Das Bild des Westens. Russische Ansichten zu Polen und Deutschland

Von Agnieszka Łada (Warschau), Cornelius Ochmann (Berlin)

Zusammenfassung
Das Bild des Westens in Russland verändert sich langsam, aber stetig. Das in Deutschland weit verbreitete Klischee, dass die Russen deutschlandfreundlich und polenkritisch sind, trägt nicht mehr. Die Russen sind vor allem russlandkritisch geworden und sehen die westlichen Nachbarn differenziert. Acht Jahre nach der Osterweiterung der EU sind die ersten Auswirkungen der tektonischen Veränderungen in der europäischen Kartenlandschaft auch in der russischen Gesellschaft spürbar geworden. Die Zivilgesellschaft in Russland entwickelt sich weiter. Deutschland ist für die Russen der wichtigste europäische politische und wirtschaftlicher Akteur, aber Polen ist Teil des Westens geworden. Erschütterten noch 2006–7 die polnisch-russischen Konflikte die Beziehungen Russlands zur erweiterten EU, dominieren heute der steigende Handel und die steigende Aktivität der russischen Zivilgesellschaft. Die historischen Verwerfungen spielen eine wichtige Rolle bei der Gestaltung des nachbarschaftlichen Verhältnisses, aber vielmehr zählen die gegenwärtige Entwicklung und wirtschaftliche Interessen. Der Besuch des russischen Patriarchen Kyrill in Polen und der gemeinsame Brief der russisch-orthodoxen und der katholischen Kirche in Polen dokumentieren diese positive Entwicklung. Zwanzig Jahre nach dem Zerfall der Sowjetunion betrachtet die russische Gesellschaft die polnische und deutsche Entwicklung positiver als die im eigenen Lande.

Polen – wie das Land so die Leute?

Die primären Assoziationen der Russen zu Polen (siehe Tabelle 1 auf S. 13–14) haben nicht mit Politik (14 %) oder Geschichte (9 %) zu tun, sondern allgemein mit dem Land und seiner Bevölkerung (32 %). Erst danach denkt man beim polnischen Nachbarn an seine Wirtschaft (9 %) und Kultur (5 %). Knapp ein Viertel (24 %) der Befragten vermag auf die Frage nach Assoziationen keine Antwort zu geben, während 8 % eingestehen, überhaupt keine Vorstellungen zu Polen zu haben.

Die meisten Assoziationen deuten darauf hin, dass in der russischen Gesellschaft ein positives Erscheinungsbild Polens und seiner Einwohner herrscht. Bezüglich der Kategorie »Land und Bevölkerung« findet man folgende Charakterisierungen: Polen ist ein direkter europäischer Nachbar sowie ein Land mit schönen Landschaften, Städten und Naturräumen, die man zu Erholungs- und Tourismuszwecken besucht. Außerdem leben in Polen schöne Frauen. Die Polen selbst gelten unter den befragten Russen als Brudervolk, die »Unseren«, »slawische Brüder« sowie als verwandte, sprachlich und mental nahestehende »befreundete Nation«. Unter den erwähnten Merkmalen finden sich zahlreiche positive Einschätzungen: gutmütige, wohlwollende Einwohner, gutes und offenherziges bzw. kultiviertes und intelligentes Volk. Abgesehen von ausgesprochen positiven Bewertungen tauchen auch neutrale Meinungen auf, wie z. B. gewöhnliches Land, Volk, Nation, einfache Menschen – sowie einige negative Konnotationen, denen zufolge die Polen ein undankbares, hochmütiges Volk sind, das sich durch Hinterlist und Boshaftigkeit auszeichnet. Unter den polnischen Städten werden vor allem Warschau und Krakau genannt, während man Polen als Nation auch mit Katholizismus und Verwandtschaftsverhältnissen assoziiert.

