Die Nationale Sicherheitsstrategie der Republik Polen (2020)

[…]

Das Sicherheitsgefüge

Das fortschreitende Aufbrechen der internationalen Ordnung beeinflusst das Sicherheitsgefüge Polens in negativer Weise, da die Realisierung der nationalen Interessen und das Erreichen der strategischen Ziele erschwert werden. Im Ergebnis dieser Veränderungen entsteht ein Sicherheitsumfeld, das von Unsicherheit und Unvorhersehbarkeit geprägt ist, was auf die Missachtung des internationalen Rechtes und die Nichterfüllung internationaler Verpflichtungen zurückzuführen ist. Die Zahl der Gefahren und unterschiedlichen Herausforderungen für die Sicherheit wächst.

Die wichtigste Gefahr stellt die neoimperiale Politik der Regierung der Russischen Föderation dar, die u. a. unter Einsatz des Militärs betrieben wird. Die Aggression gegenüber Georgien, die illegale Annexion der Krim sowie die Aktivitäten in der Ostukraine verletzten die Grundlagen des internationalen Rechtes und erschütterten die Säulen des europäischen Sicherheitssystems.

Die Russische Föderation baut – in westlicher Richtung – intensiv ihr militärisches Offensivpotential aus, entwickelt Anti-Access Area Denial-Zonen, u. a. im Ostseeraum in der Oblast Kaliningrad, und führt Militärmanöver in großem Ausmaß durch, die sich auf Konfliktszenarien mit den Staaten des Nordatlantikpaktes, einen schnellen Durchmarsch großer Militäreinheiten und sogar den Einsatz von Nuklearwaffen stützen.

Die Russische Föderation betreibt außerdem Aktivitäten unterhalb der Schwelle des Krieges (hybride Kriegsführung), die das Risiko beinhalten, dass ein Konflikt ausbricht (auch ein unbeabsichtigter, als Ergebnis einer gewaltsamen Eskalation infolge eines insbesondere militärischen Vorfalls), und unternimmt auch umfassende und komplexe Aktivitäten mit Hilfe nicht militärischer Mittel (inkl. Cyberangriffe, Desinformation), mit dem Ziel, die Strukturen der westlichen Staaten und Gesellschaften zu destabilisieren sowie Spaltungen zwischen den Bündnisstaaten hervorzurufen. Es ist davon auszugehen, dass die Russische Föderation ihre Politik fortsetzen wird, die gegenwärtige internationale Ordnung, die auf internationalem Recht gründet, zu destabilisieren, mit dem Ziel, die Position einer Großmacht wiederzuerlangen und die Einflusszonen wiederaufzubauen.

Der grundlegende, prägende Faktor für die Sicherheit Polens ist seine starke Verwurzelung in den transatlantischen und europäischen Strukturen sowie die Entwicklung der bilateralen und regionalen Zusammenarbeit mit seinen wichtigsten Partnern. In den letzten Jahren wurden die transatlantischen Beziehungen wie der Prozess der europäischen Integration auf die Probe gestellt. Die strategischen Bindungen zwischen den Vereinigten Staaten von Amerika und den europäischen Bündnispartnern machen eine Evolution durch. In der Europäischen Union treten abweichende Konzepte für ihre weitere Entwicklung auf. Es besteht auch das Risiko, dass der Zusammenhalt der Positionen und des Handelns der NATO- und EU-Mitgliedsstaaten infolge wachsender innerer Spannungen sowie der Aktivitäten äußerer Akteure geschwächt wird.

Eine Gefahr stellen auch die fortwährenden regionalen und inneren Konflikte in der südlichen Nachbarschaft Europas dar. Als deren Folge, aber auch infolge des massiven Anstiegs der Geburtenrate sowie der Unterschiede des Lebensniveaus verstärkte sich der Migrationsdruck, der eine Herausforderung für die Sicherheit Europas bleiben wird.

Auf globaler Ebene ist der sich verschärfende strategische Wettbewerb zwischen den Vereinigten Staaten von Amerika, der Volksrepublik China und der Russischen Föderation ein wichtiger Faktor, der das gesamte internationale System beeinflusst.

In den letzten Jahren haben wir es mit einem breiten Spektrum bewaffneter Konfliktformen zu tun, die sich u. a. in Ausmaß, Intensität, Komplexität, Dauer sowie der Verwischung der Grenzen zwischen Krieg und Frieden unterscheiden. Die globale Unsicherheit wird u. a. durch die Infragestellung von Abrüstungsverträgen und -vereinbarungen, die Verbreitung von Massenvernichtungswaffen sowie die Bedrohung durch Terrorismus und organisierte Kriminalität begünstigt.

