Der zweite JUKOS-Strafprozess gegen Michail Chodorkowskij und Platon Lebedew

Von Otto Luchterhandt (Universität Hamburg)

Zusammenfassung
Am 30. Dezember 2010 endete mit der vollständigen Urteilsverkündung der zweite Strafprozess gegen Michail Chodorkowskij und Platon Lebedew vor dem Gericht des Moskauer Stadtbezirks Chamowniki, unweit des Kiewer Bahnhofs. Richter Viktor Danilkin hatte die Verkündung am 27.12. mit dem Schuldausspruch begonnen. Er schloss die Verlesung des 689 Seiten umfassenden Urteils am 30. mit der Verkündung der Strafen ab. Die Angeklagten wurden – unter Berücksichtigung ihrer noch nicht abgebüßten Reststrafen aus dem ersten Strafprozess von 2005 – jeweils zu 14 Jahren Freiheitsentzug verurteilt, zu verbüßen in Besserungskolonien des allgemeinen Vollzuges.

Das Urteil

Am 30. Dezember 2010 endete mit der vollständigen Urteilsverkündung der zweite Strafprozess gegen Michail Chodorkowskij und Platon Lebedew vor dem Gericht des Moskauer Stadtbezirks Chamowniki, unweit des Kiewer Bahnhofs. Richter Viktor Danilkin hatte die Verkündung am 27.12. mit dem Schuldausspruch begonnen. Er schloss die Verlesung des 689 Seiten umfassenden Urteils am 30. mit der Verkündung der Strafen ab. Die Angeklagten wurden – unter Berücksichtigung ihrer noch nicht abgebüßten Reststrafen aus dem ersten Strafprozess von 2005 – jeweils zu 14 Jahren Freiheitsentzug verurteilt, zu verbüßen in Besserungskolonien des allgemeinen Vollzuges. Beide wurden folgender Taten für schuldig befunden:

hätten die Angeklagten Unterschlagung und Veruntreuung in schweren Fällen begangen, d. h. in großem Umfang, unter Ausnutzung ihrer dienstlichen Stellung und als organisierte Gruppe fremdes, ihnen anvertrautes Vermögen, nämlich »Erdöl«, entwendet und sich dadurch angeeignet (Art. 160 Abs. 3 lit. a. und lit. b. [in der Fassung vom 13.6. 1996] und Art. 160 Abs. 4 [in der Fassung vom 8.12. 2003] StGB Russlands (RF), und hätten sie das »auf kriminellem Wege« (prestupnym putjom) erlangte Erdöl mit Hilfe von diversen Finanzoperationen und sonstigen Rechtsgeschäften »legalisiert« und dadurch den Straftatbestand der »Geldwäsche«, ebenfalls in schweren Fällen, erfüllt (Art. 174 Abs. 3 und Abs. 4 StGB RF [in der Fassung von 1996], Art. 1741 Abs. 4 StGB RF [in der Fassung von 2003]).

Das Gericht folgte damit im Wesentlichen den Anträgen der Staatsanwaltschaft.

Es ist offensichtlich, dass die Bestrafung wegen Geldwäsche davon abhängt, ob die Angeklagten das Erdöl tatsächlich durch Unterschlagung (Art. 160 StGB) erlangt haben. Erweist sich der Vorwurf als unbegründet, dann bricht zwangsläufig auch der Vorwurf der Geldwäsche (Art. 174, 1741 StGB) in sich zusammen. Die folgende Auseinandersetzung mit dem Urteil konzentriert sich deswegen auf die Frage, ob die Angeklagten tatsächlich ihnen anvertrautes Erdöl entwendet haben. Zuvor ist wenigstens knapp darzustellen, worum es in dem zweiten Strafprozess ging.

Der Sachverhalt im Überblick

Dem Urteil liegen Sachverhalte zugrunde, die bis in die 1990er Jahre zurückreichen. Sie werden hier primär aus der Sicht des Gerichts, aber natürlich – anders als im Urteil – unter Verzicht auf die bereits verurteilende Imprägnierung der Sprache referiert.