Die Assoziationskategorie »Politik« liegt an zweiter Stelle (14 %), ist aber nicht sehr ausdifferenziert. Es dominieren die Flugzeugkatastrophe von Smolensk und der Tod des polnischen Präsidenten Lech Kaczyński und die Person Lech Kaczyński selbst. Andere Assoziationen werden selten genannt. Unter diesen gibt es sowohl positive Äußerungen, denen zufolge Polen der ehemalige Verbündete Russlands ist, als auch negative Einschätzungen, laut derer sich Polen gegenüber Russland aggressiv und unfreundlich verhält, wobei die beiderseitigen Beziehungen angespannt seien.

Weniger, aber zumeist positive Assoziationen haben russische Bürger in Bezug auf die polnische Volkswirtschaft, die man für gut entwickelt hält (9 %). Polen gilt als wohlhabendes Land mit hohem Lebensstandard – mit Waren und Dienstleistungen hoher Qualität. Besonders gerne weisen die Befragten dabei auf Dinge hin, die mit dem äußeren Erscheinungsbild der Menschen zusammenhängen, wie z. B. Kleidung, Mode oder gute Kosmetikartikel. Polnische Erzeugnisse werden als günstig bezeichnet, wobei man auf den alltäglichen Schmuggel derartiger Waren durch »Ameisen« (mrówki) hinweist.

Entgegen der Befürchtung, im Erscheinungsbild Polens würden historische Aspekte vorherrschen, stammen lediglich 9 % der Assoziationen russischer Bürger zum polnischen Nachbarland aus dem Bereich Geschichte. Dabei knüpft man sowohl an weit zurückliegende Jahrhunderte (russisch-polnischer Krieg, Militärintervention im 17. Jahrhundert, Iwan Susanin, Pseudo-Dimitri I., Schlacht bei Poltawa), aber auch an die jüngere Vergangenheit – Zweiter Weltkrieg – an. Dabei sind die Assoziationen sowohl positiv (gemeinsamer Kampf/Krieg 1941–1945, »Befreiung« Polens im Jahre 1945), als auch negativ (Katyn – Massenerschießungen polnischer Offiziere). Ferner wird auch daran erinnert, dass beide Staaten in der Vergangenheit zahlreiche Konflikte miteinander ausgetragen haben und verfeindet gewesen sind – wobei ein Teil des polnischen Staates einst vom Zarenreich annektiert wurde (1772–1918).

Relativ wenig verbinden russische Bürger mit der polnischen Kultur (5 %). Denn abgesehen vom »Polka«-Tanz nennen sie lediglich die Filme Czterej pancerni i pies [Vier Panzersoldaten und ein Hund] und Tawerna »13 krzeseł« [Die Taverne »13 Stühle«] – und unter den bekannteren Kulturschaffenden Polens Anna German, Barbara Brylska und Fryderyk Chopin.

Diese Assoziationen offenbaren, dass Polen bzw. die polnische Nation für die heutigen Russen vor allem als recht sympathisches Nachbarland erscheint. Politische und historische Aspekte stehen eher im Hintergrund. Auch mit der polnischen Kultur weiß man oftmals – trotz der von einigen Befragten deklarierten Kenntnis polnischer Bücher oder Filme – nicht viel anzufangen.

Deutschland – das Musterland der Russen?

Die Assoziationen der Russen zu Deutschland unterscheiden sich von der Wahrnehmung Polens recht deutlich (siehe Grafik 1 auf S. 12). Denn in Bezug auf Deutschland (siehe Tabelle 2 auf S. 15–16) dominieren vor allem historische Reminiszenzen (36 %), die im Falle Polens weitaus seltener sind (9 %). Erst an zweiter Stelle denkt man bei der Bundesrepublik an Land und Bevölkerung (29 %) – übrigens ebenso häufig wie in Hinblick auf Polen. Die Befragten äußerten sich ferner erheblich öfter zur deutschen (20 %) als zur polnischen (9 %) Wirtschaft, während politische Konnotationen eher die Ausnahme bildeten (3 %). Wenn man jedoch die Flugzeugkatastrophe von Smolensk aus der Assoziationskategorie der polnischen Politik herausnimmt, bringen die russischen Respondenten auch Polen weitaus seltener mit politischen Aspekten in Verbindung. Im Gegensatz zum Stichwort »Polen« war bei der Frage nach Deutschland auch die Zahl derjenigen russischen Bürger geringer, die keine Antwort zu geben vermochten oder eingestand, keine Assoziationen zu diesem Thema zu haben (12 %).

