Überall Politik

Von Jens Siegert (Moskau)

Lange war im sowjetischen Russland klar: Politik ist die Teilnahme an der Auseinandersetzung um institutionalisierte Macht. In der Sowjetunion gab es entsprechend keine Politik außerhalb der Partei. Oder besser: Es gab keine erlaubte Politik außerhalb der Partei. Und wer es dennoch versuchte, wurde hart sanktioniert und verschwand meist erst im Lager und dann oft in der erzwungenen Emigration.

Das änderte sich mit der Perestroika. Ein kurzer Frühling begann, der so etwa bis zur Parlamentsbeschießung durch Präsident Jelzin im Oktober 1993 dauerte. Solange war Politik hip und frei und sogar ziemlich demokratisch (wenn auch ein wenig chaotisch, aber das ist ja auch mal ganz schön). Russland war plötzlich, politikgeschichtlich, sehr modern.

Ab 1993 schieden sich die Sphären – es gab nun »politische« Politik (russisch: »polititscheskaja« politika), also den meist, wenn auch nicht nur in Parteien organisierten Kampf um politische Macht, und »zivilgesellschaftliche« oder »staatsbürgerliche« Politik« (russisch: »graschdanskaja« politika). Diese Unterscheidung hat ihren Grund. Die Ausweitung »des Politischen« in alle Lebensbereiche, im Westen eng mit ’68, dem Aufkommen der Bürgerinitiativbewegungen und dem Prozess einer Enthierarchisierung der Machtverhältnisse zwischen Staat/Gesellschaft und Individuum und Mann und Frau verbunden, hat in Russland (wie in weiten Teilen Osteuropas) so richtig erst nach dem Ende der Sowjetunion Fahrt aufgenommen. Der deutsche Philosoph Jürgen Habermas nannte diese Ausweitung der Legitimität politischen Engagements jenseits der auch im Westen vom Staat kontrollierten Institutionen schon 1962 in seiner Dissertation einen »Strukturwandel der Öffentlichkeit«.

Im Westen wurde mit diesem »Strukturwandel« der Politikbegriff erheblich erweitert. Politisch waren nun auch zuvor »private Angelegenheiten« wie zum Beispiel Gewalt in der Ehe oder Familie. Und nach und nach wurde es so auch legitim (im Gegensatz zu legal, was es immer schon war), ohne Vermittlung durch politische Parteien und staatliche Institutionen für seine Rechte einzutreten. Später nannte man diese neue entstandene Sphäre, »Politik zu machen«, ohne Politiker zu werden Zivilgesellschaft (eigentlich ein kleines deutsches Missverständnis, da das originär englische »Civil Society« wörtlich übersetzt »bürgerliche Gesellschaft« heißt, ebenso wie das russische »graschdanskoje obschtschestwo«).

All diese hochtrabenden Überlegungen waren den allermeisten nicht-staatlichen Akteuren in Politik und Gesellschaft natürlich nicht bewusst. Sie nahmen sich einfach diese Freiheit, weil sie, zu Recht, ein Recht darauf beanspruchten, das eigene Schicksal und das ihrer Gesellschaften mit zu bestimmen.

Die Phase der Unschuld endete Mitte der 1990er Jahre – nach der Parlamentsbeschießung, dem Tschetschenienkrieg 1994 und der manipulierten Wiederwahl von Jelzin 1996, die den Oligarchen-Staat während Jelzins zweiter Amtszeit schuf. »Politik« trennte sich im Bewusstsein der meisten Menschen erneut scharf von »gesellschaftlichem Engagement«. Erstere war dreckig, korrupt, gefährlich, moralisch anrüchig. Letzteres wohltätig, hatte eine gewisse Würde, war aber zunehmend marginal. »Ich/Wir machen keine Politik« wurde zum Mantra der Engagierten, mit dem sie ebenso Zustimmung bei der Bevölkerung zu erlangen wie den Regierenden zu signalisieren versuchten, sie seien keine Gefahr für deren Macht.

