Polnische Hilfe für ukrainische Geflüchtete nach dem 24. Februar 2022

Von Renata Mieńkowska-Norkiene

Zusammenfassung
Seit dem 24. Februar 2022, als Russland seinen Angriffskrieg gegen die Ukraine begann, überquerten mehr als sieben Millionen Ukrainer – mehrheitlich Frauen und Kinder – die polnische Grenze. Bisher kehrten fünf Millionen in die Ukraine zurück. Daten des Polnischen Entwicklungsfonds (Polski Fundusz Rozwoju) zufolge halten sich in Polen aktuell knapp eineinhalb Millionen Geflüchtete aus der Ukraine auf, 93 Prozent sind Frauen und Kinder. Die Hälfte sind Menschen im erwerbsfähigen Alter, von denen 65 Prozent arbeiten. Gründe dafür, dass die größte Gruppe der ukrainischen Geflüchteten gerade in Polen Schutz fand, sind die geografische Nähe und die Ähnlichkeit der Sprache und Kultur. Ein weiterer Grund ist die Offenheit der Polen, die in einem bisher nicht gekannten Ausmaß aktiv wurden, um den östlichen Nachbarn zu helfen – und das trotz der gegen Geflüchtete gerichteten Regierungsnarration, die seit einigen Jahren allgegenwärtig ist, der fehlenden Vorbereitung der polnischen Gesellschaft auf eine so große Flüchtlingswelle sowie mangelnder realer Unterstützung vonseiten der Zentralregierung für die kommunale Selbstverwaltung, Hilfsorganisationen und Privatpersonen, welche die Flüchtlinge in den ersten Kriegswochen unterstützten. Schließlich brachte die Zentralregierung Flüchtlingshilfen in Form von Sondergesetzen auf den Weg, welche die Geflüchteten mit den polnischen Bürgern rechtlich de facto gleichstellten. Im Ergebnis verbesserten die Hilfsmaßnahmen für Flüchtlinge aus der Ukraine für eine gewisse Zeit das Ansehen Polens im Ausland (insbesondere in den westlichen Staaten), das aufgrund des Konfliktes mit der EU und den die Demokratie abbauenden Entwicklungen stark angekratzt war. Allerdings ist bereits deutlich geworden, dass die polnische Regierung, verhaftet in ihrer eigenen gegen die EU gerichteten Narration, nicht im Stande war, dies zu nutzen.

Der politische und gesellschaftliche Kontext des Zustroms von Flüchtlingen aus der Ukraine nach Polen

Seit 1989 hat es keine polnische Regierung für notwendig befunden, eine verbindliche Immigrationsstrategie zu bestimmen, obwohl wir es seitdem mit mehreren wesentlichen Immigrations- und Flüchtlingswellen in Polen zu tun hatten. Dabei muss deutlich zwischen Immigranten, die v. a. aus der Ukraine, Belarus, aber auch z. B. Vietnam nach Polen kamen (verschiedenen Schätzungen zufolge eine Million Personen), und Flüchtlingen, deren Zahl einige Hundert im Jahr nicht überstieg, unterschieden werden. Das Fehlen einer solchen Strategie war sicherlich der Tatsache geschuldet, dass Polen eines der EU-Mitgliedsländer mit einer sehr niedrigen Zahl von Immigranten und einer der homogensten Gesellschaften war. Zweifellos war die Migrationsfrage im Jahr 2015 von großer Bedeutung, als Polen während der sog. Flüchtlingskrise in der Europäischen Union im Rahmen des Verteilungssystems (relocation) 7.000 Flüchtlinge aus den Staaten des Nahen Ostens und Nordafrikas aufnehmen sollte. Dem Parteienbündnis der Vereinigten Rechten (Zjednoczona Prawica) mit Recht und Gerechtigkeit (Prawo i Sprawiedliwość – PiS) an der Spitze verhalf seine gegen Immigranten und Geflüchtete gerichtete Narration 2015 zum Wahlsieg. Seitdem bedient sich diese Koalition gern bei jeder Gelegenheit dieser Rhetorik und zählt auf politischen Gewinn. Seit der Übernahme der Regierungsverantwortung der PiS stieg die Ablehnung gegenüber Immigranten und Flüchtlingen in Polen deutlich um mehrere Prozentpunkte (2017 erreichte sie den höchsten Stand in der neuesten Geschichte Polens). Mehr noch, in der sehr proeuropäischen polnischen Gesellschaft war die Ablehnung gegenüber Geflüchteten das einzige Thema, das in einer der Umfragen mit der Zustimmung zum Polexit einherging, sollten die EU-Institutionen Polen »zwingen«, Flüchtlinge aufzunehmen. Die Krise an der polnisch-belarussischen Grenze, als 2021 Iraker und Afghanen vom Regime Alexander Lukaschenkos nach Polen »geschoben« wurden (siehePolen-Analysen Nr. 286), instrumentalisierte die polnische Regierung, um die Stimmung gegen Flüchtlinge zusätzlich zu befeuern. Das spaltete die polnische Gesellschaft bei der Frage der Behandlung von Geflüchteten noch stärker, wandte sich rhetorisch gegen die Europäische Union und gab der Regierung einen weiteren Vorwand, die kommunale Selbstverwaltung und die Zivilgesellschaft noch umfassender zu kontrollieren. Zu unterstreichen ist hier, dass die Ausländer, welche die polnisch-belarussische Grenze nach Polen übertraten, von den polnischen Behörden nicht entsprechend ihrer Grundrechte behandelt wurden und werden – nicht einmal entsprechend der Grundrechte, die in der polnischen Rechtsordnung festgelegt sind.