Die am häufigsten auftauchende Kategorie von Assoziationen, die russische Bürger zu Deutschland haben, betrifft die gemeinsame Geschichte (36 %). Dabei werden vorrangig bestimmte Aspekte des Zweiten Weltkrieges genannt: »Großer Vaterländischer Krieg«/Angriff auf die UdSSR, Faschisten (Faschismus, Nationalismus), Adolf Hitler, Sieg im Jahre 1945, nahestehende Menschen, die im Krieg kämpften oder ums Leben kamen, Konzentrationslager und Kriegsfilme. Dennoch geben die Befragten aber auch Hinweise auf die jüngste deutsche Geschichte in Zusammenhang mit dem Prozess der Wiedervereinigung.

Die zweithäufigste Kategorie betrifft Assoziationen zu Deutschland als Land und Bevölkerung (29 %). Die befragten Russen nennen dabei die nach ihrer Ansicht positiven Eigenschaften der Deutschen, wie z. B. Pünktlichkeit, Präzision, Pedanterie (nicht unbedingt positiv bewertet), Ordnungsliebe, Gründlichkeit, Fleiß, Sauberkeit, Disziplin oder Ehrlichkeit. Das deutsche Volk wird als weise, groß und gebildet bezeichnet. Positive Konnotationen zeigen sich in der Einschätzung Deutschlands als politisch stabiles Land mit guter medizinischer Versorgung, hoch entwickelter Demokratie und schönen Städten. Darüber hinaus tauchen neutrale Assoziationen auf, denen zufolge die Bundesrepublik ein großer europäischer Staat ist. Ferner wird Deutschland mit der Wurst, bayerischem Bier und Fußball, aber auch mit Berlin und dem Reichstag in direkte Verbindung gebracht.

Positive Assoziationen haben russische Bürger in Bezug auf die deutsche Wirtschaft (20 %), der eine starke Dynamik zugeschrieben wird. Daher hält man Deutschland für ein wohlhabendes Land mit hohem Lebensstandard. Die Befragten nennen in diesem Zusammenhang auch deutsche Automarken, die gut bewertet werden. Deutschland wird ferner mit Technik und Hightech in Verbindung gebracht.

Sehr wenig weiß man indessen über die deutsche Politik zu sagen (3 %). Dabei fielen die Schlagworte »freundschaftliche Beziehungen«, »Feinde« und der Name von Angela Merkel. Entgegen der weitverbreiteten Meinung, dass die Russen im Allgemeinen Deutschland und seine Kultur kennen, weckt dieses Stichwort bei den Befragten nur sehr wenige Assoziationen. Genannt werden lediglich Johann Wolfgang von Goethe, Johann Sebastian Bach und Ludwig van Beethoven sowie die Kunstgalerie Dresden.

Im Westen ist es besser als in Russland

Die befragten Russen haben eine bessere Meinung über Deutschland und Polen als über ihr eigenes Land. Besonders gut wird dabei die Bundesrepublik eingeschätzt.

