Die politisch-kulturelle Dimension der Frauenproteste in Polen

Von Renata Mieńkowska-Norkiene (Universität Warschau)

Zusammenfassung
In Polen ist eine neue gesellschaftliche Bewegung entstanden, die trotz Corona-Pandemie in Massen auf den Straßen der polnischen Städte protestiert. Wird sie etwas in der polnischen Politik verändern? Aufgrund der großen Unsicherheit infolge der Corona-Pandemie, aber auch des angedrohten Vetos der polnischen Regierung gegen das EU-Haushaltspaket ist es schwer, vorherzusagen, welche Ereignisse Chancen haben, in allernächster Zeit auf eine echte politische Veränderung in Polen hinzuwirken. Zweifellos wird aber eine wesentliche kulturelle Veränderung eintreten – die Abkehr der Polen, insbesondere der jungen Menschen, von der Religiosität und das zunehmende Bedürfnis, die Gleichheit der Geschlechter sowie auch der LGBT+-Personen zu garantieren. Diese kulturelle Veränderung treibt die gesellschaftliche Bewegung an, die vom Netzwerk »Landesweiter Frauenstreik« (Ogólnopolski Strajk Kobiet) organisiert wird. Sie kann der wichtigste Faktor sein, der dem Regierungslager der Vereinigten Rechten (Zjednoczona Prawica) in den kommenden Wahlen die Macht entzieht – unabhängig davon, ob die Wahlen ins Frühjahr 2021 vorgezogen oder regulär erst in drei Jahren stattfinden werden. Allerdings wird auch viel davon abhängen, inwieweit die Opposition fähig sein wird, das Potential der Bewegung zu nutzen.

Der politische Kontext der Proteste

Eine Analyse der politischen Situation in Polen ist seit dem Jahr 2015 aus verschiedenen Gründen recht schwierig. Erstens lassen sich die wichtigsten politischen Entscheidungen seit langem auf einen Initiator zurückführen, nämlich auf Jarosław Kaczyński, der als einfacher Abgeordneter bisher formal keine größere politische Verantwortung getragen hatte. Seit einigen Monaten ist der Vorsitzende von Recht und Gerechtigkeit (Prawo i SprawiedliwośćPiS), der größten Partei in der Regierungskoalition, jedoch stellvertretender Ministerpräsident und koordiniert die Belange der staatlichen Sicherheit und trägt hier dazu bei, die Konflikte in der Gesellschaft zu vertiefen und das gesellschaftliche Vertrauen in die Polizei und die Ordnungsdienste des Staates zu zerstören. Gleichzeitig versucht Jarosław Kaczyński, seine Koalitionäre (die Partei des radikal rechtskonservativen Zbigniew Ziobro und die des etwas gemäßigter konservativen Jarosław Gowin) zu disziplinieren, ohne die er die parlamentarische Mehrheit verlieren würde, und er verfolgt den Reformkurs des Staates weiter, der die Justiz, die Medien, die Bildung und die Kultur und schließlich den Nichtregierungssektor und den konservativ orientierten Teil der Gesellschaft seiner politischen Macht unterordnen soll.

Zweitens ist die polnische Politik in einem deutlich stärkeren Maße als in anderen Staaten der Europäischen Union mit der katholischen Kirche verflochten und die regierenden Parteien nutzen deren Unterstützung, um auf die Einstellungen der Gesellschaft und auf Wahlentscheidungen einzuwirken.

Drittens: Da Polen von populistischen Konservativen regiert wird, wurde es zum Leckerbissen für das internationale Netzwerk ultrakonservativer Organisationen, deren Ziel es ist, ein vollständiges Abtreibungsverbot durchzusetzen und die fundamentalkatholischen Prinzipien zu den Grundlagen des gesellschaftlichen Lebens zu machen. In Polen tritt mit diesem Anliegen die Organisation Ordo Iuris hervor.

Viertens ist die polnische Opposition ziemlich schwach. Die wichtigste oppositionelle Gruppierung, die Bürgerkoalition (Koalicja ObywatelskaKO), entstammt zu großen Teilen dem Milieu der Solidarność-Opposition – ähnlich wie die Mehrheit der PiS-Akteure – und sie ist zudem eine im Kern sehr konservative Gruppierung. Ein polnisches Spezifikum ist also, dass das Regierungslager und die zahlenstärkste oppositionelle Gruppierung beide dem konservativen Milieu angehören und das linke politische Spektrum auf der anderen Seite keine große Bedeutung hat.