Darüber hinaus legten sich unterschiedliche Interpretationen der Ereignisse in Wolhynien während des Zweiten Weltkrieges [beim »Massaker in Wolhynien« töteten 1943 Angehörige der Ukrainischen Aufständischen Armee (UPA) ca. 80.000 polnische Zivilisten, Anm. d. Red.] und der Aktivitäten Stepan Banderas [ukrainischer nationalistischer Führer der UPA, wird in der Ukraine – auch in offiziellen Kreisen – als Nationalheld verehrt, während er in Polen als Nazi-Kollaborateur und Kriegsverbrecher betrachtet wird, Anm. d. Red.] wie ein Schatten auf die polnisch-ukrainischen Beziehungen vor dem russischen Angriffskrieg.

Für das Handeln der polnischen Regierung nach dem Ausbruch des russischen Angriffskrieges und seine Effizienz war auch der Konflikt mit den EU-Institutionen im Zusammenhang mit der Nicht-Einhaltung der Rechtsstaatlichkeit und der Abkehr von den europäischen Werten von Bedeutung. Die gegen die EU gerichtete Narration des polnischen Regierungslagers schwächte die Position des Landes in der Gemeinschaft und brachte Streit mit fast allen Partnern in der EU; eine Folge war die Einfrierung der Finanzmittel für den Landesaufbauplan (Krajowy Plan Odbudowy) (siehe Polen-Analysen Nr. 298). Insgesamt schwächte dies das Potential Polens gegenüber der Bedrohung vonseiten Russlands sowie es seine Möglichkeiten beschränkte, die Flüchtlingswelle aus der Ukraine aufzunehmen.

Umso mehr schienen Europa und die Welt über die außergewöhnliche Unterstützung überrascht zu sein, die Millionen Ukrainerinnen und Ukrainern seit dem 24. Februar 2022 von Polinnen und Polen zuteilwurde.

Hervorzuheben ist, dass der Angriff Russlands auf die Ukraine von vielen Polen als Angriff auf die Souveränität derjenigen Staaten verstanden wird, die ihre Unabhängigkeit infolge des Zusammenbruchs der Sowjetunion erlangt hatten, was bedeutet, dass sich eine besiegte Ukraine mit einer unmittelbaren Gefahr für Polen verknüpfen könnte. Die Polen werden also die Hilfe für die Ukrainer auch als »Investition« in die eigene Sicherheit verstehen und nicht ausschließlich als humanitären Reflex. Untersuchungen der Universität Warschau (Uniwersytet Warszawski) ergeben, dass 70 Prozent der Polen wegen des Kriegsausbruchs beunruhigt waren, was sich auch als Zukunftsangst niederschlug. Gleichzeitig meinten 99 Prozent der Befragten, dass die Flüchtlinge aus der Ukraine in Polen gut aufgenommen werden.