Die Bundesrepublik ist nach Ansicht der Russen ein sehr bürgerfreundlicher Staat, der sich laut 92 % der Befragten um das Wohl seiner Bürger kümmert (siehe Grafik 2 auf S. 17). Gegenteilige Meinungen äußern lediglich 2 % der Befragten. In den Augen der Russen ist Deutschland in ökonomischer Hinsicht ein dynamisches Land (siehe Grafik 3 auf S. 17) – 85 % der russischen Bürger meinen, dass sich die deutsche Wirtschaft gut weiterentwickelt (eine andere Auffassung vertreten knapp 4 %). Das positive Erscheinungsbild Deutschlands wird von der Einschätzung der Russen hinsichtlich des niedrigen Korruptionsniveaus unter deutschen Staatsbeamten zusätzlich gefestigt (siehe Grafik 4 auf S. 18). Denn mehr als die Hälfte der Befragten (51 %) geht davon aus, dass Beamtenbestechung in der Bundesrepublik kein weitverbreitetes Problem darstellt. Anderer Auffassung ist ein geringerer Anteil der Befragten (21 %). Diese Ansichten sind seit etlichen Jahren unverändert – in einer einschlägigen Meinungsumfrage von 2008 hielten Deutschland lediglich 2 % der Russen für ein korruptes Land. Besonders positiv wird die Bundesrepublik von den Einwohnern Moskaus und der größten russischen Städte beurteilt. In der Hauptstadt Russlands ist man öfters als in anderen Regionen des Landes der Meinung, dass sich der deutsche Staat um seine Bürger kümmert. Größer ist auch die Zahl der befragten Moskauer, die den Entwicklungsstand der deutschen Wirtschaft für gut halten (93 % im Vergleich zu 85 % der Gesamtbevölkerung). Die Deutschen verkörpern also für die Russen – insbesondere für die Einwohner der größten Städte – ein Musterland an staatlicher Organisationfähigkeit und ökonomischer Funktionstüchtigkeit.

Die Ansichten der Russen zu Polen fallen im Vergleich zur Einschätzung Deutschlands weniger schmeichelhaft aus. Dennoch ist das Erscheinungsbild, das sich aus den Antworten der Befragten ergibt, insgesamt positiv. Polen wird ähnlich wie Deutschland als ein Staat wahrgenommen, der sich um seine Bürger kümmert. Diese Auffassung vertreten 67 % der Befragten, 28 % geben eine neutrale Antwort, während negative Meinungen sehr selten sind (5 %).

Ähnlich ist die Bewertung der Volkswirtschaft Polens. Knapp die Hälfte der Befragten (46 %) ist der Ansicht, dass sich diese gut weiterentwickelt – eine gegenteilige Meinung vertreten lediglich 15 % der russischen Bürger. Auch in diesem Fall geben die Befragten oftmals die ausweichende Antwort »weder ja noch nein« (39 %).

Vieldeutig bleibt indessen die Haltung der Russen zum Thema Korruption unter polnischen Beamten. Knapp die Hälfte der Befragten (41 %) nimmt dabei eine neutrale Position ein, während 15 % der Meinung sind, dass polnische Staatsbedienstete für Bestechungsgelder immun sind. 44 % der russischen Bürger sind hingegen mehr oder weniger davon überzeugt (12 % von ihnen sind sich ganz sicher!), dass unter polnischen Beamten im Allgemeinen Korruption herrscht. Die Frage nach der Bestechlichkeit erwies sich übrigens von allen vier Fragen über Polen als die schwierigste Thematik. Denn 47 % der Russen wählten dabei die Antwort »schwer zu sagen«.

Die meisten russischen Bürger schätzen die Situation im eigenen Land sehr negativ ein. Nach Ansicht vieler Befragter kümmert sich der russische Staat nicht um das Wohl seiner Bürger. Darüber hinaus herrsche weithin Korruption, wobei die Zukunftsperspektiven der wirtschaftlichen Entwicklung Russlands stark beschränkt seien. Die Hälfte der Russen (46 %) meint, dass die staatlichen Machthaber für das Schicksal der Menschen im Lande keine Sorge tragen. Allenfalls jeder vierte Befragte (23 %) vertritt eine andere Auffassung. Als außerordentlich wesentliches Problem gilt hingegen die Korruption. Im Blick auf die russischen Staatsbeamten geben die Befragten eine eindeutige Antwort: Vier von fünf Russen (83 %) behaupten, dass russische Beamte bestechlich sind, während lediglich 5 % der Ansicht bestreiten, dass Korruption in ihrem Staat ein Problem darstellt.

