Das Misstrauen der Machthaber, die Offenheit der Bürger – Belarus und die komplizierten Beziehungen zu Polen

Von Kamil Kłysiński (Zentrum für Oststudien, Warschau)

Zusammenfassung
Die Einstellung der belarussischen Machthaber zu Polen, insbesondere zu den polnischen Machteliten, wird relativ selten behandelt. Das Regime von Alexander Lukaschenko zeigte wiederholt sein tiefes Misstrauen gegenüber Polen, so auch aktuell angesichts der politischen Krise in Belarus. Der Autor führt die ablehnende Haltung auf historische Ereignisse zurück, die u. a. in der Epoche des späten Mittelalters liegen und immer noch die Denkweise und das Handeln der belarussischen Machthaber gegenüber dem polnischen Nachbarn beeinflussen. Demgegenüber zeigt die belarussische Gesellschaft eine offenere und positivere Wahrnehmung Polens und interessiert sich zunehmend für den polnischen Arbeitsmarkt und die Hochschulen in Polen. Es scheint, dass gerade in der belarussischen Gesellschaft das Potential liegt, bessere bilaterale Beziehungen aufzubauen, die nicht so stark von historischen Ereignissen belastet sind.

Im Narrativ der belarussischen Machthaber wird Polen und insbesondere seine politische Klasse häufig als Feind dargestellt, der versucht, seine politischen, kulturellen und wirtschaftlichen Einflüsse in Belarus zu vergrößern. Im Extremfall kommt es sogar zu Anschuldigungen, dass Polen die Absicht habe, den Belarussen ihren souveränen Staat zu nehmen, und zwar indem das belarussische Territorium zusammen mit Russland aufgeteilt oder aber in Gänze Polen einverleibt wird. Über die Einzelheiten, wie ein solcher Plan ausgeführt werden könnte, wird allerdings keine Klarheit hergestellt. Diese Rhetorik taucht vor allem in Phasen der Spannungen zwischen Minsk und Warschau auf und lässt sich gewöhnlich in den größeren Kontext der sich abkühlenden Beziehungen zwischen Belarus und der Europäischen Union einordnen. Mit einer solchen Situation, aber in einer bisher beispiellos radikaleren Version, haben wir es aktuell zu tun, in einer Zeit, in der das autoritäre Regime von Präsident Alexander Lukaschenko brutal die Massendemonstrationen im eigenen Land unterdrückt, die seit der Präsidentenwahl am 9. August 2020 in Belarus stattfinden. Wie in den vorangegangenen Krisen im Dialog zwischen Minsk und dem Westen (die ebenfalls im Zusammenhang mit den belarussischen Präsidentenwahlen im Jahr 2006 und 2010 auftraten) befindet sich Polen auch jetzt in der »vordersten Frontlinie«. Es scheint eine große Vereinfachung zu sein, diesen Status quo allein mit der deutlichen Kritik Warschaus an den autoritären Methoden der Machtausübung von Alexander Lukaschenko zu erklären. Die Wurzeln der feindseligen oder zumindest misstrauischen Haltung der belarussischen Führung gegenüber Polen liegen sehr viel tiefer und lassen sich vor allem auf die schwierige gemeinsame Geschichte zurückführen.

Der Minderwertigkeitskomplex – schwierige Koexistenz in gemeinsamen Staatenbünden

