen russischen Staat und seiner Führung kommt das gut zu Pass. Auch er fürchtet eine komplizierte Erinnerung. Es könne nur eine einheitliche, eindeutige Geschichtserzählung geben, hat Präsident Wladimir Putin erst jüngst wieder postuliert, und forderte ein für alle Schulen verbindliches Geschichtsbuch, in dem die historische »Wahrheit« stehen müsse. Putins Wahrheit, versteht sich. Und die könnte man (wiederum in weitgehender Übereinstimmung mit einer großen Mehrheit seiner Bürger) etwa so beschreiben:

Die russische Vergangenheit, vor allem das 20. Jahrhundert, ist, in der vom Kreml favorisierten Erzählung, eine Aneinanderreihung von Siegen. Die großen Bauten des Sozialismus haben aus einem rückständigen Agrarstaat eine große und moderne Industrienation gemacht. Dieses Land ist zu einer der beiden Supermächte der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts aufgestiegen, es hat Großes in Wissenschaft und Kultur geleistet, es hat den Kosmos erobert (als erstes, vor den Amerikanern!), vor allem aber hat es die Welt unter großen Leiden von Hitler und vom deutschen Nationalsozialismus befreit. Der Sieg im Zweiten Weltkrieg, im Großen Vaterländischen Krieg, ist der heilige Sieg unter diesen vielen Siegen. Darauf dürfen, darauf müssen die Russen stolz sein. Und die übrige Welt muss das anerkennen.

Das ist alles richtig. Das war alles so. Es ist nur nicht alles. Die millionenfachen Verbrechen an den eigenen Leuten in der Sowjetunion werden in diesem einfachen Gedächtnis ebenso weitgehend ausgeblendet, wie die Leiden der von der Sowjetunion beherrschten Länder. Es gibt zwar in Russland einen Konsens darüber, dass der die politische Verfolgung, der Massenterror schlecht war. Es gibt auch kaum Dissens darüber, dass die Opfer rehabilitiert werden mussten und ihnen geholfen werden muss. Wer aber die Täter waren, wer die Verbrechen begangen hat, ja, ob das überhaupt Verbrechen waren ist höchst umstritten.

Ein Grund dafür, vielleicht der wichtigste Grund, ist die Sakralisierung des Staates, besser: der, wie es in der deutschen, immer ein wenig unverständlichen Übersetzung heißt, Staatsmacht (russisch: »Wlast«) in Russland. Diese »Wlast« oder eben Staatsmacht (repräsentiert früher durch den gottgesalbten Zaren, dann durch die Partei und, unter Stalin, den »Woschd«, den »Führer«) ist ein außerhalb der Menschen (des »Volks«), ein ihnen gegenüber stehendes Subjekt aus eigenem Recht. Es war also, im Bewusstsein der meisten Menschen, vor allem diese Staatsmacht, die die großen Bauten geschaffen hat. Es war die Staatsmacht, die die sowjetische Wissenschaft organisiert hat. Es war die Staatsmacht, die das Weltall erobert hat. Es war die Staatsmacht, die den Sieg im Weltkrieg errungen hat. Es ist die Staatsmacht, die sich um die Menschen kümmert, wie ein gütiger, manchmal aber auch strenger und strafender Vater (trotz ihres auch im Russischen weiblichen grammatischen Geschlechts). Es sind die Menschen, die dann aber dem Staat dafür zu dienen (und manchmal Opfer zu bringen) haben, damit er im Namen des großen (und heute oft wieder heiligen) Russland mit seiner Macht all diese heroischen Taten vollbringen kann. Nicht der Staat ist in dieser Erzählung für die Menschen da, sondern die Menschen für den Staat, könnte man (nur wenig) überspitzt sagen.

Es war aber auch die Staatsmacht, die den Terror befohlen und durchgeführt hat. Es war die Staatsmacht, die Millionen Menschen in Zwangsarbeit und oft den Tod geschickt hat. Es war die Staatsmacht, die das ganze Riesenreich siebzig Jahre in Gefangenschaft gehalten hat. Doch das, die böse Staatsmacht mit dem guten russischen Vaterland im öffentlichen Bewusstsein zusammen zu bringen, ist offenbar ein zu schwieriges Gedächtnis. Zu schwierig zumindest für den Geschmack vieler Menschen in Russland heute, von der Staatsführung (der »Staatsmacht«) zu schweigen.