Trotz den von der gegenwärtigen russischen Regierung in Gang gesetzten »Aufklärungskampagnen« mit dem Ziel, die eigenen Bürger davon überzeugen, dass Russland von der aktuellen Wirtschaftskrise weniger stark betroffen ist wie die nationalen Volkswirtschaften der Europäischen Union, betrachten viele Russen derartige offizielle Mitteilungen eher skeptisch. Über ein Drittel der Befragten (39 %) widerspricht der These, dass die russische Wirtschaft auf einem guten Weg in die Zukunft ist. An deren Wachstumspotential glaubt jedoch weiterhin ein Viertel der Russen (26 %). 35 % der Befragten erklären hingegen, dass sich die einheimische Volkswirtschaft weder gut noch schlecht weiterentwickelt.

Interessanterweise rekrutiert sich der größere Anteil derjenigen, die meinen, dass sich ihre Wirtschaft gut weiterentwickelt, aus den jüngsten Altersgruppen (35 % im Vergleich zum Mittelwert von 26 %). Dabei offenbaren die Bürger Moskaus die kritischste Einstellung: Nur 18 % von ihnen glauben an eine positive Weiterentwicklung der einheimischen Wirtschaft (26 % im landesweiten Durchschnitt). Zweifel hegt indessen die Hälfte aller Moskauer (39 % im landesweiten Durchschnitt). Die Einwohner Moskaus stufen auch das Korruptionsniveau der russischen Beamten besonders hoch ein (91 % – landesweiter Durchschnitt 83 %). Diese Umfrageergebnisse stehen sicherlich in Zusammenhang mit den jüngsten öffentlichen Protesten vieler Moskauer Bürger gegen die derzeitigen Machthaber im Kreml.

Russland – Polen – Deutschland

Beim vergleichenden Blick auf die Lage in den drei Staaten stellt sich heraus, dass Polen in den Augen der russischen Befragten den politisch-ökonomischen Standards in Deutschland näher steht als den gegenwärtigen Verhältnissen in Russland. Dies bestätigen die Antworten bezüglich der staatlichen Sorge um das Wohl der Bürger, aber auch die Einschätzung des Wachstumspotentials der polnischen Volkswirtschaft.

Auch das Verhältnis der Russen zu Waren polnischer Herkunft weist sicherlich darauf hin, dass Polen in der russischen Gesellschaft zunehmend als Teil der westlichen Welt wahrgenommen wird. Denn ein Fünftel der Befragten fühlt sich durch den Hinweis, dass eine bestimmte Ware in Polen erzeugt wurde, zu deren Kauf ermuntert. Lediglich 8 % der russischen Bürger stößt eine derartige Information eher ab, während es für weit über die Hälfte der Befragten (61 %) keine Rolle spielt, ob ein im Angebot befindliches Produkt aus dem polnischen Nachbarland stammt.

Das sich aus der Umfrage ergebende Erscheinungsbild Polens in der russischen Öffentlichkeit weist trotz generell positiver Grundzüge auch einzelne Bereiche auf, in denen Warschau näher an Moskau liegt als an Berlin. Ein bezeichnendes Beispiel bildet dabei die Frage der Bestechlichkeit von Staatsbeamten. Denn nach Ansicht vieler Russen weicht die Situation in Polen von den in Deutschland herrschenden Standards deutlich ab. Die Einschätzung des Korruptionsproblems in Polen mag vielleicht mit der Wahrnehmung Polens als ehemaliges kommunistisches Land zusammenhängen, da dieses Problem in den ehemaligen Ostblockstaaten für gewöhnlich von wesentlicher Bedeutung ist. Andererseits kann Polen hinsichtlich der Lauterkeit der Staatsbeamten nur schwer mit Deutschland konkurrieren, das in den Augen der Russen ein Musterbeispiel für Beamtenethik ist und eher mit Eigenschaften wie Ordnungsliebe in Verbindung gebracht wird. Die Auffassungen der russischen Bürger über das derzeit in Polen herrschende Korruptionsniveau bleiben also recht vage. Nichtsdestotrotz schätzt man die russischen Staatsbeamten noch negativer ein.