Als Kontext der aktuellen Frauenproteste ist zudem wichtig, dass bei den Präsidentenwahlen 2020 auf Seiten der Opposition zwei neue Bewerber auftauchten, die in zukünftigen Parlamentswahlen weiter von Bedeutung sein könnten. Es sind dies der konservative Szymon Hołownia, ein ehemaliger Medienstar, und der Warschauer Stadtpräsident Rafał Trzaskowski, welcher der Bürgerplattform (Platforma ObywatelskaPO) angehört und trotz mehr als zehn Millionen Wählerstimmen um ein Haar gegen den der PiS nahe stehenden Kandidaten Andrzej Duda verloren hat. Sowohl Hołownia als auch Trzaskowski können schon heute mit einer Wählerquote von mehreren Prozent und dem Überschreiten der 5-Prozent-Hürde rechnen, wobei nur Hołownia die Chance hat, die Wähler, die bei den letzten Wahlen für die PiS gestimmt haben, für sich zu gewinnen.

Abtreibung: altes Thema, neue Umstände

Im Oktober 2020 urteilte das polnische Verfassungstribunal, dass Abtreibung aufgrund schwerer und unheilbarer Schäden des Fötus nicht verfassungskonform sei. Seitdem gingen Zehntausende aus Protest auf die Straße. Viele fragen sich in diesem Zusammenhang, wie ein so kontroverses Thema in einer so schwierigen Phase aufkommen konnte, wie es die gegenwärtige zweite, deutlich schlimmere Infektionswelle ist. Die Antwort auf die Frage ist recht einfach: Kaczyńskis »Bestellung« des Urteils bei einem vollkommen von ihm abhängigen Tribunal schien eine sichere Win-win-Situation zu sein. Er nahm wohl an, dass die Urteilsverkündung in der Situation nach den Präsidentenwahlen einerseits und in einer Phase von Corona-Schutzmaßnahmen und entsprechenden Restriktionen andererseits die Schuld gegenüber der katholischen Kirche begleichen würde, welche die PiS politisch unterstützt hat. Außerdem mag er gemeint haben, so den Koalitionspartner und Justizminister Zbigniew Ziobro beruhigen zu können, der bereits die Stimme erhob und sich anschickte, die Koalitionsvereinbarungen überzustrapazieren; für diesen nämlich wäre die Stärkung von Ordo Iuris und der schärfsten konservativen Forderungen von wesentlicher Bedeutung. Weiter könnte es die Partei Konföderation (Konfederacja) schwächen, eine ultrakonservative, insbesondere bei jungen Männern in Polen recht beliebte Partei, der eine wesentliche politische Forderung entzogen werden würde. Mit der Schwächung der Konföderation würden sich die politischen Sympathien der radikalen Rechten in Richtung PiS verlagern. All dies hätte den zusätzlichen Effekt, dass im Falle fehlender Proteste das vollständige Abtreibungsverbot de facto rechtskräftig werden würde, während es im Falle stattfindender Proteste möglich wäre, den Frauen und anderen Protestierenden die Schuld für die Ausbreitung der Epidemie zuzuweisen. Es sieht allerdings so aus, als ob sich Jarosław Kaczyński dieses Mal verkalkuliert hätte.