Festzustellen ist außerdem, dass trotz galoppierender Inflation (in Polen beträgt sie derzeit über 17 Prozent) und wachsenden Wohlstandsverlustes der Bevölkerung die Regierung weiter den harten Kurs gegenüber Brüssel bevorzugt, sogar wenn dieser mit fehlenden Finanzmitteln einhergeht, die für die Unterstützung der Ukrainer eingesetzt werden könnten. Im Endeffekt läuft es darauf hinaus, dass Personen, die Ukrainern eine Unterkunft stellen, wofür ihnen Unterstützung vonseiten der Regierung gebührt, zu hören bekommen, dass es keine Unterstützung gibt, weil »die Europäische Union keine Solidarität mit Polen zeigt«. Mehr noch, die großen Metropolen in Polen, welche die meisten Geflüchteten aufgenommen haben, werden von Vertretern der Opposition regiert, was die effektive Zusammenarbeit mit der Regierung erschwert und sich z. B. auf die Verteilung der Mittel auswirkt, die von der Zentralregierung denjenigen Bürgern versprochen wurden, die Flüchtlinge beherbergen. Die kommunale Selbstverwaltung hat sie den Bürgern überwiesen, aber von Warschau wurden sie nicht übernommen. Das betrifft u. a. Warschau (Warszawa), Danzig (Gdańsk), Białystok und Rzeszów. Darüber hinaus reagierten die Woiwoden, also die Vertreter der Zentralregierung in den Woiwodschaften, häufig mit Verspätung auf die Bitten der kommunalen Behörden um Hilfe, oder sie sprachen sich selbst die Urheberschaft der Unterstützungstätigkeiten zu, die von der Selbstverwaltung und der Zivilgesellschaft organisiert und finanziert wurden.

Wer hilft und wie wird geholfen?

Befragungen, die bereits im März 2022 durchgeführt wurden, zeigten, dass 70 Prozent der Polen auf verschiedene Art und Weise der Ukraine halfen (darunter mehr Frauen als Männer) und elf Prozent die Absicht hatten, dies zu tun. 25 Prozent der Befragten boykottierten Produkte aus Russland und 90 Prozent unterstützten den Druck auf Russland und dessen diplomatische Isolation. Der gleiche Anteil der Befragten sprach sich für finanzielle Unterstützung der Ukraine und Waffenlieferungen an sie aus. Knapp 60 Prozent waren für die schnelle Aufnahme der Ukraine in die EU und in die NATO.

Die zwischen Mai und Juli 2022 von der Universität Warschau durchgeführten Untersuchungen benannten einige wesentliche Aspekte der Hilfe, welche die ukrainischen Geflüchteten von den Polinnen und Polen erhielten. Die allgemeine Einstellung der Polen war fast zu 100 Prozent proukrainisch. 42 Prozent halfen den Flüchtlingen finanziell, vor allem in Form von Internetspendensammlungen, elf Prozent unterstützten polnischen Sprachunterricht, zehn Prozent halfen Ukrainern bei Behördengängen, acht Prozent unterstützten sie bei der Arbeitssuche, ebenso viele bei der Freizeitgestaltung und sieben Prozent halfen den Flüchtlingen dabei, eine Unterkunft zu finden.

Das gesellschaftliche Engagement war so gut wie flächendeckend. Genannt seien nur die Einwohner des Grenzgebietes, lokale Nichtregierungsorganisationen (insbesondere in den Gebieten, wo sich anfangs am meisten Flüchtlinge aus der Ukraine aufhielten), polnische und internationale Nichtregierungsorganisationen, Universitäten und Schulen (Dozenten und Lehrer), die den jungen Ukrainern Bildungsangebote machten, Angehörige des Grenzschutzes, die nach den vielen unrühmlichen Vorfällen in der Flüchtlingskrise an der belarussischen Grenze selbstlos für ein reibungsloses Durchkommen der ukrainischen Flüchtlinge sorgten und ihnen schnelle Hilfe zuteilwerden ließen, Journalisten und Medien, die die Bedürfnisse der Flüchtlinge bekannt machten (so auch lokale Medien und intellektuelle Milieus mit medialem Hintergrund, z. B. die online-Zeitschrift und der Verein Krytyka Polityczna und ihr Vorstand Sławomir Sierakowski, der die spektakuläre Sammlung von 25 Millionen Euro für eine Drohne des Typs Bayraktar initiierte, die den ukrainischen Streitkräften übergeben wurde), die ukrainische Diaspora in Polen, Politiker unterschiedlicher Richtungen, die persönlich und/oder im Rahmen ihres Amtes Flüchtlingen halfen, und Prominente, die zur Unterstützung der Ukrainer und der Ukraine aufriefen oder diese selbst zeigten. Sehr große Bedeutung hatten auch die Aktivitäten der Organisationen und Communities, die sich auf Hilfe für Menschen mit Behinderungen, Ältere, LGBT+-Personen, Menschen in psychologischen Krisen, Kinder sowie Haustiere fokussierten.