Privat ist das einerseits einfacher. Privat weiß (fast) jeder und jede von den Repressierten und Erschossenen in der eigenen Familie zu berichten. Privat kann darüber (in Grenzen) gesprochen werden. Privat können Erinnerungen ausgetauscht werden. Privat kann getrauert werden. Andererseits ist es aber auch hier schwierig. Denn neben den Opfern gibt es in (wiederum fast) jeder Familie auch Täter. Über sie wird auch in den Familien kaum gesprochen (genauer gesagt wird über sie nicht als Täter gesprochen). Und in der Öffentlichkeit schon gar nicht (wenn wir einmal Memorial und eine kleine, insgesamt kaum ins Gewicht fallende Minderheit ausnehmen).

Dabei ist es nicht so, dass die Informationen fehlen würden, auch wenn zum Beispiel viele Archive noch immer nicht oder schon wieder nicht zugänglich sind. Trotz der immer noch oder schon wieder geschlossenen Archive sind viele Informationen vorhanden. Es gibt hunderte und tausende Arbeiten von Historikern. Viele Dokumente, insbesondere zum Stalinschen Terror sind veröffentlicht und in Bibliotheken und im Internet auffindbar. Sie sind da, aber die Nachfrage ist klein.

Ähnliches wie für die Erinnerung im Land, gilt auch für die Außenbeziehungen. Eben weil das Gedächtnis vor allem aus dem Guten, aus den Siegen, aus den, wie es in der Sowjetunion hieß, Errungenschaften besteht, fehlt es an Verständnis, warum Russlands Bild im Ausland so schlecht ist, warum »die uns nicht mögen«. Nur ein Bespiel: Über 600.000 Sowjetsoldaten ließen ihr Leben bei der Befreiung Polens von deutscher Besatzung. Kein kleines Opfer. Und doch, so wundern und empören sich viele Menschen in Russland, kommen die Polen immer wieder mit ihren mehr als 24.000 1940 in Katyn und an anderen Orten in der Sowjetunion erschossenen Offizieren und Polizisten.

Das ließe sich nur verstehen, wenn vorher eine schwierige Erzählung von Geschichte entstanden wäre und sie verstanden würde. Eine Erzählung, die weder ausschließt (nach dem Motto, »weil wir die Guten sind, darf nichts Schlechtes über uns erzählt werden«), noch aufrechnet (bezüglich Katyn werden von russischer Seite sehr oft die vielen zehntausend nach dem Polnisch-Sowjetischen Krieg von 1920–21 in polnischen Lagern gestorbenen sowjetischen Kriegsgefangenen ins Feld geführt, <http://de.wikipedia.org/wiki/Polnisch-Sow jetischer_Krieg>). Doch dazu fehlen bisher Wille und Kraft. So wird aus der (zu) einfachen Erzählung ein (internationales) Problem.

Die Schalamow-Gedenktafel an dem Moskauer Innenstadthaus, aus dem heraus der Schriftsteller 1937 verhaftet wurde, ist ein sehr kleiner Schritt hin zu einem komplizierteren Gedächtnis. Hier hat, ausnahmsweise, auch einmal der Staat mitgemacht. Die Gedenktafel wurde gemeinsam durch einen Moskauer stellvertretenden Bürgermeister und den Memorial-Vorsitzenden Arsenij Roginskij enthüllt. Andere kleine Schritte unternehmen Organisationen wie Memorial ohne den Staat. Stellvertretend sei hier nur die Aktion »Rückgabe der Namen« (<http://de.ria.ru/opi nion/20131030/267183785.html>) erwähnt, mit der Memorial seit 2007 jedes Jahr am 29. Oktober am Solowezkij-Gedenkstein auf dem Lubjanka-Platz, in Sichtweite des KGB-Hauptquartiers an die Opfer politischer Verfolgung erinnert. Mehr als 3.000 Menschen kamen dieses Jahr, um die Namen von in Moskau im Großen Terror 1937–1938 erschossenen Menschen vorzulesen.

Sehr viel mehr geht gegenwärtig kaum, jedenfalls, solange der russische Staat in Übereinstimmung mit einem großen Teil der Bevölkerung in Rundumverteidigungsstellung liegt. Aber auch dieses Wenige schafft mit die Voraussetzungen dafür, dass es hoffentlich (irgendwann) einmal anders wird.

Diesen und andere Texte finden Sie auf Jens Siegerts Russlandblog http://russland.boellblog.org/.

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