Aktivitäten unterhalb der Kriegsschwelle, dazu gehören auch hybride Aktivitäten, werden weiterhin ein wesentliches Mittel der Politik bleiben, dass sowohl staatlichen als auch außerstaatlichen Subjekten dienen wird, ihre Ziele zu erreichen. Die weitere Entwicklung der Fähigkeiten, Aktivitäten in vielen Bereichen, inkl. Cyberspace und Weltall, durchzuführen, steht zu erwarten.

Die Entwicklung neuer sowohl ziviler als auch militärischer Technologien bewirkt, dass die Nutzung von unbemannten, autonomen, automatisierten und robotisierten Rüstungssystemen unter Einsatz künstlicher Intelligenz sowie auch von Präzisionswaffensystemen mit großer Reichweite, ballistische und manövrierbare Raketen inbegriffen, deutlich steigt. Als besonders gefährlich gilt die zunehmende Wahrscheinlichkeit, taktische Nuklearwaffen in klassischen bewaffneten Operationen einzusetzen, u. a. zur Deeskalation von Konflikten.

[…]

Gleichzeitig strebt Polen danach, die externen Säulen der Sicherheit zu stärken, u. a. durch die Mitgliedschaft im Nordatlantikpakt und der Europäischen Union, die strategische Partnerschaft mit den Vereinigten Staaten von Amerika und die regionale Sicherheitszusammenarbeit. Der strategische Anpassungsprozess des Nordatlantikpaktes führte zur Stärkung der Abschreckungs- und Verteidigungspolitik des Bündnisses, wozu auch die Präsenz von Bündnisstreitkräften auf polnischem Territorium gehört. Die Sicherheit Polens wird auch durch die Entwicklung der Zusammenarbeit mit den Vereinigten Staaten von Amerika im Bereich Sicherheit und Verteidigung, Energie, Handel, Investitionen sowie Forschung und Entwicklung gestärkt. Ein stärkender Faktor für das Verteidigungspotential wird die engere politische, militärische und rüstungstechnische Zusammenarbeit mit den wichtigsten europäischen Partnern auf bilateraler Ebene sowie im Rahmen der Gemeinsamen Sicherheits- und Verteidigungspolitik der EU – u. a. durch das Engagement in bestimmten Projekten im Rahmen der Ständigen Strukturierten Zusammenarbeit der EU sowie die polnische Beteiligung in Projekten, die vom Europäischen Verteidigungsfonds finanziert werden. Polen misst außerdem der Entwicklung der regionalen Zusammenarbeit großes Gewicht bei, u. a. im Rahmen der Bukarester Neun, der Visegrád-Gruppe, des Weimarer Dreiecks, der Drei-Meere-Initiative sowie der Zusammenarbeit mit Staaten der Ostseeregion. Ein Schlüsselinstrument ist das Engagement Polens in Missionen und Operationen des Nordatlantikbündnisses, der Europäischen Union, der Vereinten Nationen, der Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa sowie anderen, situativen Koalitionen.

[…]

Übersetzung aus dem Polnischen: Silke Plate

Quelle: Strategia Bezpieczeństwa Narodowego Rzeczypospolitej Polskiej [Nationale Sicherheitsstrategie der Republik Polen]. Warszawa 2020. S. 6–10. https://www.bbn.gov.pl/pl/prace-biura/publikacje/8808,Strategia-Bezpieczenstwa-Narodowego-Rzeczypospolitej-Polskiej.html (abgerufen am 31.01.2022).

Zum Weiterlesen

Analyse

Die Militarisierung der Oblast Kaliningrad und die Bedeutung für die Sicherheit Polens

Von Agnieszka Legucka
Die Oblast Kaliningrad ist für die Russische Föderation von großer Bedeutung. Dort ist die Baltische Flotte stationiert und werden die Strukturen der Landstreitkräfte ausgebaut. Seit einigen Jahren betreibt Russland eine starke Militarisierung der Exklave. Dazu gehören die Dislozierung des Luftabwehrsystems S-400, die Ausstattung der Marine mit Kalibr Lenkwaffen sowie der Beginn der Dislozierung von Iskander-Raketensystemen, was den Aufbau einer Anti-Access Area Denial (A2AD)-Zone ermöglicht. Für die angrenzenden NATO-Staaten, so auch Polen, bedeutet das, in unmittelbarer Reichweite russischer Massenvernichtungswaffen zu liegen. (…)
Zum Artikel

Logo FSO
Logo DGO
Logo ZOIS
Logo DPI
Logo IAMO
Logo IOS