Die Armee marschiert auf dem Bauch. Ein Gespräch mit General Mirosław Różański

Marek Rabi: Zunächst etwas, was mir seit mehr als einem Monat keine Ruhe lässt: Was wäre, wenn Russland am 24. Februar nicht die Ukraine, sondern Polen angegriffen hätte?

Gen. Mirosław Różański: Ich denke, es wäre nicht zu einem Krieg gekommen. Am Abend des 23. Februar hätten wir in Polen nicht 10.000 Soldaten der US-Armee gehabt, sondern 100.000. Und Hunderte NATO-Kampfflugzeuge, Hubschrauber und sicher zusätzliche Patriot-Batterien. Vielleicht hätten sogar amerikanische Zerstörer auf der Ostsee gekreuzt, mit Tomahawk-Raketen, deren Reichweite über die Oblast Kaliningrad hinausgegangen wäre. Panzer wären später gekommen, wenn sich trotz allem gezeigt hätte, dass sie notwendig sind.

Dann hätte es zu spät sein können.

Im Krieg der Gegenwart wird die Überlegenheit im Luftraum gewonnen.

[…]

Ich bin sicher, dass, wenn die Ukraine über eine bessere Luftverteidigung verfügt hätte, Moskau die Operation anders hätte planen müssen. Möglicherweise wäre es zu dem Schluss gekommen, dass es anzufangen nicht wert ist.

Sind 46 polnische F-16-Kampfflugzeuge ein ausreichendes Argument dafür, dass es »anzufangen nicht wert ist«?

Leider nein. In den Zeiten, als ich Oberbefehlshaber in den Polnischen Streitkräften war, hieß es, unser Verteidigungsminimum seien ca. 160 Flugzeuge. Das F-16-Programm sollte fortgesetzt werden, zurzeit herrscht da allerdings Stille. Dafür kaufen wir 32 allermodernste F-35-Mehrzweckkampflugzeuge.

Das ist doch wahrscheinlich gut.

Ich wäre der erste, der Beifall klatschen würde, wenn wir in Polen schon andere Bedarfe realisiert hätten. Vor allem sollten wir uns um Raketen- und Luftabwehrsysteme kümmern. Die ersten Patriots kommen ja erst noch zu uns, aber diese beiden Batterien sichern gerade mal einen Ausschnitt des polnischen Himmels. Eine moderne und sehr teure Ausrüstung wie die F-35 wird also ständig von Angriffen bedroht sein. Einige russische Iskander-Raketen, die nur einige Millionen US-Dollar kosten, können uns in nur einem Augenblick militärischer Schlüsselressourcen berauben, für die wir Milliarden Dollar ausgegeben haben. Denn Polen hat auch keine modernen Aufklärungs- und Nachrichtenübermittlungssysteme. Dass man uns angegriffen hat, erfahren wir erst dann, wenn die Raketen explodieren. Vielleicht einige Sekunden vorher.

Ein F-35 ist ein fliegender Computer, fähig, in Echtzeit Daten aus der Kampfzone zu sammeln und sie anderen Einheiten zu übermitteln. Es kann z. B. Panzern Ziele anzeigen, die außerhalb deren Operationshorizont liegen. Aber um alle diese modernen Ausrüstungselemente zu einem Netzwerk zusammenzufassen, ist Einsicht in die operative Situation in Echtzeit notwendig. Wir haben einen Ferrari gekauft, aber ohne Motor. Deshalb wundert mich der Kauf der F-35 bei gleichzeitig fehlender Ankündigung, dass dringendere Bedarfe gedeckt werden.

Fürchten Sie, dass die F-35 zu dem sprichwörtlichen »weißen Elefanten« werden, d. h. zu einem zu wertvollen Bestand, zu schade für den Einsatz und möglicherweisen Verlust?

Mich beunruhigt, dass wir die Verstärkung der polnischen Armee ohne einen soliden Plan angehen und in den existierenden Plänen Veränderungen durch Entscheidungen auf Ministerebene vorgenommen werden.

Der Plan ist: Drei Prozent des Bruttoinlandsprodukts zielgerichtet für die Verteidigungsfähigkeit und eine 300.000 Mann starke Armee.

Papier ist geduldig. In der Wirklichkeit können wir uns eine so große Armee nicht leisten. Im vergangenen Jahr haben wir 2,2 Prozent des Bruttoinlandsprodukts für die Verteidigungsfähigkeit bestimmt, d. h. mehr als 52 Mrd. Zloty. Ca. 40 Prozent dieser Summe waren Personalkosten, d. h. die Gehälter von ca. 109.000 Berufssoldaten, der knapp 30.000 Angehörigen der Truppen der Territorialverteidigung (Wojska Obrony TerytorialnejWOT), der Zivilbeschäftigten sowie Renten und Altersbezüge. Der Anstieg der Ausgaben für die Verteidigungsfähigkeit auf drei Prozent des Bruttoinlandsprodukts zusammen mit der Entwicklung unserer Wirtschaft zieht nach sich, dass sich der Verteidigungshaushalt im kommenden Jahr um ca. 40 Mrd. Zloty erhöhen wird. Es ist leicht zu errechnen, dass wir für den Aufbau einer 300.000 Mann starken Armee eigentlich alle zusätzlichen Gelder ausgeben müssten. Also auf den Kauf von modernem Gerät verzichten, das die zusätzlichen Soldaten zu bedienen hätten.