1995/1996 hatten Michail Chodorkowskij, Platon Lebedew und »andere Glieder der organisierten Gruppe« mit Hilfe der von ihnen beherrschten Geschäftsbank »MENATEP« und durch von ihr kontrollierte Gesellschaften 33 % des Aktienkapitals des im Eigentum Russlands befindlichen Erdölunternehmens JUKOS ersteigert und alsbald über geschäftliche Manipulationen ca. 90 % des JUKOS-Aktienkapitals erworben. Kraft dieser beherrschenden Stellung hatten sie das Unternehmen dann zielstrebig zu einem hierarchisch strukturierten Konzern, bestehend aus der Offenen Aktiengesellschaft (OAO) NK JUKOS als Muttergesellschaft und diversen, verschachtelten Tochtergesellschaften, umgestaltet. Der Erdölkonzern wurde von Chodorkowskij in Verbindung vor allem mit Lebedew über eine in Gibraltar eingetragene Holding, die »Group MENATEP Ltd«, und weitere Off-Shore-Gesellschaften gesteuert. Mehrheitsaktionär des Konzerns war Chodorkowskij. Außerdem bekleideten Chodorkowskij und Lebedew Spitzenpositionen in den Führungsorganen des Konzerns und nahmen infolgedessen nicht nur als Großaktionäre maßgebende Managementfunktionen wahr.

Zu den JUKOS-Tochterunternehmen zählten auch die Erdölfördergesellschaften OAO Jugansneftegaz, OAO Samaraneftegaz und OAO Tomskneft VHK. Tomskneft war zunächst eine von zahlreichen Tochtergesellschaften der in Staatseigentum befindlichen »Wostotschno-Sibirskaja Neftjannaja Kompanija« (WNK) gewesen, 1997/1998 im Zuge der Privatisierung der WNK aber ebenfalls von OAO NK JUKOS übernommen worden.

Ende Juli 1996 schloss die OAO NK JUKOS mit den Erdölfördergesellschaften OAO Jugansneftegaz und OAO Samaraneftegaz, im Oktober 1998 auch mit OAO Tomskneft WNK gleichlautende »Generalvereinbarungen« (generalnye soglaschenija) ab. Darin verpflichteten sich die Vertragsparteien dazu, die notwendigen organisatorischen Bedingungen dafür zu schaffen, dass das Erdöl durch den Abschluss von Kaufverträgen zwischen den Partnern »realisiert« werden könne. Ferner wurde bestimmt, dass das Eigentumsrecht an dem von den Gesellschaften zu Tage geförderten Produkt auf die OAO »NK JUKOS« übergehen solle, und zwar an jedem konkreten Bohrloch (skwaschinna) der Förderanlagen unmittelbar nach Austritt aus der Öffnung. Das Produkt wurde in der Vereinbarung als »Bohrlochflüssigkeit« (skwaschinnaja schidkost) bezeichnet. Sie ist selbst noch kein Erdöl, sondern ein Gemisch, das zu ca. 70 % aus Wasser, Salz und sonstigen Stoffen und nur zu ca. 30 % aus Erdöl besteht. Von der Bohrlochflüssigkeit ist daher »Erdöl mit Warenqualität« (towarnaja neft) zu unterscheiden. Es musste den schon zu UdSSR-Zeiten festgelegten Qualitätsstandards für Erdöl (»GOST-Neft«) entsprechen und ist folglich das Ergebnis einer Aufbereitung, die erheblichen Einsatz technischer Mittel verlangt. Sie lag in den Händen der Fördergesellschaften.

Die Generalvereinbarungen waren Rahmenverträge zwischen der Konzernmutter – OAO »NK JUKOS« – und den drei erdölfördernden Tochtergesellschaften. Sie verfolgten das Ziel und schufen zugleich die Voraussetzung dafür, die Erdölrealisierung von der Förderung bis zur Veräußerung an die Abnehmer im In- und Ausland möglichst rationell sowie kosten- und steuersparend, also gewinnmaximierend, zu organisieren und abzuwickeln. Dementsprechend wurden die rechtlichen und administrativen Abläufe des Erdölgeschäfts im vertikal integrierten JUKOS-Konzern geordnet: Im Rahmen der Generalvereinbarung wurden zwischen den Vertragsparteien (Mutter- und jeweilige Tochtergesellschaft) regelmäßig Kaufverträge über die Lieferung bestimmter Mengen von Erdöl abgeschlossen. Der Aufkaufpreis wurde, auch das war Teil der Generalvereinbarung, von der Konzernmutter bestimmt. Seine Höhe schwankte: er bewegte sich im prozessrelevanten Zeitraum, also zwischen 1998 und 2003, durchschnittlich zwischen 20 % und 33 % des Weltmarktpreises.