Die Hilfe der Polen in den ersten Wochen des Krieges war vielfältig. Geholfen wurde den Flüchtlingen schon an der Grenze, indem Kleidung, Decken, Schlafsäcke und warme Mahlzeiten verteilt wurden; es wurden beheizte Zelte aufgebaut, in denen sie ausruhen konnten, es gab Hilfe beim Transport der Flüchtlinge an die Orte, wo sie wohnen oder auf Vermittlung einer Unterkunft warten konnten. Bei den gemeinsamen Aktionen trafen Gruppen aufeinander, die sonst nicht viel gemeinsam hatten, so die Pfadfinder und die Landfrauen, Aktivisten der extremen Linken und katholische Freiwillige, Schulkinder und Rentner.

Ein Dach über dem Kopf boten sowohl Privatpersonen den Flüchtlingen an (sieben Prozent der Polen stellten einen Platz im eigenen Zuhause zur Verfügung) als auch große Flüchtlingsunterkünfte (die z. B. in Messehallen organisiert wurden), Hotels, Jugendherbergen sowie viele Institutionen und Unternehmen. Auch Fälle, dass Vermietungsangebote vom kommerziellen Wohnungsmarkt zurückgezogen wurden, um sie kostenlos für Flüchtlinge zur Verfügung zu stellen, waren nicht selten.

Auf der Grundlage von Daten aus Breslau (Wrocław) lässt sich sagen, dass die Mehrheit der Flüchtlinge eine Unterkunft in Privathaushalten fand (die größte Gruppe bei Bekannten mit »Familienanschluss«, die übrigen bei ihnen nicht bekannten Menschen oder in zur Verfügung gestellten Wohnungen). Fast zehn Prozent der Personen wurden in Hotels oder Hostels untergebracht, zehn Prozent in städtischen Sammelunterkünften und fast 20 Prozent an »anderen Orten«. Hier ist darauf hinzuweisen, dass in der ersten Phase des Krieges Menschen mit einem höheren materiellen Status aus der Ukraine flohen, die jemanden hatten, zu dem sie fliehen konnten (gewöhnlich hatten sie auch ein eigenes Auto). Später waren es Personen, die einfach einen Unterschlupf vor den Aggressoren suchten und meistens keine Bekannten in Polen hatten. Nicht zu vergessen, sind viele Flüchtlinge bereits wieder in die Ukraine zurückgekehrt. Meine Gespräche mit polnischen Botschaftern in anderen EU-Staaten ergeben, dass – trotz der großen Hilfsbereitschaft gegenüber den Ukrainern in praktisch allen EU-Ländern – Polen insofern ein kulturelles Phänomen ist, als viele Polen Geflüchtete, die ihnen unbekannt waren, zu sich nach Hause aufgenommen haben. In der Mehrzahl der EU-Länder wäre solcherart Hilfe aufgrund der kulturellen Unterschiede schwer vorstellbar. Man muss sich auch bewusst machen, dass in den städtischen Sammelunterkünften angesichts der Bedürfnisse einer so großen Anzahl von Personen an ein und demselben Ort viele Herausforderungen auftraten (häufig schliefen sie auf Feldbetten, die dicht an dicht aufgestellt waren, es mussten elementare hygienische Bedingungen geschaffen werden, und sie brauchten zumindest ein Minimum an Privatsphäre, sei es für Telefonate mit den Angehörigen oder um den Emotionen in solch einer schwierigen Situation freien Lauf lassen zu können). Viele der Betroffenen sind Kinder, die ihre eigenen Bedürfnisse und Verhaltensweisen haben (wie Bewegungsdrang oder das Verlangen, in der Nähe der Eltern zu sein). All dies stellte die Stadtverwaltungen, die Nichtregierungsorganisationen und die Menge freiwilliger Helfer vor große Aufgaben. Sie organisierten den Aufenthalt, gaben Essen und Medikamente aus und planten die Weiterfahrt. Als beispielsweise im Expo-Zentrum an der Modlińska-Straße in Warschau mehr als 4.500 Menschen lebten, mussten Tausende Freiwillige blitzschnell zu Psychologen, Managern, Logistikspezialisten und Übersetzern werden. Das Ausmaß der Herausforderungen und natürlich auch der Konflikte und Probleme in dieser Situation waren häufig emotional kräftezehrend, so dass letztlich die, welche Hilfe leisteten, nach einiger Zeit manches Mal auch selbst Hilfe brauchten.