Abtreibung ist ein Thema, das in Polen seit Anfang der 1990er Jahre große Kontroversen hervorrief. Der sog. »Abtreibungskompromiss«, der seit 1993 gilt, ermöglicht den Schwangerschaftsabbruch nur in drei Fällen: Erstens im Falle der Gefährdung des Lebens der Schwangeren, zweitens in dem Fall, dass die Schwangerschaft die Folge einer Vergewaltigung oder Straftat ist, und drittens in dem Fall, dass der Fötus schwer und unwiderruflich geschädigt ist. Letztere Voraussetzung war die Grundlage für 98 Prozent von über 1.000 legalen Schwangerschaftsabbrüchen jährlich. Das heißt, dass das Urteil des TK im Grunde den Zugang zu legalen Abtreibungen entzieht. Gleichzeitig – so Schätzungen verschiedener Institutionen (die Weltgesundheitsorganisation inbegriffen) – liegt die Anzahl der illegalen Schwangerschaftsabbrüche in Polen zwischen einer niedrigen fünfstelligen Zahl bis zu mehreren Zehntausend im Jahr. Die Situation der Polinnen war, was den Zugang zur legalen Abtreibung betraf, bereits vor dem Urteil des Verfassungsgerichts eine der schlechtesten in der Europäischen Union; die Einschränkung infolge des Urteils des TK hätte indessen zur Folge, dass der Zugang zur legalen Abtreibung in Polen geringer wäre als in Saudi Arabien. Zweifelsohne machte diese Vorstellung Eindruck auf die polnischen Frauen, die sich – pandemiebedingt ohne Zugang zum Gynäkologen und mehr als sonst von häuslicher Gewalt, Vergewaltigung und ungewollten Schwangerschaften betroffen – entschlossen, gegen die Verletzung ihres Rechtes auf menschliche Behandlung und Würde zu protestieren, so ein Motto der ersten Protesttage. Innerhalb weniger Tage erhielten die Proteste eine zusätzliche, gegen die Regierung, die Kirche und Diskriminierung gerichtete breitere Bedeutung. Von Anfang an brachte sich der Landesweite Frauenstreik intensiv in die Proteste ein. Er hatte sich bereits im Jahr 2016 gebildet, als er den landesweiten »schwarzen Protest« als Reaktion auf einen Gesetzesentwurf zum Abtreibungsverbot und die Ablehnung eines Entwurfs für einen liberaleren Zugang zum Schwangerschaftsabbruch organisierte. Nun mobilisierte der Landesweite Frauenstreik Tausende Frauen und Männer – darunter auch sehr junge – in ganz Polen und machte die Medien auf die Forderungen der Protestierenden aufmerksam und setzte außerdem zum ersten Mal in einem solchen Ausmaß Emotionen gegen die Regierung und die Kirche in Gang. Im Oktober und November gingen Protestteilnehmer mit Transparenten zu den Kirchen, verwendeten Vulgarismen, aber auch klug formulierte Slogans, die sich allgemein verbreiteter kultureller Codes, der Literatur sowie auch der Jugendsprache bedienten. In Kombination mit der Ermüdung angesichts des ungesetzlichen und nicht mit der Gesellschaft konsultierten Regierungshandelns und dem gesellschaftlichen Frust infolge der ineffektiven Maßnahmen der Regierung zur Bekämpfung der Corona-Epidemie rief das Urteil des TK ein Emotionspotential hervor, das typisch für gesellschaftliche Bewegungen ist. Der Landesweite Frauenstreik ist als eine solche zu bewerten. Trotz Corona-Epidemie hielten sich die Proteste lange, und aktuell arbeiten die Anführerinnen daran, das Protestpotential für den Kampf für konkrete politische Veränderungen zu nutzen.

Die Bewegung der acht Sternchen (***** ***)

Die landesweiten Proteste infolge des Urteils des Verfassungstribunals, das den Polinnnen fast vollständig den Zugang zum legalen Schwangerschaftsabbruch nimmt, entfesselten ein Ausmaß an Emotionen, das bisher nicht in der polnischen Gesellschaft zutage getreten war. Wut, Frust und Enttäuschung über das Handeln der regierenden Koalition, aber auch der Politik im Allgemeinen, also auch der Opposition, brachen sich Bahn. Das ist ein wichtiger Aspekt, denn die Anführerinnen der Proteste haben viel Kraft aufgeboten, damit die Politiker der Opposition ihre Anwesenheit auf den Demonstrationen nicht für die eigenen Parteiinteressen vereinnahmen. Hinzu kommt, dass die polnische Opposition angesichts des Umfangs und der Form der Proteste von Beginn an etwas desorientiert zu sein schien, was in nicht sehr glücklichen Äußerungen insbesondere der Vertreter der Bürgerkoalition zum Ausdruck kam.