Das Erdöl wurde entsprechend den GOST-Bestimmungen mit Warenqualität von den Fördergesellschaften jeweils in das Pipelinenetz von »Transneft« eingeleitet, ein Unternehmen, das im Eigentum der Russischen Föderation steht, das Monopol am Öl- und Gasleitungssystem des Landes hält und der föderalen Regierung bzw. dem Energieministerium (»MinEnergo«) untersteht. Die Einleitung des Erdöls geschah (und geschieht) an Mess- und Kontrollstellen des Transneft-Netzes (usel utscheta). Einleitendes Unternehmen und eingeleitete Menge wurden dort sorgfältig vermerkt. Ebenso genau führt(e) darüber Buch die »Zentralverwaltung für die Verteilung im Wärme- und Energiekomplex« von MinEnergo.

Das weitere »Schicksal«, das dem Erdöl innerhalb des Konzerns in rechtlicher Hinsicht zuteil wurde, war von Chodorkowskijs und Lebedews Strategie der Steuerminimierung bestimmt: das Erdöl wurde an diverse Tochtergesellschaften veräußert, die ihren Firmensitz in sog. Geschlossenen Territorialen Verwaltungseinheiten (Sakrytye Administratiwnye Territorialnye Obrasowanija – SATO) hatten. Es handelte sich um Städte, die zur Sowjetzeit wegen der dort betriebenen meist militärischen Forschungen und Versuche höchsten Geheimhaltungsstatus hatten und auf keiner Landkarte verzeichnet waren, nun aber ihren Status verloren und der Öffentlichkeit zugänglich waren. Um ihnen die Integration in marktwirtschaftliche Verhältnisse zu erleichtern und um Unternehmen einen Anreiz zu geben, sich dort niederzulassen, hatte der Gesetzgeber den SATO beträchtliche Steuervergünstigungen eingeräumt,. OAO »NK JUKOS« erkannte die in den »Steueroasen« liegende Chance und gründete dort eine Reihe von Ölhandelsgesellschaften als Tochterunternehmen, die von den zuständigen SATO-Behörden, nach Zustimmung auch des föderalen Finanzministeriums, registriert wurden. Die für JUKOS günstige Rechtslage der SATO wurde erst Ende 2003, nach der Verhaftung Lebedews und Chodorkowskijs, geändert.

Konzernintern wurden Kauf und Weiterverkauf des Erdöls zunächst von der Muttergesellschaft, ab 2000 von einer speziell für die Verwaltung der Ölfördergesellschaften zuständigen Tochtergesellschaft, der SAO »JUKOS RM«, gesteuert. Sie hatten auch die Kaufverträge über das Erdöl mit den Fördergesellschaften abgeschlossen.

Von 1998–2000 sind von den drei Fördergesellschaften nach Feststellung des Urteils 147.189.184.248 Tonnen Erdöl, von 2001–2003 ca. 200.385.116 Tonnen geliefert worden, insgesamt also ca. 347,5 Mio. Tonnen Erdöl. Das war die gesamte vom JUKOS-Konzern realisierte Erdölproduktion, und in demselben Umfange sollen Chodorkowskij und Lebedew den Tochtergesellschaften das Erdöl »entwendet« haben!

Zur Kritik: das Urteil – ein Dokument des Rechtsnihilismus

Das Urteil ist zutiefst ungerecht. Es verstößt erstens massiv gegen justizielle Grundprinzipien des Rechtstaates (Art. 1 Verfassung Russlands). Zweitens ist es auch deswegen krass rechtswidrig, weil es die Angeklagten wegen Straftaten verurteilt, die sie nicht begangen haben und deren Tatbestandsvoraussetzungen, schon nach den eigenen Feststellungen des Gerichts, offensichtlich nicht erfüllt sind. Insgesamt zeichnen sich Prozessverlauf und Urteil durch ein erschreckendes Ausmaß von Missachtung nahezu sämtlicher Grundsätze eines fair trial aus.