Daten zufolge, die von der Union der Polnischen Metropolen (Unia Metropolii Polskich) gesammelt wurden, verzeichneten drei Monate nach Kriegsbeginn die meisten Flüchtlinge Warschau (damals fast eine halbe Million), Kattowitz (Katowice) und Breslau (mit je 300.000), Krakau (Kraków) und Danzig (mit jeweils mehr als 200.000), gefolgt von Rzeszów, Lodz (Łódź), Posen (Poznań) und Lublin. Die Ukrainer stellen heute 15 Prozent der Einwohner Warschaus, 30 Prozent der Einwohner Rzeszóws und 25 Prozent der Einwohner von Danzig bzw. Kattowitz. Das hat natürlich das Bild dieser Städte grundlegend verändert und erforderte Anpassungen in der Stadtpolitik, dem Umgang mit öffentlichem Raum, der Verbrechensprävention usw. Ein eindrückliches Beispiel ist, dass es notwendig war, schnell Plätze in Kindergärten und Schulen für einige Tausend ukrainischer Kinder zu finden, die mehrheitlich kein Polnisch konnten. Die kommunale Selbstverwaltung war in dieser Frage fast vollkommen auf sich selbst und die eigenen finanziellen Ressourcen gestellt, wobei hier von 200.000 ukrainischen Kindern in den polnischen Schulen im September 2022 die Rede ist. Einen Platz für das Kind zu finden, ist die Bedingung dafür, dass die Mutter die Möglichkeit hat, eine Arbeit aufzunehmen. Da 17 Prozent der geflüchteten Kinder den online-Unterricht der ukrainischen Schulen wahrnehmen, müssen ihre Mütter zu Hause bleiben. Hier organisieren sich die Ukrainerinnen häufig selbst und übertragen die Betreuung der Kinder einer von ihnen, so dass die übrigen Polnisch lernen und arbeiten gehen können. Überraschend war für die Forscher, wie selten Fälle von Diskriminierung der geflüchteten Kinder in den Schulen sind, ähnlich wie bei ihren Eltern in polnischen Unternehmen. Deutliche Unterstützung für die jungen Ukrainer boten auch die Hochschulen an, was insofern leichter war, als bereits zuvor viele Studenten aus der Ukraine an polnischen Hochschulen eingeschrieben waren. Beispielsweise öffnete die Universität Warschau gleich nach Ausbruch des Krieges ihre Türen für geflüchtete Studierende und organisierte für sie einen schnellen Zugang zu verschiedenen Studienrichtungen, und die Dekane und Rektoren sensibilisierten die polnischen Dozenten und Studierenden für die Bedürfnisse, auch psychologischer Art, der Ukrainerinnen und Ukrainer. Der Dekan des Fachbereichs für Politikwissenschaft und Internationale Studien der Universität Warschau sagte im Gespräch mit den Mitarbeitern: »Bemüht euch, die Studierenden und Kollegen aus der Ukraine zu unterstützen. Und wenn euch manche Herausforderungen schwierig erscheinen, denkt daran, in was für einer schwierigen Lage sie sich befinden. Falls etwas ist, könnt ihr euch an mich, an uns, um Hilfe wenden.« Ukrainische Wissenschaftler konnten beispielsweise eine Teilzeitanstellung an den Universitäten in Anspruch nehmen, es wurden Sonderforschungs- und Wissenschaftsprogramme für sie aufgelegt, z. B. im Rahmen des Nationalen Akademischen Austauschdienstes (Narodowa Agencja Wymiany Akademickiej), des Nationalen Wissenschaftszentrums (Narodowe Centrum Nauki), im Rahmen von Stiftungen, die Wissenschaftler unterstützen, und der Stiftung für die Entwicklung des Bildungssystems (Fundacja Rozwoju Systemu Edukacji), das das Erasmus-Programm und polnisch-ukrainische Austauschprogramme koordiniert. Entgegen den Befürchtungen waren Konfliktsituationen oder Missverständnisse im Zusammenhang mit der Anwesenheit der ukrainischen Wissenschaftler in Polen eine Seltenheit, vielmehr wurde die Zusammenarbeit mit den Ukrainern in Wissenschaft und Forschung in vielen Bereichen, z. B. Energie und Sicherheit, intensiviert.