Die ersten Forderungen der Protestierenden zielten auf das Regierungslager. Dabei tauchten auch viele Vulgarismen auf, die die Regierung scharf zum Rücktritt und zum Machtverzicht aufforderten. Beispielsweise wurde der Fluch »Fick die PiS« (»jebać PiS«) auf Plakaten auch in Form von acht, die Buchstaben signalisierenden Auslassungssternchen dargestellt (***** ***), wodurch die Grobheit des Schimpfwortes nicht direkt mitgeteilt, aber indirekt aufrechterhalten wurde. Weitere Forderungen und Slogans bezogen sich auf die Kirche, die nach Meinung der Teilnehmer des Streiks übermäßig auf die Politik in Polen Einfluss nimmt. Dies hatte zur Folge, dass viele Oppositionspolitiker dazu aufriefen, die Angriffe auf die Kirche einzustellen und die Ausdrucksweise zu mäßigen. Beispielsweise äußerte dies die ehemalige Präsidentschaftskandidatin der KO, Małgorzata Kidawa-Błońska, in den Medien, woraufhin ihre katholische und konservative Einstellung als Verrat an den Frauen und den Forderungen der Protestierenden nach Gleichstellung aufgefasst wurde. Zweifellos waren ihre Reaktion ebenso wie die Kommentare vieler, insbesondere männlicher, KO-Politiker, die die Protestierenden zur Mäßigung ihrer Ausdrucksweise und zur Einstellung ihrer Angriffe auf die Kirche aufriefen, Ausdruck dessen, dass sie das Wesen und das Ausmaß der Proteste nicht verstanden. Diese waren auch gegen alle politischen Kräfte gerichtet, welche die Trennung von Kirche und Staat bisher nicht vollzogen hatten, mit den Kirchenoberen »flirteten« und den Frauen und LGBT+-Personen keine vollständige Gleichberechtigung in der polnischen Gesellschaft garantierten, denn dies akzeptierte die Kirche nicht, die sich als Wächter des »traditionellen« Familienverständnisses versteht. Nicht bedeutungslos waren in diesem Zusammenhang auch mehrere Missbrauchsskandale, bei denen wichtige Vertreter der Kirche in Polen beteiligt waren (u. a. der zu Zeiten der Solidarność-Opposition geschätzte Kardinal Henryk Gulbinowicz, der des sexuellen Missbrauchs von Kindern beschuldigt wurde). Dies verstärkte die negativen Emotionen gegenüber dieser Institution und unterstrich die Glaubwürdigkeit der Protestierenden. Festzuhalten ist allerdings auch, dass Vertreterinnen der Opposition, so Barbara Nowacka (KO), die von einem Polizisten mit Pfefferspray angegriffen wurde, obwohl sie ihren Abgeordnetenausweis zeigte, und Parlamentarierinnen der Linken (Lewica) wie Magdalena Biejat, an den Protesten teilnahmen, die Festgenommenen unterstützten, wesentliche Fragen und Themen des Landesweiten Frauenstreiks in die Parlamentsdebatten einbrachten und dies alles mit einem guten Gespür für die Situation taten. Gleichzeitig unterstrichen die Anführerinnen des Landesweiten Frauenstreiks, u. a. Marta Lempart, Klementyna Suchanow und Natalia Pancewicz, von Beginn an, dass sie nicht daran interessiert sind, an der Politik auf andere Weise teilzunehmen als in Form der Organisation von Protesten und des Kampfes für die Verwirklichung der Forderungen des Landesweiten Frauenstreiks. Das ist insofern wichtig, als die polnische Gesellschaft ein negatives Verhältnis zu politischen Parteien hat und ihnen nicht traut. Das hat zur Folge, dass Anregungen für eine politische Schärfung gesellschaftlich wesentlicher Forderungen in Polen einen negativen Beigeschmack haben, sogar wenn sie mit Blick auf die Umsetzungsmöglichkeiten der Forderungen einleuchtend sind. Aus diesem Grund sprachen die Organisatorinnen und Organisatoren der Proteste eher über gesellschaftliche Ideen der Komitees und Räte als über Gespräche mit Oppositionspolitikern über Möglichkeiten politischen Handelns. Interessant ist, dass das Gremium, das zielgerichtet die politischen Forderungen der Protestierenden ausarbeiten und die Art und Weise ihrer Umsetzung bestimmen soll, der »Konsultationsrat« wurde. Damit wird auf den Konsultationsrat in Belarus angespielt, der dort im Zusammenhang mit den allgemeinen Protesten gegen die mutmaßlich gefälschten belarussischen Präsidentenwahlen gegründet wurde. Selbst die Wahl der Vertreter des Konsultationrates wurde Thema einer allgemeinen Debatte (und Kritik), was den großen Druck vor Augen führt, der die Organisatoren der Proteste begleitet.