Verstoß gegen das rechtsstaatliche Verbot »ne bis in idem«

Der geschilderte Sachverhalt ist wesentliche Grundlage der zweiten Verurteilung Chodorkowskijs und Lebedews. Vergleicht man ihn mit dem Sachverhalt, welcher der Anklageschrift und dem Strafurteil des Meschtschanskij-Rayongerichts von 2005 zugrundeliegt, dann springt die Übereinstimmung ins Auge: es ging damals um dieselben Angeklagten, um die Rolle, die sie bei der Realisierung des von den JUKOS-Tochtergesellschaften geförderten Erdöls gespielt hatten, und darüber hinaus um die strafrechtliche Bewertung der Abläufe im vertikal strukturierten JUKOS-Konzern insgesamt. Der Lebenssachverhalt, der jetzt von den Ermittlungsbeamten der Staatsanwaltschaft untersucht wurde und den Inhalt der Anklageschrift sowie die Grundlage der Verurteilung Chodorkowskijs und Lebedews wegen der Straftat des Art. 160 StGB bildet, ist in vollem Umfang auch Gegenstand des ersten Prozesses und Strafurteils von 2005 gewesen.

Das ruft unweigerlich den klassischen Grundsatz des Rechtsstaates »Niemand darf zweimal wegen derselben Tat bestraft werden (ne bis in idem)« in Erinnerung! Er steht auch in der Verfassung Russlands (Art. 50 Abs. 1) und in Art. 6 Abs. 2 des Strafgesetzbuches: »Niemand darf für ein und dasselbe Verbrechen zweimal strafrechtlich zur Verantwortung gezogen werden.« Das Urteil ist unbegründet: Die Verurteilten haben keine Unterschlagung begangen.

Der Verurteilung Chodorkowskijs und Lebedews stand nicht nur der Verfassungsgrundsatz »ne bis in idem« entgegen, sondern sie war auch deswegen unzulässig, weil das Erdöl gar nicht entwendet worden war, und zwar weder von ihnen noch von anderen Personen. Infolgedessen ist der Straftatbestand der Unterschlagung bzw. Veruntreuung im Sinne von Art. 160 StGB RF, der die Grundlage der Verurteilung bildet, gar nicht erfüllt!

Kein Diebstahl

Vorweg ist zu bemerken, dass nach den Feststellungen des Gerichts der Strafvorwurf des Diebstahls (russ.: krascha, Art. 158 StGB RF) nicht in Betracht kam, denn Chodorkowskij und Lebedew hätten das Erdöl nicht für sich in eigene Kanäle abgezweigt haben können; das wäre aus technischen Gründen, wegen der nicht zu umgehenden Realisierung des Erdöls über den Staatsmonopolisten »Transneft«, also schon rein physisch, gar nicht möglich gewesen. Außerdem hätte das Gericht die Abzweigung des Erdöls dann als »Diebstahl« qualifizieren müssen. Es hat die Angeklagten aber wegen Unterschlagung und Veruntreuung verurteilt (Art. 160).

Kein fremdes, anvertrautes, vielmehr übereignetes Vermögen

Die Verurteilung und Bestrafung wegen Unterschlagung war ungerechtfertigt, weil die Erdölfördergesellschaften OAO Jugansneftegaz, OAO Samaraneftegaz und OAO Tomskneft WNK das Erdöl Chodorkowskij und Lebedew nicht »anvertraut« haben. Hätte man ihnen das Erdöl anvertraut, dann wäre ihnen nur das Besitzrecht am Erdöl übertragen worden. Die Fördergesellschaften haben das Erdöl jedoch an JUKOS verkauft, es also übereignet. Die Übertragung des Eigentums am Erdöl schließt die Merkmale »fremdes Vermögen« und »anvertraut« im Tatbestand des Art. 160 StGB RF aber definitiv aus: entweder nur Besitz oder (volles) Eigentum!

Das Urteil nennt Generalvereinbarungen und Kaufverträge nicht nur rechtswidrig, sondern wiederholt auch »fiktiv« und scheint damit ihre Nichtigkeit als Scheingeschäfte anzudeuten. Es bezieht sich aber an keiner Stelle auf den einschlägigen Art. 170 ZGB RF und liefert auch keine tragfähige Begründung für eine Fiktivität. Das möge die folgende, vom Urteil stereotyp wiederholte Passage illustrieren: »Die betreffenden Verträge hatten fiktiven Charakter, weil sie wissentlich falsche Angaben darüber enthielten, dass als Käufer des Erdöls die OAO ›NK JUKOS‹ auftrete. Dabei war Chodorkowskij, M. B., Lebedew, P. L. und ihren Komplizen bestens bekannt, dass die OAO ›NK JUKOS‹ faktisch (sic!) nicht der Käufer des Erdöls war, sondern die Produktion von den Erdöl fördernden Unternehmen unmittelbar an die russischen und ausländischen Verbraucher geliefert wurde. Außerdem waren die Angaben in den Verträgen darüber, dass die Partner Einigkeit über den Preis des Erdöls erzielt hätten, bewusst falsch. Faktisch gab es eine solche Vereinbarung nicht, sondern der Preis für das Erdöl wurde von den Teilnehmern der von Chodorkowskij, M. B., Lebedew, P. L. und anderen Gliedern geführten organisierten Gruppe ohne irgendeine wirtschaftliche Notwendigkeit mit Vorbedacht gegenüber dem realen Marktpreis um ein Mehrfaches herabgesetzt.«