Annemarie Vanlangendonck

Die Wirklichkeit, über die ich schreibe, gestalten konkrete Menschen – solche wie Annemarie Vanlangendonck, die für den BE Heroes-Preis unter der Schirmherrschaft des Königs von Belgien nominiert wurde. Für ihre Aktivitäten dankte ihr auch der Vertreter des Oberbefehlshabers der ukrainischen Streitkräfte. Annemarie ist Polin und Belgierin und Absolventin der Europastudien. Bereits in den ersten Tagen des Krieges begann sie, für die Geflüchteten Medikamentenspenden, Hygieneartikel und Lebensmittel zu sammeln. Sie brachte sie selbst zur Grenze und nahm auf dem Rückweg Flüchtlinge mit. Sie organisierte Geldsammlungen für den Kauf von 300 komplett ausgestatteten Uniformen sowie Stiefeln für die ukrainischen Soldaten und handelte Preise für schusssichere Westen aus, die sie zusammen mit weiterer Ausstattung (Duschen, Küchen, Schlafsäcke) unter russischem Beschuss den Soldaten an der Front brachte. Annemarie organisierte Transporte für Mütter mit Kindern auch nach Belgien und andere EU-Länder, die Evakuierung eines Kinderheims nach Polen sowie den Transport von krebskranken Kindern im Krankenwagen. Sie koordinierte die Tätigkeit der Freiwilligen im größten Messezentrum, Expo Modlińska, in Warschau, das zum vorläufigen Zuhause von Tausenden Flüchtlingen wurde. Über die erbrachte Hilfe sagte sie: »Tagsüber war es schwer, denn es fehlten Leute für eine so große Anzahl von Flüchtlingen, aber ab mittags nach der Arbeit krempelten die Warschauer die Ärmel hoch und kamen, um uns bei allem zu helfen.« Annemarie kümmerte sich um Neugeborene und ihre Mütter, die vor dem Krieg geflohen sind, sie lernte von Kindern, welche Worte »die eigenen von den Feinden« unterscheiden, und dachte darüber nach, wie sehr sie es will, dass kein Kind dieses Wissen erwerben müsste; sie half Menschen, den Verlust naher Angehöriger an der Front zu verkraften und vieles mehr. Sie selbst sagte: »Wenn mir jemand vor einem Jahr gesagt hätte, dass ich machen werde, was ich jetzt mache, hätte ich gedacht, er sei verrückt. Auch jetzt denke ich manchmal, dass das alles ein böser Traum ist. Aber ich muss und ich will helfen, das muss man, weil es wichtig ist, weil sie es brauchen.« Ukrainische Soldaten nennen Annemarie »Königin«; in ihren Augen ist Bewunderung für das junge Mädchen aus Warschau. Sie ist außergewöhnlich – aber Personen, die Flüchtlingen in Polen helfen oder in die Ukraine fahren und ihre Sicherheit riskieren, weil »man das muss«, gibt es in Polen noch viel mehr.

Das polnische humanitäre Imperium oder ein Staat aus Pappmaché?