Obwohl die russischen Bürger ihren Staat zwar überwiegend negativ bewerten, herrschen in Bezug auf die Freiheit der einheimischen Medien positivere Ansichten (siehe Grafik 5 auf S. 18). Knapp die Hälfte der Befragten (42 %) ist der Meinung, dass die Medien in Russland frei sind und die Regierung ungehindert kritisieren dürfen. Ein Drittel der Russen (32 %) hält sich in dieser Frage bedeckt, während jeder Vierte (26 %) der Auffassung ist, dass es keine freien Medien gibt. Diese Umfrageergebnisse mögen vielleicht überraschen, da in Westeuropa oftmals die Überzeugung vorherrscht, dass die russischen Medien überwiegend die Auffassungen der Regierungseliten repräsentieren.

Die positiven Einschätzungen hinsichtlich der Medienfreiheit betreffen alle drei Länder der vorliegenden Untersuchung. Im Falle Deutschlands überwiegt der prozentuale Anteil derartiger Ansichten jedoch bei weitem, während sich die Antworten in Bezug auf Polen in etwa die Waage halten: 43 % der Russen meinen, dass die Medien in diesem Land frei sind – und 46 % der Befragten reagieren auf diese Frage mit der Formel »weder ja noch nein«.

Erklären lassen sich die divergierenden Ansichten der russischen Bürger in Bezug auf den eigenen Staat und die Medienfreiheit wohl durch die unterschiedlich definierte Medienlandschaft. Denn wenn man unter dem Stichwort »Medien« nicht nur die traditionellen Massenkommunikationsmittel – also Fernsehen oder Rundfunk – versteht, sondern auch die durch das Internet zugänglichen »Neuen Medien« hinzuzählt (Nachrichtenportale, Blogs, Gesellschaftsportale, YouTube usw.), so deckt sich die Wahrnehmung der russischen Medien als unabhängige Quellen der öffentlichen Meinungsbildung mit der tatsächlichen Wirklichkeit in hohem Maße. Die Benutzung des Internets in Russland bleibt von der staatlichen Zensur nämlich weitgehend unbehelligt, so dass auf diesem Wege zahlreiche Materialien und Beiträge publik werden, die Kritik an den derzeitigen Machthabern im Kreml enthalten.

Um das Verhältnis der Russen zur Lage der Medien im eigenen Lande besser zu verstehen, muss man näher auf die Antworten der einzelnen Altersgruppen eingehen. Denn an die Unabhängigkeit der Massenmedien in Russland glaubt etwa die Hälfte der jüngsten Befragten (51 %) im Alter von 18 bis 24 Jahren. Beeinflusst wird die Meinungsbildung junger russischer Bürger in erster Linie von modernen, digitalen Informationsquellen. Diese Altersgruppe unterrichtet sich über Polen fünf Mal so häufig wie Landsleute über 54 Jahre mit Hilfe des Internets. Das Internet gilt derzeit in Russland als Kommunikationsmittel, das gegenüber staatlichen Steuerungsbestrebungen oder etwaigen Kontrollen der Regierung weiterhin die größte Immunität aufweist. Weniger Vertrauen zum Internet zeigen hingegen ältere russische Bürger (über 40 Jahre), die beinahe ausschließlich auf traditionelle Medien zurückgreifen. Die kritische Haltung dieser mittleren Altersgruppe liegt wahrscheinlich auch darin begründet, dass man die 1990er Jahre noch gut in Erinnerung hat, als noch ein gewisser Pluralismus in der traditionellen Medienlandschaft herrschte.

Auf dem Weg zu einem Trialog?