Die Passage des Urteils widerlegt die Behauptung der »Fiktion«. Denn sie bestätigt, dass die Muttergesellschaft NK JUKOS Vertragspartnerin der Fördergesellschaften und damit Käuferin des Erdöls im Sinne von Art. 459 ff. ZGB RF war und dass ein Kaufpreis vereinbart war, der deutlich unter dem Marktpreis für Erdöl lag.

Letztlich vermeidet das Gericht es, definitiv von »Scheinverträgen« zu sprechen. Es meint vielmehr, sie verstießen gegen Art. 179 ZGB RF. Er gibt einer Vertragspartei das Recht, einen Vertrag anzufechten, wenn sie durch Arglist dazu veranlasst wurde, in für sich äußerst nachteilige Vertragsbedingungen einzuwilligen. Selbst ein solcher »Knebelungsvertrag« (kabalnaja sdelka) ist aber nicht schon kraft Gesetzes unwirksam, sondern bedarf der Aufhebung durch Gericht (Abs. 1). Da entsprechende Entscheidungen nicht vorliegen, sind die Generalvereinbarungen und Kaufverträge gültig.

Die im Urteil aufgestellte Behauptung, die Erdölförder- bzw. Tochtergesellschaften des JUKOS-Konzerns seien Eigentümerinnen des Erdöls geblieben, wird folglich durch das Urteil selbst widerlegt, denn die vom Gericht ins Feld geführten Rechtsvorschriften begründen das Gegenteil: weder nach dem Aktiengesetz (Art. 83, 84) noch nach dem Zivilgesetzbuch (Art. 179) sind die Kaufverträge, selbst wenn sie rechtwidrig gewesen sein sollten, nichtig, sondern bis zu ihrer Aufhebung durch das dafür zuständige Wirtschaftsgericht in vollem Umfange wirksam, und da die Fristen für ihre Anfechtung sogar schon zur Zeit des ersten Strafprozesses abgelaufen waren, blieben sie gültig. Das Chamowniki-Gericht durfte die Kaufverträge wegen dieses auch von ihm zu beachtenden juristischen Faktums nicht als ungültig behandeln.

Zu dieser Einschätzung der Rechtslage war bereits das Gericht des Meschstchanskij Rayons der Stadt Moskau im ersten Strafurteil gegen Chodorkowskij und Lebedew 2005 gelangt, und die Wirtschaftsgerichte hatten seine Position davor und danach in zahlreichen Entscheidungen geteilt. Nur deswegen hatten die beiden Angeklagten im ersten Prozess überhaupt wegen Steuerhinterziehung verurteilt werden können.

Das Chamowniki-Gericht hat im Ergebnis gleichwohl, wie sich in der weiteren Analyse des Urteils im Einzelnen zeigen wird, einen Eigentumswechsel des Erdöls von den JUKOS-Tochter- bzw. Fördergesellschaften auf die Muttergesellschaft OAO »NK JUKOS« verneint, um eine Verurteilung der beiden Angeklagten, nun wegen Unterschlagung des Erdöls als fremdes Eigentum, begründen und rechtfertigen zu können. Das hatte und hat allerdings den hohen Preis, dass sich die beiden Strafurteile im Kern widersprechen und sich daher wechselseitig ausschließen: hat das Meschtschanskij-Gericht Recht, dann hat das Chamowniki-Gericht zwangsläufig Unrecht und umgekehrt. Man darf daher gespannt sein, wie das Stadtgericht Moskau als Kassationsinstanz mit diesem Widerspruch umgehen wird, nachdem die Anwälte der Verurteilten Kassationsbeschwerden eingelegt haben. In seiner Kassationsentscheidung zum ersten Strafprozess hatte es das Urteil des Meschtschanskij-Gerichts bestätigt. Von politischer Seite wird das Stadtgericht massiv gedrängt werden, auch das konträre Urteil des Chamowniki-Gerichts abzusegnen. Gäbe es dem politischen Druck nach, würde es sich selbst ein öffentliches Zeugnis »juristischer Schizophrenie« ausstellen, kurz: das Moskauer Stadtgericht befindet sich in der Klemme. Seine Lage könnte dadurch noch unangenehmer werden, dass Präsident Medwedew am 1. Februar 2011 den »beim Präsidenten« bestehenden »Rat für die Entwicklung der Zivilgesellschaft und der Menschenrechte« beauftragt hat, im Zusammenhang mit dem zweiten Strafprozess gegen Chodorkowskij und Lebedew sichtbar gewordene Probleme und Schwächen der Justiz zu untersuchen.