Der Jagiellonen-Klub (Klub Jagielloński) weist darauf hin, dass die Tatsache, dass westliche Medien Polen zum »humanitären Imperium« ausgerufen haben, sowohl zur Verbesserung des Ansehens von Polen genutzt werden könnte als auch um zu zeigen, dass Polen ein vertrauenswürdiger politischer Partner sowie ein attraktives Land für Investoren ist. Westliche Medien unterstrichen die Selbstlosigkeit der Polen sowie die Aktivitäten der polnischen Regierung, so beispielsweise die Deutsche Welle, die BBC oder Al Jazeera. Von nicht geringer Bedeutung waren auch die Aktionen bekannter Persönlichkeiten, die die Aufmerksamkeit der Medien auf Polen lenkten, wie der Schauspieler Sean Penn, der mit Ukrainern zu Fuß zur polnischen Grenze ging, oder der Regisseur Steven Spielberg, der das Polnische Rote Kreuz (Polski Czerwony Krzyż) unterstützte. Die Konferenz Stand Up for Ukraine, welche die internationale Spendensammlung zur Unterstützung ukrainischer Flüchtlinge krönte, fand in Warschau statt. Allerdings sah das, was die Welt als koordiniert und kohärent wahrnahm, aus der Nähe betrachtet vollkommen anders aus. Ein Beispiel ist die Lage am Zentralbahnhof in Warschau, wo Züge voll mit Flüchtlingen eintrafen. Auf dem Bahnhof erlebten sie Chaos, was der Tatsache geschuldet war, dass die Zentralbehörden ganz einfach nicht darüber nachgedacht hatten, was mit den Ankömmlingen weiter gemacht werden soll. Die Last dieser Situation trugen die Freiwilligen und die Einwohner, die den Flüchtlingen Essen und Kleidung brachten und ihnen eine Unterkunft suchten. Manchmal störten die Maßnahmen der Behörden geradezu die Aktivitäten der Zivilgesellschaft. Als die Warschauer in der Torwar-Halle spontan eine Annahmestelle für Spenden aufbauten, organisierte der Woiwode davor eine Pressekonferenz, um seine Aufsicht über diese Aktion zu verkünden. Seine Entscheidungen, die häufig im Widerspruch zu denen der Freiwilligen standen, verstärkten nur das Chaos. Der Staat weckte in den Bürgern Misstrauen manchen Hilfsaktionen gegenüber, da er mangelnde Transparenz in seinen Maßnahmen erkennen ließ, nicht zuletzt bei der finanziellen Unterstützung mancher Flüchtlingseinrichtungen, die für die einen größer als für die anderen ausfiel. Die kommunale Selbstverwaltung zeichnete sich in vielerlei Hinsicht durch größere Effizienz und vor allem durch eine bessere Zusammenarbeit mit der Zivilgesellschaft aus. Insbesondere die Kommunen – so zeigen es die Daten des von Polityka Insight erstellten Berichtes »Migranten in Polen« (Migranci w Polsce) für Europolis/Robert Schuman Stiftung (Polska Fundacja im. Roberta Schumana) –, die sich schon seit längerem des Vorteils des Zuzugs von Immigranten bewusst sind, haben das Examen der Flüchtlingshilfe und der Beständigkeit der Hilfsmaßnahmen gut bestanden. Das gilt vor allem für die Städte, die von Bürgermeistern und Stadtpräsidenten regiert werden, die vom politischen Lager der aktuellen Zentralregierung unabhängig sind. Der im Titel genannte »Staat aus Pappmaché« kann also in bestimmten Aspekten als Metapher verstanden werden, was die polnische Regierung in Sachen Flüchtlingsproblematik getan hat. Das hinderte die Regierungsvertreter wie auch den Staatspräsidenten aber nicht, im Ausland Gratulationen und Bewunderung entgegenzunehmen. Es waren jedoch die kommunale Selbstverwaltung und die Zivilgesellschaft, die spontan und gestützt auf keine großen Ressourcen gezeigt haben, dass Polen tatsächlich anderen Staaten imponieren kann.

Allerdings kommt die kommunale Selbstverwaltung in Polen, darauf wies der Stadtpräsident von Warschau, Rafał Trzaskowski, hin, ohne finanzielle Hilfe des Staates und der internationalen Gemeinschaft nicht mit der Flüchtlingswelle zurecht, und die Polen verlieren die Motivation, individuell zu helfen, wenn sie mit Verantwortung belastet werden, die schwierig zu tragen ist. Meinungsumfragen nach den Sommerferien in Polen zeigten eine gewisse »Müdigkeit, zu helfen«. So erklärte ein immer geringerer Anteil der Polen die Bereitschaft, die Ukrainer zu unterstützen, wenn dies auch nicht die Einstellung zu ihnen oder zum russischen Angriff veränderte. Augenfällig weist dies auf die Notwendigkeit hin, dass der polnische Staat in einem größeren Ausmaß als bisher die Verantwortung für die Hilfe übernehmen muss.