Die Aufbruchsstimmung in Teilen der russischen Gesellschaft hält an. Sie steht in direktem Zusammenhang mit der Reisefreiheit und den Erfahrungen der entstehenden Mittelschicht und der jungen Generation. In den vergangenen fünfundzwanzig Jahren hat ein großer Teil der städtischen Gesellschaft direkte Erfahrungen im Westen sammeln können. Dies führte zu Veränderungen in der Wahrnehmung des Westens aber vor allem zu einem kritischen Blick auf das eigene Land. Zugleich sieht die russische Gesellschaft in Deutschland und Polen keine Bedrohung für das eigene Land. Vielmehr betrachtet sie die Aktivitäten der westlichen Nachbarn im postsowjetischen Raum neutral. Es gibt allerdings eine Reihe von offenen Fragen, die das russisch-polnische Verhältnis belasten. Dazu gehören historische Themen, die aber in Fachkreisen diskutiert werden sollten. Hier bietet sich eine Fortsetzung des Historiker-Dialoges an, der in den letzten Jahren gute Arbeit gute Arbeit geleistet und eine Grundlage für die polnisch-russische Annäherung geschaffen hat. Die Flugzeugkatastrophe von Smolensk und deren Folgen haben jedoch negative Auswirkungen gehabt. Der anfänglichen Trauer und gegenseitigen Sympathiebekundungen folgte eine Welle von Verdächtigungen und Anschuldigungen seitens konservativer Kreise in Polen, die bis heute einen polnisch-russischen Dialog sehr erschwert. Die Distanzierung der katholischen Kirche von der Anschlagtheorie, die erst im Vorfeld des Patriarchenbesuches in Polen erfolgte, hegt neue Hoffnungen hinsichtlich der polnisch-russischen Kooperation.

In politischer Hinsicht stellt sich die Frage, ob eine deutsch-polnische Kooperation bei der Gestaltung einer Russland-Politik einen Nukleus europäischer Ost-Politik sein kann. Entscheidend ist hier die künftige Haltung der Bundesregierung, die Polen als zunehmend wichtiger Akteur in der EU bei der Gestaltung der Russland-Politik einbeziehen sollte. Vieles deutet darauf hin, aber eine Institutionalisierung des Prozesses steht nicht auf der Tagesordnung. Eine Analyse der deutsch-polnischen Kooperation zeigt, dass dies bisher ansatzweise in der Kooperation der Außenminister geschehen ist. Langsam entstehen auch andere, kleine trilaterale Projekte. Ihre Ergebnisse kann man aber noch nicht beurteilen. Oft ist auch das Engagement der russischen Seite eher gering. Eine Chance stellt eine Zusammenarbeit an der zivilgesellschaftlichen Ebene dar. In diesem Bereich könnte auch ein deutsch-polnisch-russischer Trialog eine symbolische Bedeutung für die weitere Entwicklung in Russland erhalten.

Über das Projekt

Der vorliegende Artikel entstand im Rahmen des Projektes: »Wahrnehmung Polens und Deutschlands in Russland«, realisiert in Zusammenarbeit mit der Stiftung für deutsch-polnische Zusammenarbeit und dank der finanziellen Unterstützung des polnischen Außenministeriums. Die Ergebnisse des Projekts wurden in dem unter »Lesetipps« zitierten Band publiziert. Diesem Band sind Teile des vorliegenden Textes entnommen. Die Ausführungen stützen sich auf eine Repräsentativumfrage, die das Institut für Öffentliche Angelegenheiten in Warschau beim Lewada-Zentrum in Moskau in Auftrag gegeben hat. Die Erhebung wurde im Zeitraum vom 11. bis 21. November 2011 durchgeführt und erfasste einer repräsentative Auswahl von 1.591 volljährigen russischen Bürgern.

Lesetipps / Bibliographie

  • Grzegorz Gromadzki, Jacek Kucharczyk, Agnieszka Łada, Cornelius Ochmann, Yuriy Taran, Łukasz Wenerski: Menschen – Geschichte – Politik. Russische Ansichten zu Polen und Deutschland, Warschau: Institute of Public Affairs 2012.

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