Zu dem Beitrag »Korruption im russischen Bildungswesen« von Eduard Klein

Von Gerlind Schmidt (Oberursel/Taunus)

Der genannte Beitrag präsentiert (bildungs-)politisch brisante Einschätzungen der Situation sowie detaillierte Daten zur Korruption im russischen Bildungswesen. Sie sei, verglichen mit dem Jahrzehnt nach dem Umbruch, deutlich angewachsen und habe zunehmend institutionalisierte Formen angenommen. Dabei wirft der Autor Schlaglichter auf einen komplexen Gegenstand, der noch wenig erforscht, für die Bewertung der Leistungen und die künftige Entwicklung des Bildungswesens in Russland aber von nicht geringer Bedeutung ist.

Meine Anmerkungen folgen mit Blick auf die Darstellung und Beurteilung von Korruption (korrupzija) und Bestechung (wsjatki) in dem Beitrag dem Interesse, weiterführenden Fragen aufzuwerfen. Insbesondere betrifft dies zwei Punkte: den rechtlichen, bildungsökonomischen und -politischen Rahmen als einen Kontext der Entwicklung von Korruption im Zeitverlauf sowie den Umfang und die Gewichtung von Bildungskorruption in den russischen Quellen, auf die der Autor seine Ausführungen stützt.

Bildungskorruption und ihr rechtlicher, ökonomischer und bildungspolitischer Kontext

Der Autor stellt fest, aufgrund des angespannten Staatshaushalts seien die Bildungseinrichtungen (im folgenden BE) nach dem Umbruch von 1991 durch die Umstände »gezwungen« worden, alternative Einnahmequellen zu erschließen, was häufig mittels korrupter Praktiken geschehen sei (S. 2). Diese Aussage stimmt mit einer bis heute verbreiteten Sichtweise der Beteiligten überein. Sie dürfte vielfach zugleich zur Rechtfertigung von Bestechung und erfolgter Vorteilsnahme gedient haben.

Zusätzliche Aufschlüsse könnte aber ein Blick auf den einschneidenden Paradigmenwechsel in der Bildungspolitik nach dem Umbruch von 1991 geben. Das nunmehr favorisierte neoliberale Steuerungsmodell stellt bis heute eine (freilich fortgesetzt umstrittene) offizielle Leitlinie der Bildungspolitik dar. Bedeutsam für die Ausbreitung von Bestechungszahlungen ist hierbei insbesondere die Favorisierung autonomer staatlicher BE, die als rechtlich und ökonomisch selbstverantwortliche Akteure auf einem entstehenden (Quasi-)Bildungsmarkt ihre Dienstleistungen anbieten (vgl. Bildungsgesetz von 1992, Hochschulgesetz von 1996 sowie Gesetz zu den Autonomen Bildungseinrichtungen von 2007, »Gesetz Nr. 83« von 2010). Weitere relevante Eckpunkte des zugrunde liegenden Modells sind neben Wettbewerb und Autonomie der BE eine Verpflichtung zur Erwirtschaftung von Eigenmitteln bei gleichzeitiger staatlicher Grundförderung (»Privatisierung innerhalb des staatlichen Sektors« lt. Mark Bray; ähnliche Formen werden in Deutschland als »hybride« staatlich-private Finanzierung bezeichnet).

Die rechtlichen Ausführungsbestimmungen und das erforderliche Regelwerk (insbesondere die Festlegung von verbindlichen Richtsätzen) sowie die Schaffung von Kontrollmechanismen blieben jedoch vorerst aus. In dieser Situation bewegten sich die spontan »von unten« erschlossenen neuen Wege der Gewinnung von Einnahmequellen in einem rechtlich ungeklärten informellen, d. h. in der Praxis vielfach rechtsfreien Raum. Dem aus der sowjetischen Ära überkommenen Handlungsrepertoire von Korruption und Bestechungszahlungen eröffneten sich hierdurch neue Spielräume.