Die im Jahr 1385 geschlossene Personalunion zwischen Königin Hedwig (Jadwiga) von Polen und dem litauischen Großfürsten Władysław Jagiełło (so sein polnischer Name) setzte die Errichtung eines gemeinsamen Staates in Gang, der seit dem 16. Jahrhundert als »Republik beider Nationen« bezeichnet wurde. Auch wenn der Name Großfürstentum Litauen nicht direkt auf eine belarussische Komponente verweist, war deren Anteil an den staatlichen Strukturen des Fürstentums bedeutend. Es reicht darauf hinzuweisen, dass alle Dokumente der staatlichen Kanzlei in ruthenischer Sprache [Vorläufer des Belarussischen, d.Red.] verfasst wurden, da die Schriftkultur der damals regierenden litauischen Fürstengeschlechter nicht ausreichend ausgebildet war. Daher rührt auch die in der belarussischen Geschichtsschreibung (teilweise begründete) dominierende Überzeugung, dass das Großfürstentum Litauen zum belarussischen historischen Erbe und staatlichen Tradition gehört. Diese Ansicht ist auch im allgemeinen historischen Bewusstsein der Bürger verbreitet, insbesondere derjenigen Belarussen, die sich für die Vergangenheit ihres Landes interessieren, sowie der Machtelite. Begleitet wird sie von der Überzeugung, dass der Zusammenschluss des Großfürstentums Litauen mit dem wirtschaftlich, militärisch und kulturell stärkeren Königreich Polen zwar die Unterstützung im Kampf gegen den Deutschen Orden garantierte, aber letztlich zur Dominanz über die kulturell schwächeren Eliten des Fürstentums führte und langfristig zu deren Polonisierung. Auf dieser Grundlage entwickelte sich die Position, dass der aus dem Westen gekommene polnische Adel (szlachta) eine Art historisch-kultureller »Enteignung« der belarussisch-litauischen Eliten des Großfürstentums Litauen vollzogen habe. Der polnische Adelsstand wird noch heute in der wissenschaftlichen und belletristischen Literatur als »polnische Herren« bezeichnet, wobei sich im verwendeten Begriff »Herr« (Pan) die starke und ziemlich ironische Anspielung auf die in der polnischen Sprache häufig präsente, im Russischen oder Belarussischen aber kaum verwendete höfliche Anrede verbirgt. Vor diesem Hintergrund tritt im belarussischen historischen Narrativ auch gegenwärtig ein Verteidigungsimpuls auf, der sich darin äußert, dass um jeden Preis der belarussische Charakter des Großfürstentums Litauen herausgestellt wird. Diese Strömung unterstützte in den letzten Jahren auch Präsident Alexander Lukaschenko, der darin eine Gelegenheit sah, die belarussische Souveränität zu unterstreichen. Beispielsweise sagte er im Jahr 2012: »Die Bemühungen hören nicht auf, die Bedeutung der slawischen Wurzeln der belarussischen Nation zu schmälern und unsere Vergangenheit in der Geschichte Polens sowie Litauens aufgehen zu lassen.« Als er in einem Interview mit dem russischen Radiosender »Echo Moskau« im Dezember 2019 diesen Gedanken aufgriff, sagte er schlicht und einfach, dass »das Großfürstentum Litauen ein belarussischer Staat war. Und niemand bestreitet das heute.«

Auch wenn die »Republik beider Nationen« Ende des 18. Jahrhunderts infolge der drei Teilungen zwischen Preußen, Russland und Österreich aufgelöst wurde, waren aus belarussischer Perspektive die Auswirkungen der Polonisierung weiter spürbar und sind mit Blick auf die Verzögerung des belarussischen Prozesses des nation building bis heute folgenschwer. Belarussische Historiker sehen eine so starke Gefahr von der Wirkung der polnischen Kultur und Sprache ausgehen, dass sie die damalige Eingliederung des belarussischen Gebietes in das zaristische Russland als wirksame Beschränkung für die fortschreitende Polonisierung der damaligen Bevölkerung bewerten, was ihrer Auffassung nach half, unter der Schirmherrschaft Russlands die ostslawische Kultur wiederzubeleben.