Und in zehn Jahren?

Vernünftiger wäre es, eine 150.000 Mann starke Armee mit supermoderner Ausrüstung zu haben, eine gut geschulte Armee für Aufgaben, die sie zu erfüllen hat, als ein Berufsheer von 250.000 Mann, das eine archaische Bewaffnung hat und nur alle Jubeljahre auf den Truppenübungsplätzen ist. 1939 standen wir, was die Zahlenstärke anging, kaum den deutschen Streitkräften nach. Erlaubte uns das zu siegen? Soldaten ohne moderne Ausrüstung sind Kanonenfutter. Wollen wir das für unsre Kinder?

[…]

Wir müssen eine Armee haben, die zwei, drei Wochen lang tatsächlich in der Lage ist, selbständig Angriffe eines Feindes abzuwehren, fähig, Gefahren zu identifizieren und sie noch außerhalb der Landesgrenzen zu neutralisieren.

Und haben wir heute eine solche Armee?

Ich fürchte, nein.

Wie lange wird es dauern, sie entsprechend aufzubauen?

Seit Jahren beschränkt sich die polnische Verteidigungsdoktrin darauf, dass wir in der NATO sind und der Bündnispartner uns verteidigen wird. Wir verhalten uns wie ein Kind, das sich in jedem Streit hinter seinem älteren Bruder versteckt. Neben dem berühmten Artikel 5 enthält der Nordatlantikvertrag aber auch Artikel 3, der sagt, dass sich jedes Mitgliedsland um Maximierung seiner Verteidigungsfähigkeit bemühen soll. Wenn wir uns alle hinter dem Rücken der USA, Großbritanniens und vielleicht noch Frankreichs verstecken, wird die NATO früher oder später zu einer Scheinmacht werden.

[…]

In den 1930er Jahren verschlang das Budget der polnischen Armee offiziell knapp sieben Prozent des Bruttoinlandsprodukts, natürlich auf Kosten anderer Lebensbereiche. Das Militär war das Wichtigste.

Inzwischen sollte es eher wie eine Versicherungspolice funktionieren: Für sie wird unnötigerweise Geld ausgegeben bis zu dem Zeitpunkt, wenn sie ganz einfach notwendig ist. Aus dem Krieg in der Ukraine sollten wir Schlussfolgerungen ziehen. Er lehrt uns auch, dass in einem Krieg um die Unabhängigkeit des Landes nicht nur an der Front gekämpft wird. Auch das bestausgestattete Militär muss essen und eine sichere medizinische Versorgung haben.

Lord Wellington [1769–1852, britisch, führende militärische und politische Persönlichkeit, besiegte Napoleons Truppen bei Waterloo, Anm. d. Übers.] pflegte zu sagen, dass »die Armee auf dem Bauch marschiert«, aber dieser Grundsatz betrifft nicht nur das Militär. Während eines Krieges muss auch auf den Straßen im Hinterland Ordnung herrschen. Die Zivilbevölkerung braucht in ihren Häusern Strom und Wasser. An den Tankstellen sollte Benzin nicht fehlen. Parallel zu den Investitionen in Ausrüstung und Schulungen sollten wir also auch realistische Mobilisierungspläne erarbeiten und Krisengruppen für den Kriegsfall organisieren. Jeder von uns sollte wissen, was er im Falle eines bewaffneten Konflikts zu tun hat. Wo er sich zu melden und was er zu machen hat. Sogar Förster sollten auf ihren Karten die Orte markiert haben, wo sie Bäume fällen müssen, um Hindernisse im Gelände zu schaffen.

Allein mit solchen Maßnahmen gewinnt man natürlich keinen Krieg, aber man kann das Chaos der ersten Tage einschränken und unvermeidliche Schäden verringern.

Übersetzung aus dem Polnischen: Silke Plate

Mirosław Różański (geb. 1962) ist Waffengeneral der polnischen Streitkräfte und hat in Verteidigungswissenschaften promoviert. 2015–2016 war er Oberbefehlshaber aller Teilstreitkräfte der Republik Polen. Nach Eintritt in den Reservistenstand gründete er die Stiftung für Sicherheit und Entwicklung Stratpoints (Fundacja Bezpieczeństwa i Rozwoju Stratpoints). Er ist außerdem Berater der politischen Gruppierung Polen 2050 (Polska 2050).

Quelle: Armia maszeruje na brzuchu. In: Tygodnik Powszechny Nr. 15 (10.04.2022). S. 12–17; mit freundlicher Genehmigung.

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