Vor diesem Hintergrund stellt sich die Frage nach einem Zusammenhang zwischen der vom Autor festgestellten Entwicklung – Anwachsen von Korruption in den 2000er Jahren sowie deren »Systematisierung« trotz erfolgter finanzieller Stabilisierung – mit dem gleichzeitig einsetzenden bildungspolitischen Kurs zur Durchsetzung der neuen Steuerung, die gegen den Widerstand großer Teile der Bildungsöffentlichkeit vorangetrieben wurde.

Weiteren Aufschluss geben könnte hierbei der Unterschied zwischen der Entwicklung im Schul- und derjenigen im Hochschulsektor: Zwar verteidigte die Bildungsöffentlichkeit den gebührenfreien Besuch der allgemeinbildenden Schule wiederholt erfolgreich (Korrektur des Bildungsgesetzes zugunsten einer Sicherung des unentgeltlichen Besuchs der oberen Sekundarstufe per Präsidentendekret von 1994; Scheitern der bildungsökonomisch dominierten Reformkonzeptionen von 1997/1998 usw.). Beibehalten wurde jedoch die Regelung für das Hochschulstudium, das unentgeltlich nur auf der Grundlage eines Wettbewerbs blieb (vgl. Bildungsgesetz, Art. 5, Abs.3; 1992); Studiengebühren bilden seither den Eckstein bei der Erwirtschaftung von Eigenmitteln im Hochschulwesen. Mittlerweile weiteten sich auch im Schulbereich Zahlungen aus, und es gibt derzeit Befürchtungen, dass es zu einer dem Hochschulsektor vergleichbaren Verbreitung von Korruption kommen werde. Dies lässt – auch gegenüber dem Vorschulbereich und seinen Besonderheiten – die Frage nach den noch vorhandenen Barrieren in der Bastion Schule gegenüber Korruption akut werden.

Verbreitung von Korruption (»Normalität« oder Randerscheinung?)

Die russischen Quellen und die darin enthaltenen Zahlenangaben, auf die der Beitrag sich stützt, unterscheiden sich in ihren Schlussfolgerungen. Zudem geben sie zur derzeitigen Verbreitung von Bildungskorruption kein klares Bild; insbesondere gilt dies für die Studie der Moskauer Hochschule für Ökonomie (siehe den tabellarischer Anhang, S. 5 bis 7).

Allrussische Verbraucherschutzorganisation Dieser Quelle zufolge zieht sich Bildungskorruption »durch alle Stufen des Bildungssystems« und sei schon lange »zur Normalität geworden«. Belegt wird dies mit erheblichen Summen für die erfolgten Bestechungszahlungen (S. 2: 5,5 Mrd. US-Dollar). Hier vermisst man eine Jahreszahl [2009?], aufschlussreich wäre auch eine Bezugsgröße, z. B. die Höhe der konsolidierten Staatsausgaben für Bildung, d. h. von Föderation und Regionen. Monitoring der HSE/WschE (Higher School of Economics/Wysschaja Schkola Ekonomiki), Befragung von 2006/7: Bestechung wird nur für jede zehnte Familie angenommen. Danach (siehe auch die Tabellen im Anhang) wäre die ganz überwiegende Mehrzahl der Familien bzw. der Schüler und Studierenden nicht an »Bestechungszahlungen« (Korruption) beteiligt, nämlich fast 90 %. Eine Ausnahme dürfte allenfalls der Vorschulbereich bilden, vgl. S. 4, S. 5f.

Ausdrücklich erwähnt der Autor die grundsätzlich bestehende Unsicherheit bei Befragungen zum Gegenstand von Korruption: Bei den quantitativen Angaben handele es sich um »indirekte Schätzungen«. Darüber hinaus dürfte aber auch die jeweilige Interessenkonstellation der beiden Institutionen in ihre Aussagen eingegangen sein. Die Verbraucherschutzorganisation steht dem Innenministerium nahe (vgl. S. 2), zu dessen zentralen Aufgaben die Korruptionsbekämpfung gehört. Vor diesem Hintergrund lässt sich fragen, ob die Feststellung von »Korruption als Normalität« die tatsächliche Situation widerspiegeln oder auf die wahrgenommene (»gefühlte«) Korruption abzielen soll; denkbar wäre, dass das Problembewusstsein der Öffentlichkeit für Bestechung geschärft werden soll (für die Unterscheidung zwischen existence und perception of corruption siehe z. B. Stephen Heyneman unter Verweis auf Transparency International).