Von größter Bedeutung für die gegenwärtigen Beziehungen der belarussischen Eliten zu Polen ist jedoch die historische Bedeutung der Zweiten Republik Polen, also des polnischen Staates, der nach dem Ersten Weltkrieg entstand und im Jahr 1939 infolge des deutschen und anschließend des sowjetischen Überfalls auf Polen von der Landkarte verschwand. Die Gebiete des heutigen Westbelarus, die damals zu Polen gehörten, unterlagen nach Ansicht belarussischer Historiker einer brutalen Polonisierung, die mit Beschränkungen für die orthodoxe Kirche und Eingriffen in die Rechte der belarussischen Minderheit (damals ca. drei Prozent der Bevölkerung) einherging. Diese betrafen v.a. das Recht sich zu versammeln und kulturelle und Bildungsaufgaben auszuüben. Das berüchtigte Internierungslager in Bereza Kartuska (heute Bierioza im belarussischen Bezirk Brest), das 1934 in der damaligen polnischen Woiwodschaft Polesien eingerichtet wurde, wird in der belarussischen Literatur häufig als Konzentrationslager bezeichnet, insbesondere im Zusammenhang mit den tragischen Schicksalen der dort festgesetzten belarussischen Aktivisten.

Ein weiteres wichtiges Schlüsselwort und propagandistisch eingesetztes Argument, um das gegenwärtige Polen und sein Erbe zu beurteilen, ist in Belarus der Begriff der östlichen Grenzgebiete (kresy) der Zweiten Republik Polen. Aus Sicht der Führung in Minsk wurden sie in den 20 Jahren zwischen Erstem und Zweitem Weltkrieg von den »nationalistischen« polnischen Eliten in Warschau ausgebeutet. Und auch wenn – ähnlich wie im Falle des Großfürstentums Litauen – die kritischen Urteile teilweise begründet sind, muss unterstrichen werden, dass das Argument der kresy sowohl von einem Teil der Wissenschaftler als auch der regimetreuen Journalisten sowie vor allem der politischen Vertreter missbräuchlich eingesetzt wird: Vorgeworfen wird der aktuellen politischen Klasse Polens, territoriale Ambitionen zu haben, mit dem Ziel, die ehemaligen östlichen Grenzgebiete wiederzuerlangen, da ihr Verlust die polnische Politik und öffentliche Meinung angeblich so sehr »quäle«. Es muss jedoch mit aller Deutlichkeit gesagt werden, dass keine der aktuell in Polen bestehenden politischen Parteien eine Revision der Grenzen fordert und es auch die Fähigkeit der erfahrensten Politologen übersteigen würde, solche Meinungen in der Publizistik oder unter extremistischen Aktivisten ausfindig zu machen.

Vor dem dargestellten Hintergrund scheinen die von Lukaschenko wiederholt geäußerten Beschuldigungen in gewisser Weise nachvollziehbar, dass Warschau danach strebe, die Außengrenze in der Region zu seinem Vorteil zu verschieben. Nachvollziehbar allerdings einzig und allein im Sinne einer Projektion seines Denkens über ein wichtiges Nachbarland. Das beste Beispiel ist die mehrmals vom belarussischen Präsidenten – übrigens selbst Historiker – wiederholte These von den Grenzen Polens, die »bis nach Minsk gezeichnet« sind, wobei klar ist, dass er sich auf den polnisch-sowjetischen Grenzverlauf vor 1939 bezieht. Die Intensität der negativen Emotionen im Zusammenhang mit der gemeinsamen polnisch-belarussischen Geschichte führt belarussische Publizisten mitunter zu sehr starken Formulierungen. Ein extremes Beispiel sind Anspielungen, dass es einem Verrat am Staat gleichkomme und bestraft werden solle, wenn ein Bürger Belarus‘ die Polen-Charta annimmt. (Die Polen-Charta wurde im Jahr 2008 von der polnischen Regierung für Polen eingeführt, die außerhalb Polens leben; sie richtet sich vor allem an die polnische Minderheit in den Ländern der ehemaligen Sowjetunion und erleichtert die Einreise und Arbeit in Polen.) Weiter kam es – auch im präsidialen Presseorgan – zu Behauptungen, dass es das endgültige Ziel Warschaus sei, in der polnischen Minderheit, die vor allem im Bezirk Grodno lebt, Aufruhr zu schüren und dann dieses Gebiet Polen anzuschließen. Objekt der massiven Kritik wurde regelmäßig der nach belarussischem Recht illegale Bund der Polen in Belarus (parallel zu ihm gibt es eine Organisation mit demselben Namen, die aber vollkommen loyal gegenüber den belarussischen Machthabern ist). Jener wird von Polen als rechtmäßige Minderheitenorganisation unterstützt und ist aus Sicht des autoritären Regimes eine Gefahr für das Machtgefüge. Mit dieser Rhetorik gingen auch konkrete Aktivitäten einher, zum Beispiel wurde den belarussischen Bürgern der Zugang zu staatlichen Archiven erschwert, welche Dokumente ausgeben könnten, die die polnischen Wurzeln belegen; auch kam es zu noch viel weitreichenderen Restriktionen für Staatsbedienstete, denen mit Kündigung gedroht wurde, sollten sie die Polen-Charta annehmen.