Wladimir Putin hat dieses Verhältnis dann in seiner erst »gelenkt«, später »souverän« genannten Demokratie formalisiert. Er machte sich schnell, wie schon kurz nach seinem Amtsantritt geschrieben wurde, zum »einzigen Politiker Russlands« (also ganz im Sinne von Carl Schmitt, nach dem souverän nur ist, wer ohne andere zu fragen entscheiden kann). Die Sphären »Politik« und »gesellschaftliches Engagement« waren erneut streng getrennt. »Politik« war ausschließlich Sache des Kremls. Wer das nicht einsah, wurde marginalisiert oder vernichtet (oder, Tradition muss sein, verschwand auch wieder, wie Michail Chodorkowskij, im Arbeitslager). Gleichzeitig wurde »gesellschaftliches Engagement« ohne ausgesprochenen (im Wortsinn!) politischen Anspruch sozusagen staatlich lizensiert. Eine beim Justizministerium registrierte Menschenrechts-NGO durfte sich um Menschenrechte kümmern, eine ökologische NGO um die Umwelt und ein soziologisches Forschungsinstitut durfte Meinungsumfragen machen. Kurz: Experten durften sich als »Experten« zu ihren Fachgebieten äußern.

Über spezielle Beratungsgremien, den (Bei-)Räten und Kommissionen beim Präsidenten, bei der Regierung, beim Ministerium X, beim Gouverneur Y, der Polizei oder dem Bürgermeister wurden so viele NGOs einerseits eingebunden, erhielten aber gleichzeitig einen wenn auch begrenzten Einfluss auf Entscheidungsfindungen, und, so dachten die meisten zumindest, einen gewissen Schutz gegen staatliche Repressionen. Ähnliche korporative Strukturen gab und gibt es für nicht-staatliche Wissenschaftseinrichtungen, Think Tanks und Lobbygruppen.

Dieses Arrangement schien auf Dauer angelegt, doch die Wiederkehr öffentlicher Massenproteste und damit auch öffentlicher, nicht aus dem einen Zentrum namens Kreml kontrollierter Politik im Winter 2011/2012 änderte alles erneut. Seither ist der Kreml fieberhaft mit Einfangen, Einhegen und Eingrenzen der Politik und ihrer Protagonisten (Subjekte!) beschäftigt. Dem dienen eigentlich all die im vorigen Jahr schnell (und handwerklich schlecht) gestrickten Gesetze: das liberalisierte Parteiengesetz, das verschärfte Verleumdungsgesetz, das verschärfte Gesetz über Landesverrat und das Gesetz zu Internetsperren. Bald wohl auch ein Gesetz zum »Schutz religiöser Gefühle«.

Aus dieser Reihe ragt in seiner Bedeutung das sogenannte »NGO-Agentengesetz« heraus. In diesem Gesetz wird der Begriff »Politik« von oben herab neu definiert und zwar paradoxerweise nicht einschränkend, sondern umfassend. Alles ist nun Politik und entsprechend findet die Staatsanwaltschaft auch überall Politik: Soziologie ist Politik; Initiativen zum Umweltschutz sind Politik; Einfluss von Juristen und Anwälten auf die Praxis der Rechtsprechung ist Politik; Vorschläge an Kommunalverwaltungen sind Politik; das Monitoring staatlicher Rechtsverletzungen ist Politik. Über 50 verschiedene Tätigkeiten, die von der Staatsanwaltschaft in Bescheiden an NGOs in den vergangenen Wochen als Politik qualifiziert wurden, hat die Kasaner NGO AGORA schon aufgezeichnet. Und die Liste wird weiter wachsen.

Bei einem der bisher prominentesten »Agentenopfer«, dem Meinungsumfrageinstitut Lewada-Zentrum, liest sich die »Verwarnung« der Staatsanwaltschaft etwa so: Umfragen machen ist in Ordnung, sie aber zu veröffentlichen beeinflusst die öffentliche Meinung und ist damit dem NGO-Agentengesetz« zufolge bei gleichzeitigen Einnahmen aus dem Ausland Politik. Und die ist ohne »Agentenanmeldung« verboten. So wird aus der Ausweitung des Politikbegriffs ein Repressionsinstrument zur Kontrolle von Öffentlichkeit und der Versuch, sich das Politikmonopol zurück zu holen.

Nun strebt jeder undemokratische (und mancher demokratische) Staat danach, Informationen zu kontrollieren. Gelungen ist es, zumindest auf längere Sicht, nie. Während die sowjetischen Partei- und Propagandamedien Ende der 1980er Jahre noch die Erfolge des Sozialismus feierten, stellten die gleichen Leute, die heute im Lewada-Zentrum forschen, fest, dass 93 Prozent der Menschen die wirtschaftliche Lage als »ungünstig« und »kritisch« bewerteten. Diese Glasnost, diese Offenheit war sicher nicht ursächlich für das Ende der Sowjetunion. Die Unzufriedenheit war Ergebnis einer verfehlten Politik. Das Umfrageinstitut war nur der Bote, der die schlechte Nachricht überbrachte. Heute versuchen die Machthaber wieder die verbreitete Unzufriedenheit zu bekämpfen, indem sie den Boten erwürgen.