Abstand – oder wir werden alle sterben

Abstand – oder wir werden alle sterben, dieser bekannte Ausspruch (eine Paraphrase eines Zitates aus dem Roman »Mit Feuer und Schwert« des polnischen Nationaldichters Henryk Sienkiewicz) meint nicht die Praxis des Abstand Haltens in Zeiten der Corona-Pandemie, sondern offenbart ein Kernelement der Demonstrationen, das heißt Distanz und Humor. Die Folge war, dass sich auch junge Menschen mit den Forderungen der Proteste identifizierten und die sozialen Medien genutzt wurden, um die interessantesten Slogans der Transparente und Schilder zu verbreiten. Dabei hatte das Spöttische der Anti-Regierungsslogans auch zum Ziel, die Botschaft von der »Peinlichkeit« der Regierungsparteien zu unterstreichen, die insbesondere die jungen Menschen davon abhält, sie zu wählen. Ein ähnlicher Prozess hatte in den sozialen Medien schon vor den Parlamentswahlen im Jahr 2015 stattgefunden, wobei hier die PO Zielscheibe des Spottes gewesen war. Das Wahlergebnis zeigte, dass sich diese Strategie ausgezahlt hat, allerdings hatten sie damals die Spindoktoren der PiS ausgearbeitet, während es aktuell die jungen Menschen auf den Straßen sind, die auf diese Weise ihren Widerspruch gegen das Regierungshandeln zum Ausdruck bringen. Während der Demonstrationen kamen auch antikirchliche Slogans zum Einsatz, zum Beispiel »Wir sind die Enkel der Hexen, die ihr nicht geschafft habt zu verbrennen« oder »Wenn Ministranten schwanger werden würden, wäre Abtreibung ein Sakrament«.

Die Proteste sind nicht nur allgemein verbreitet, sondern haben auch eine wichtige Bedeutung insbesondere für junge Menschen, für die Politik noch nie attraktiv war und die zum Religionsunterricht vor allem aufgrund des gesellschaftlichen Drucks oder des Willens ihrer Eltern gingen. Die Proteste weckten eine antiklerikale Stimmung; die Zahl der Kirchenaustritte stieg deutlich ebenso wie der Verzicht auf den Religionsunterricht (was durch die Corona-Epidemie und den Fernunterricht noch unterstützt wurde). Das Interesse der jungen Menschen, insbesondere der jungen Frauen, an Fragen, die aus politischer Perspektive für sie wesentlich sind, beispielsweise Forderungen nach Gleichberechtigung, wuchs. Die Proteste mit ihren spöttischen Parolen erschufen auch einen neuen Personentypus, der neben konkreten und namentlich benannten Politikern des Regierungslagers in Verruf geriet. Es geht hier um die Personifizierung dessen, was die Protestierenden in der Politik nicht wollen, und zwar den einflussreichen Typen, sehr häufig Politiker und Mann, der meint, er sei anderen gegenüber moralisch überlegen, da er in der Endphase des kommunistischen Systems der Volksrepublik auf der richtigen Seite stand, der die katholische Kirche achtet und den Gerüchten über sexuellen Missbrauch durch Geistliche nicht glaubt, der Frauen protektionistisch behandelt. Die Bezeichnung »dziaders« für diesen Typ ist insofern politisch von Bedeutung, als er gleichermaßen Politiker der Opposition (z. B. Senatsmarschall Tomasz Grodzki oder Grzegorz Schetyna, beide aus der KO) meint als auch z. B. die ehemaligen Präsidenten des Verfassungstribunals, Andrzej Zoll und Andrzej Rzepliński, die die protestierenden Frauen wegen ihrer vulgären Sprache kritisierten und als ehemalige Präsidenten des TK ihre konservative Einstellung nicht verbargen. Eine oppositionelle Vergangenheit in der Solidarność, Bekanntschaften mit Bischöfen oder die Beteiligung an der moralischen Fundamentierung des postkommunistischen Polen sind für die jungen Polen keine attraktiven Politikereigenschaften. Die gesellschaftliche Bewegung für eine kulturelle Veränderung und der Zugang der jungen Generation zur Politik hat bereits begonnen. Und auch wenn es keine Revolution ist, wird sich diese Entwicklung mit Sicherheit auf das Ergebnis der kommenden Parlamentswahlen niederschlagen, unabhängig davon, ob sie infolge der Probleme in der Regierungskoalition auf das Frühjahr 2021 vorverlegt oder regulär in drei Jahren stattfinden werden.