Trotz Problemen und Inkonsequenzen, die auf rein politische Beweggründe zurückzuführen sind, hat die polnische Regierung handfeste Maßnahmen verabschiedet, um den ukrainischen Flüchtlingen bestmögliche Bedingungen in Polen zu gewährleisten. Nach den Autoren des genannten Berichtes »Migranten in Polen« brachte das »Gesetz vom 12. März 2022 über die Hilfe für Bürger der Ukraine im Zusammenhang mit dem bewaffneten Konflikt auf ihrem Staatsgebiet« den Durchbruch. Polen bot den Ankömmlingen staatliche Fürsorge und viele Rechte – u. a. auf einen 18-monatigen legalen Aufenthalt in Polen; den Erhalt einer Persönlichen Identifikationsnummer (PESEL), die für Kontakte mit Behörden unerlässlich ist; grundlegende Hilfe vom Woiwoden und der kommunalen Selbstverwaltung (Unterkunft, Ernährung, Reinigungsmittel, Hygieneartikel, notwendiger Transport), und zwar nicht kürzer als zwei Monate vom Tag der ersten Einreise nach Polen; die Ausübung einer Arbeit oder einer wirtschaftlichen Tätigkeit in Polen; die Nutzung vieler sozialer Leistungen sowie Leistungen der Gesundheitsversorgung und der kostenlosen psychologischen Hilfe; Arbeit in bestimmten medizinischen Berufen, Schulen sowie Hochschulen und Forschungseinrichtungen. Das Gesetz wurde zwar mehrmals geändert und die Umsetzung war teilweise chaotisch sowie auch die Informationskampagne der Regierung viel zu wünschen übrig ließ, aber es war dennoch ein Fortschritt im Vergleich zu den ersten Wochen des Krieges. Mehr noch, die polnische Regierung unterstützte den Aufenthalt der Flüchtlinge in Polen finanziell, was trotz vieler damit einhergehender Probleme ein Faktor war, der die Polen zusätzlich motivierte zu helfen [in den ersten zwei Monaten erhielten die aufnehmenden Polen 40 Zloty pro Person und Tag als Aufwandsentschädigung für die Bereitstellung von Unterkunft und Lebensmitteln, Anm. d. Red.]. Polen wurde ein logistischer Knotenpunkt, was den Transport humanitärer Hilfsgüter und von Waffenlieferungen aus der ganzen Welt in die Ukraine betrifft. Neben Estland, Großbritannien und den USA wurde das Land zum wichtigsten Hilfszentrum für den ukrainischen Widerstand.

Man kann also zugestehen, dass die Reaktion der polnischen Zivilgesellschaft und kommunalen Selbstverwaltung vor allem in den Metropolen – also den Milieus, deren Bedeutung und Rolle zu beschränken sich die polnische Regierung um jeden Preis bemüht – auf die Flüchtlingswelle aus der Ukraine das Bild Polens als eines Staates, der sich entdemokratisiert, rettete. Die Probleme mit der Rechtsstaatlichkeit traten für den Moment in den Hintergrund. Vieles weist jedoch bereits darauf hin, dass die polnische Regierung diese außergewöhnliche Chance, das Bild Polens zu verbessern, mit ihrer Sturheit im Konflikt mit der EU, der Zivilgesellschaft und der vom Regierungslager unabhängigen Selbstverwaltung vergeudet und diese wieder das Ziel von Angriffen und Versuchen werden, ihre Eigenständigkeit zu beschränken.

Übersetzung aus dem Polnischen: Silke Plate

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Analyse

Die Folgen des russischen Angriffskrieges gegen die Ukraine für Polen

Von Piotr Arak
Als Nachbarstaat erlebt Polen die Auswirkungen des russischen Angriffskrieges auf die Ukraine besonders stark. Der bewaffnete Konflikt betrifft bereits jeden Polen, u. a. wegen der Anwesenheit der Flüchtlinge in unserem Land. Die Aggression Russlands gegenüber der Ukraine, unterstützt von Belarus, hat außerdem Einfluss auf die globale und somit auch die polnische Wirtschaft. (…)
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