Mit dem Lewada-Zentrum, das formal als NGO registriert ist, und weiteren Instituten, wie einer Filiale des staatsnahen Allrussischen Zentrums zur Untersuchung der Öffentlichen Meinung (WZIOM), dem St. Petersburger Zentrum für Unabhängige Sozialforschung oder dem Forschungszentrum »Region« aus Uljanowsk, sind nun neben vielen NGOs auch Institute mit hoher wissenschaftlicher Reputation betroffen. Und siehe da, die Wissenschaftscommunity regt sich. Eine Vereinigung der Umfrageinstitute, eine Assoziation unabhängiger Wirtschaftsforschungsinstitute, eine Vereinigung soziologischer Beratungsunternehmen und andere (viele der Unterzeichner dienen als Auftragnehmer durchaus dem russischen Staat oder beraten ihn auf die eine oder andere Weise) fordern in öffentlichen Erklärungen den Staat auf, die Finger von Lewada und Co. zu lassen (vgl. S. 24–28). Denn die russische Wissenschaft, auch die Gesellschafts- und Wirtschaftswissenschaften, sind inzwischen längst Teil der internationalen Forschung und kooperieren häufig eng mit ausländischen Partnern. Die Angst geht um, dass die Attacke des Staats sich nicht allein auf NGOs beschränken wird.

Diesen und andere Texte finden Sie auf Jens Siegerts Russlandblog http://russland.boellblog.org/.

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Analyse

Die Zerstörung der akademischen Freiheit und der Sozialwissenschaften in Russland

Von Theodore Gerber, Hannah Chapman
Die jüngsten innenpolitischen Repressionen der russischen Regierung und die plötzliche Isolierung russischer Wissenschaftler:innen von internationalen Kooperationspartner:innen werden die russische Wissenschaft, insbesondere die Sozialwissenschaften, wahrscheinlich zerstören. Seit dem Zusammenbruch der Sowjetunion sind die russischen Sozialwissenschaften praktisch aus dem Nichts entstanden und haben sich zu einer wichtigen Quelle für wissenschaftliche Forschung, Verbindungen zu globalen akademischen Netzwerken und Einblicke in die Funktionsweise der russischen Gesellschaft, Politik, Kultur und Wirtschaft entwickelt. Der zu erwartende Verlust der russischen Sozialwissenschaften wird eine wichtige Quelle für unser Verständnis für Russland versiegen lassen. Obwohl sich die Unterstützungsprogramme für geflüchtete Wissenschaftler:innen derzeit (zu Recht) auf die Hilfe für ukrainische Forscher:innen und Studierende konzentrieren, sollten westliche Regierungen, Universitäten und große Förderorganisationen Maßnahmen ergreifen, um russische Sozialwissenschaftler:innen im Exil einen Verbleib zu organisieren und sie zu schützen. Und zwar nicht nur kurzfristig, sondern bis sich die Bedingungen in Russland ändern und eine Wiederaufnahme der Sozialwissenschaften dort möglich sein wird.
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Analyse

Föderale Hochschulen – Russlands neue Kaderschmieden?

Von Stefan Meister
Der Zusammenschluss mehrerer regionaler Hochschulen zu föderalen Universitäten soll dazu dienen, neue starke Akteure auf dem nationalen und internationalen Bildungsmarkt zu schaffen. Die russische Politik hat in den letzten acht Jahren im zunehmenden Maße Mittel in Bildung und Wissenschaft investiert, ohne dass dabei eine gravierende Verbesserung der Ausbildungsqualität oder gar eine wettbewerbsfähige Forschung entstanden wäre. Im Gegenteil verlieren Russlands Ausbildungssystem und seine Forschungsinstitute weiterhin international den Anschluss. Ähnlich wie in der Wirtschaft sollen nun auch im Bereich der Hochschulbildung große halbstaatliche Akteure auf diese Entwicklung reagieren. Diese schaffen jedoch eher intransparente Strukturen und schränken einen echten Leistungswettbewerb ein. (…)
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