In Bewegung gesetzt

Die erste Protestwelle im Rahmen des Landesweiten Frauenstreiks rief eine recht unerwartete Reaktion von Jarosław Kaczyński hervor, der auf dem Facebook-Konto der PiS per Video dazu aufrief, die Kirchen zu schützen. Dabei wies er eine gefährliche Ähnlichkeit zu General Wojciech Jaruzelski auf, der 1981 in Polen das Kriegsrecht verhängt hatte. Es ist schwer zu sagen, inwieweit die Ähnlichkeit beabsichtigt war, aber auf Seiten der Protestierenden und der Opposition rief sie Mitleid und das Gefühl hervor, dass Kaczyński von der gesellschaftlichen Realität abgeschnitten sei, aber nach einer noch stärkeren gesellschaftlichen Polarisierung strebe. Die polnische Gesellschaft ist ziemlich stark gespalten, was nicht einfach nur die politische Spaltung widerspiegelt, sondern auch das Ergebnis des Narrativs der PiS ist, das im Geiste von Carlo Schmitt den »Souverän« in Freunde und Feinde, »unsere« und »die anderen«, einteilt. Auch das Erbe der polnischen Teilungen beeinflusst noch die Spaltung und die Zeit der Volksrepublik Polen und der Transformation, die viele Polen in das Gefühl eines relativen Verlustes trieb sowie auch der Frustration und des Bewusstseins, Transformationsverlierer zu sein. Die Spaltung der Medien in regierungsfreundliche und regierungskritische verstärkt diese Situation. Kaczyński gelang es jedoch, den Ton der regierungsnahen Medien in der Berichterstattung über die Proteste zu verschärfen, gewaltbereite Gegendemonstranten (darunter auch katholische) zu mobilisieren, die bei den Protesten mitunter eine reale Bedrohung darstellten, und schließlich die Maßnahmen der Polizei gegenüber den Protestierenden zu radikalisieren, was insbesondere bei den Protesten Ende November zutage trat.

Nach einer Umfrage des Meinungsforschungsinstituts »Kantar« vom 19. November 2020 unterstützten über 70 Prozent der Befragten die Proteste der Frauen und 13 Prozent nahmen an ihnen aktiv teil. Das ist das höchste Ergebnis seit einigen Jahrzehnten. Die gesellschaftliche Bewegung, die sich infolge des Urteils des Verfassungstribunals formierte, hat also ein großes politisches Potential. Mehr noch, die Proteste bewirkten – sicherlich unterstützt durch die Pandemie-Situation – einen Rückgang der Unterstützung für die PiS und die Partei Konföderation in den Meinungsumfragen sowie wachsende Zustimmung für Szymon Hołownia und die Bürgerkoalition. Um allerdings auf eine tatsächliche politische Veränderung Einfluss nehmen zu können, bedarf es den klassischen Theorien von Charles Tilly, Alain Tourraine und Robert Putnam zufolge einiger wesentlicher Entscheidungen, Handlungen, aber auch Umstände, die unter den Bedingungen der pandemiebedingten Beschränkungen sowie der Verletzung demokratischer Grundrechte schwerlich auszumachen sind.