Die WSchE hingegen nimmt seit 1999 zentrale Funktionen in der bildungsökonomischen Beratung der Regierung wahr, im Mittelpunkt stehen dabei die Umsetzung der neuen Steuerung und die Entwicklung des zugehörigen Instrumentariums. Die Wirtschaftshochschule propagiert seither, die Bildungsnutzer an den Bildungskosten zu beteiligen sowie die von den BE selbst erwirtschafteten Mittel »aus dem Schatten« zu ziehen, d. h. die rechtlich ungeklärte, intransparente und damit für Korruption anfällige Situation zu überwinden.

Diese Zielsetzung prägt auch die Studie, auf die sich Eduard Klein stützt: Der darin genannte Anteil von nur zehn Prozent der an Bestechung beteiligten Familien dürfte einen – zumindest begrenzten – Erfolg bei der Eindämmung von Korruption ausweisen. Darüber hinaus werden jedoch neben »formellen« (u. a. Schulmaterialien) die inzwischen auf allen Stufen des Bildungssystems eingeführten »informellen« Zahlungsverpflichtungen als gesonderte Posten aufgelistet (Gelder für »Klassenfonds«, Schulfeste, Reparaturen oder Sicherheitsdienste). Diese gehen nicht in die Kategorie der »Bestechungszahlungen« (wsjatki) ein.. Wie der Autor ausführt, sind sie – bei vermutlich fließenden Übergängen – mittlerweile jedoch zunehmend mit Korruption verbunden, d. h. mit »Missbrauch anvertrauter Macht zum privaten Vorteil bzw. zum Vorteil der Institution« (so die Definition, S. 2). Würde dies nicht den Umfang der Korruptionsbeteiligung deutlich erhöhen?

Aspekte der Problemlösung und der spezifische Kontext von Bildungskorruption in Russland

In seinem Ausblick nennt der Autor eine stichhaltige Reihe von Schritten zur Überwindung der Bildungskorruption in Russland, so die Abschaffung selektiver Sanktionen, »Sensibilisierung« der an Korruption Beteiligten, Förderung des »Unrechtsbewusstseins« (S. 4).

Welche Rahmenbedingungen sind aber in die Betrachtung einzubeziehen, wenn man diese Maßnahmen mit dem spezifischen Kontext von Korruption und ihrer Bekämpfung in Russland konfrontiert? Viele der erwähnten informellen Zahlungsanlässe (siehe oben), die lt. Text in Verbindung mit Korruption stehen, sind schließlich auch in »westlichen« Ländern verbreitet, ohne dass damit ein illegitimer Vorteil für den Bildungsnutzer verbunden ist. Hinzuweisen wäre im Falle Russlands auf die historischen und daraus folgenden »mentalen« Besonderheiten wie das besondere Verhältnis von privatem zu öffentlichem/staatlichem Eigentum, Fragen der Rechtsstaatlichkeit, des Amtsmissbrauchs sowie der Bedeutung informeller Netzwerke und die Tradition der Mangelwirtschaft.

Mit Blick auf die neue Steuerung könnte schließlich die in Russland gewählte, vergleichsweise radikale Übertragung von Mustern markt- und privatwirtschaftlichen Handelns auf das Bildungswesen der Ausweitung von Korruption weiteren Vorschub leisten. Angesichts dieser Perspektive dürfte die Entwicklung an einem Scheidepunkt stehen. Noch gibt es nämlich ein Bewusstsein der Besonderheiten des Bildungswesens im Vergleich zu anderen öffentlichen Sektoren und gesellschaftlichen Bereichen: Zu nennen wäre etwa das zum Mythos gewordene traditionelle Lehrerethos (»Liebe zu den Kindern«), insbesondere aber die Wertschätzung von Bildung und Wissen sowie Bildungsgerechtigkeit, verstanden als ein unverzichtbares gesellschaftliches und damit öffentliches Gut. Die Fürsprecher vergleichbarer Wertvorstellungen – aus dem Bildungsalltag wie auch aus der weiteren Bildungsöffentlichkeit – melden sich weiterhin zu Wort.