Widerspruch des Strafurteils zur Rechtsprechung der Wirtschaftsgerichte und zu Russlands Rechtsstandpunkt im EGMR-Verfahren NK JUKOS/Russland

Seinem krass rechtswidrigen Vorgehen hat Richter Danilkin dadurch die Krone aufgesetzt, dass er in seinem Urteil die seit 2004 ergangenen Entscheidungen von über 60 (!!) Wirtschaftsgerichten (!) Russlands, die die Kaufverträge für wirksam angesehen und die OAO »NK JUKOS« dementsprechend als Eigentümerin des Erdöls behandelt haben, für irrelevant erklärt!

Richter Danilkin hat Russland mit seinem Urteil außerdem noch um einen Treppenwitz bereichert, denn das Chamowniki-Gericht setzt sich nicht nur in Widerspruch zu den Entscheidungen der Wirtschaftsgerichte, sondern auch zu dem offiziellen Standpunkt, den Russland in dem seit 2004 gegen sich laufenden Beschwerdeverfahren der OAO »NK JUKOS« vor dem Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) einnimmt. Dort verteidigt sich Russland gegen den Vorwurf, seine Behörden und Justiz hätten mit Hilfe ungerechtfertigter Steuerforderungen und einem manipulierten Insolvenzverfahren JUKOS zerschlagen und auf kaltem Wege verstaatlicht, damit, dass die Steuernachforderungen auf das von JUKOS als Eigentümerin realisierte Erdöl rechtens gewesen seien!

Abschließende Bewertung

Das Urteil des Chamowniki-Gerichts hat zu Recht weltweit scharfe Kritik, Ablehnung und Verurteilung erfahren. Schon eine nur kurze Analyse wie diese zeigt eine erschreckende Fülle schwerer und schwerster Verletzungen tragender, von der Verfassung Russlands feierlich verkündeter Grundsätze des Strafrechts und des Rechtsstaates. Das zweite Strafurteil gegen Chodorkowskij und Lebedew übertrifft das erste bei weitem an Widersprüchlichkeit, Willkür und Bösartigkeit. Es ist ein weiteres, bestürzendes Dokument von Rechtsnihilismus und auch von Zynismus der russischen Justiz, weil es den willkürlichen Umgang mit dem Gesetz und die böswillige Verdrehung des Rechts kaum noch verschleiert.

Lesetipps / Bibliographie

  • Eine ausführliche Analyse des Chodorkowskij-Prozesses durch Professor Luchterhandt wird im April oder Mai in der Zeitschrift »Osteuropa« erscheinen.

Zum Weiterlesen

Artikel

Der Umbau der polnischen Justiz

Von Marta Bucholc, Maciej Komornik
Die seit Ende 2015 in Polen amtierende nationalkonservative Regierungspartei PiS hat faktisch die Gewaltenteilung aufgehoben. Mit einer Welle neuer Gesetze hat sie erst das Verfassungsgericht ausgeschaltet und dann wider die Verfassung nahezu die gesamte Justiz unter die Kontrolle der Exekutive gestellt. Sie hat die Institutionen des Rechtsstaats diskreditiert, ihr nicht genehme Richter aller Instanzen und Gerichtszweige als Mitglieder eines post-kommunistischen Klüngels diffamiert und auf der Basis der neuen Gesetze die Unfolgsamen entlassen. Bei der Berufung der Nachfolger spielt die Regierungspartei erstmals seit 1989 wieder eine zentrale Rolle. Ganz im Sinne der Ideologie der PiS ist an die Stelle pluralistischer Machtverteilung ein starker Staat getreten, der vorgibt, im Namen des Volks zu handeln.
Zum Artikel auf zeitschrift-osteuropa.de

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