Erstens müssen sich die regierenden Akteure von der gesellschaftlichen Bewegung deutlich bedroht fühlen, damit sie deren Forderungen in ihrem Handeln berücksichtigen, während die Forderungen selbst zumindest teilweise relativ ungefährlich für die Regierenden sein müssen. Hier wird bereits die erste Schwierigkeit des Landesweiten Frauenstreiks sichtbar, der im Rahmen des Konsultationsrates eine ganze Reihe von Forderungen aufstellte, u. a. nach vollen Rechten für Frauen und LGBT+-Personen, einem säkularen Staat, Rechtsstaatlichkeit, Verbesserungen im Gesundheitswesen, einer fundierten Bildung, freien Medien und Verbesserungen für Kinder. Die Anzahl und der thematische Umfang der Forderungen scheinen darauf hinzuweisen, dass die Mitglieder des Konsultationsrates versuchen, mit ihren Forderungen eine größtmögliche Anzahl von Bürgern zu erreichen, um auf diese Weise die Chance auf eine allgemeine Identifikation mit den Forderungen zu erhöhen. Unterdessen hat die PiS nicht nur den antidemokratischen Kurs nicht abgemildert, sondern ihn noch verschärft: Sie drohte, bei der Verabschiedung des EU-Haushaltspakets – dieses umfasst auch ein Corona-Hilfsprogramm für die EU-Mitgliedsstaaten –, ein Veto einzulegen, und sie übernahm mit Hilfe des staatlichen Ölkonzerns Orlen einen Herausgeber der lokalen Presse, die ca. 17 Millionen Polen erreicht. Es ergibt sich daher die zweite Frage, und zwar nach dem Austausch der Eliten, die dann eine Umsetzung der Forderungen vornehmen können. Hier ist allerdings die Zusammenarbeit mit der Opposition notwendig. Diese aber beeilt sich in Zeiten der Corona-Pandemie nicht, die Regierungsverantwortung zu übernehmen. Die Opposition in Polen scheint nicht zu verstehen, dass die Zeit gegen die Regierung arbeitet, die Schwächen im Umgang mit der Pandemie zeigt, aber auch gegen die Opposition, die infolge undemokratischer Methoden der Regierung (z. B. Ausnutzung der Medien zu propagandistischen Zwecken, Wahlkreisschiebung, Austausch von Richtern zu Gunsten kompromissbereiter und nachgiebiger Funktionsträger) die Möglichkeit verlieren kann, künftige Wahlen zu gewinnen. Die gesellschaftliche Bewegung selbst brachte keine einschlägigen Führungspersonen hervor und das war auch nicht ihr Ziel, obgleich einige Anführerinnen des Landesweiten Frauenstreiks vielleicht bei den kommenden Wahlen ins Parlament einziehen könnten.

Es sieht allerdings aktuell so aus, dass die polnische Politik in der nächsten Zeit vor allem von Faktoren beeinflusst wird, für welche die gesellschaftliche Bewegung nur Beiwerk im Hintergrund ist (auch wenn sie langfristig eine größere Rolle schon vor den Wahlen spielen kann). Faktoren wie eine Wendung in der Regierungskoalition, beispielsweise infolge des heftigen Konfliktes zwischen Kaczyński und Ziobro, der radikale politische Entscheidungen wie vorgezogene Wahlen zur Folge haben kann, der entzündete Streit mit der Europäischen Union, bei dem diese Schritte unternimmt, die auf die politische Bühne in Polen Einfluss haben, die Entwicklung der Corona-Pandemie in Richtung eines vollständigen Kontrollverlustes der Regierung oder aber auch ein vollkommen unvorhersehbarer Faktor, der sog. »game changer«. Wahrscheinlich ist allerdings das Szenario, dass sich die PiS (mit dem mehr oder weniger untergeordneten Zbigniew Ziobro) eine langjährige Regierungsdauer mit undemokratischen Methoden sichert und die Proteste, auch wenn sie nicht erlöschen, keinen realen Einfluss auf eine politische Veränderung nehmen, sondern nur eine langsame kulturelle Veränderung zeitigen. Allerdings weist alles darauf hin, dass sich die Zeiten, in denen Jarosław Kaczyński die politische Situation in Polen vollständig kontrollierte, dem Ende nähern.

Übersetzung aus dem Polnischen: Silke Plate

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