Ergänzende Anmerkungen zu einzelnen Aussagen

Zielsetzungen des EGE

Das seit 2001 schrittweise erprobte EGE verfolgt nicht allein und auch nicht vorrangig das Ziel, die Korruption zu bekämpfen. Es stellt einen zentralen Pfeiler in der Konzeption der Bildungssteuerung dar, zu deren Zielen die Sicherung eines »einheitlichen Bildungsraums« im Land gehört. Weitere Zielsetzungen sind der geplante Übergang zu einheitlichen staatlichen Bildungsstandards auch im Schulwesen, die Verlagerung der Selektion für den Hochschulzugang in den schulischen Bereich, regionale Flexibilisierung bei den Hochschulbewerbungen durch Mehrfachbewerbung, schließlich die Qualitätsmessung einzelner BE vor Ort bis hin zu umfassenden Systemevaluierungen.

Zur aktuellen finanziellen Situation der Beteiligten im Bildungswesen

Die individuellen Einkünfte haben sich im Hochschulwesen schon seit längerem erheblich verbessert (anders S. 4). Die Situation ist jedoch sehr differenziert und abhängig vom jeweiligen Hochschultyp (Föderale, Nationale oder »gewöhnliche« Universität bzw. Hochschule), von der Region (Moskau!) sowie der jeweiligen Fachrichtung und den entsprechenden individuellen Zuverdienstmöglichkeiten. Auf einem sehr niedrigen, zwischen den Regionen stark differenzierten Niveau befinden sich allerdings die Lehrergehälter. Besonders ungünstig ist die Situation in Landschulen, die zudem zuerst von dem bevorstehenden, demografisch bedingten Prozess der Schließung von BE erreicht wurden.

Aus russischen Quellen wird schließlich deutlich, dass nicht nur die »finanzstarken Eliten« (S. 2), sondern Familien aus der inzwischen breiter gewordenen Mittelschicht erhebliche finanzielle Opfer (einschließlich einer zeitweiligen, meist informellen Verschuldung) für »Bildungsdienstleistungen« auf sich nehmen, allerdings in erschwinglicher und nicht in extremer Höhe wie bei den genannten »Eliten«.

Für sämtliche Angaben statistischer Durchschnittswerte in diesem Bereich gilt im Übrigen, dass die Streuung erheblich sein kann. Die Schere bei den privaten Einkünften ist zwischen, aber auch innerhalb der Regionen groß und dürfte weiterhin anwachsen.

Engpässe bei der Schulaufnahme

Der Mangel an Plätzen hat, insbesondere in Großstädten, nach den Kindergärten mittlerweile die ersten Klassen erreicht (Meldungen aus 2008; Moskau). Offiziell wurde das bestehende Verbot von Aufnahmeprüfungen zwar bekräftigt (Moskau), einzelne Schulen gingen jedoch zu informellen Aufnahmetests über, von denen die Eltern ausgeschlossen blieben. Auch hierbei dürfte es zu Schmiergeldzahlungen gekommen sein.

Sektoren des Bildungssystems: Terminologie

Die Primarstufe der allgemeinbildenden Schule, d. h. die natschalnaja schkola, bildet ebenso wie die deutsche Grundschule (beide umfassen die Klassen 1 bis 4) den Primarbereich. Sie gehört nicht zum sekundären Bildungsbereich, der die weiterführenden Schulen (»Sekundarschule«) umfasst; anders im Text, S. 3). Die entsprechende Bezeichnung für den vorschulischen Bereich ist »Elementarbildung«.

Fazit

Insgesamt hätte ich es begrüßt, wenn der Beitrag mehr Hintergrundwissen für den Leser enthalten hätte. Hierzu gehört aus meiner Sicht auch, bei verallgemeinernden Aussagen die große Differenziertheit der jeweiligen Entwicklungen einzubeziehen, die für ein Land wie Russland kennzeichnend ist. Bei quantitativ argumentierenden Analysen ist schließlich die Gefahr groß, dass – trotz entsprechender einschränkender Bemerkungen des Autors – Zahlenangaben von Außenstehenden tendenziell für bare Münze genommen werden.

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