Die hier skizzierten Pfade der polnisch-belarussischen Geschichte sind jedoch nicht so von Animositäten oder gar Hass gespeist, wie es bei den polnisch-ukrainischen Beziehungen beobachtet werden kann. Zum Glück für beide Seiten gibt es hier kein so dramatisches und blutiges Ereignis wie das Massaker, das die Ukrainische Aufständische Armee (UPA) 1943 an den Polen in Wolhynien verübte. Nichtsdestoweniger ist das Gefühl historischen Unrechts, das von den »polnischen Herren« in verschiedenen Epochen zugefügt wurde, auf der belarussischen Seite so stark, dass man von einer Art Minderwertigkeitskomplex gegenüber dem gegenwärtigen Polen sprechen kann, der insbesondere bei den belarussischen politischen Eliten zu finden ist. Wenn auch im gesellschaftlichen Kontext, aus der Perspektive des gewöhnlichen Belarussen, das Verhältnis zu Polen wenn nicht positiv, so doch zumindest neutral ist (davon im Folgenden mehr), ist auf Seiten der belarussischen offiziellen Politik ständig eine beträchtliche Dosis Misstrauen und Argwohn zu spüren. In Zeiten besonderer politischer Krisen wandelt sie sich in offene Hetze – so zirkulieren aktuell vollkommen ernsthaft formulierte Warnungen vor einem bewaffneten Überfall der polnischen Streitkräfte gemeinsam mit ihren NATO-Partnern auf Belarus. Wichtig ist hier auch der politische Aspekt, denn es ist nicht ausgeschlossen, dass ein Teil der oben angeführten Unterstellungen der zynischen Kalkulation entspringt, die »polnische Karte« zu Propagandazwecken einzusetzen, um die eigene Gesellschaft zu integrieren und gegenüber äußeren »Gefahren« zu mobilisieren. Polen wurde in den 30 Jahren seiner Beziehungen zum unabhängigen Belarus mehrmals das Hauptziel von Propagandaangriffen aus Minsk und sah sich in der undankbaren Rolle des äußeren »Lieblingsfeindes«, dessen ungeachtet, dass es sich hier um Projektionen des belarussischen Regimes handelte, die nicht vollständig der Geschichte der polnisch-belarussischen Beziehungen entsprachen.

Ein wichtiger Zusatz der belarussischen Kritik ist der häufig angeführte internationale Kontext. Gezeigt werden soll, dass das angeblich feindliche Handeln der polnischen Regierung in enger Absprache mit den Regierungen der stärkeren westlichen Staaten stattfindet, wobei diese natürlich ebenfalls als »Feinde« von Belarus unter Alexander Lukaschenko gelten. Diese Kategorie führen die USA an, ebenso wie die NATO als politisch-militärischer Block. Einerseits ist dies auf die immer noch starke Tradition der sowjetischen Propaganda zurückzuführen, andererseits scheint dies auch dem Bedürfnis geschuldet zu sein, zu zeigen, dass Polen den westlichen »Protektoren« untergeordnet ist.

Die polnische Unterstützung der Zivilgesellschaft

Im Zusammenhang mit dem – insbesondere für die belarussische Seite – schweren historischen Gepäck sind es aktuelle Fragen, die den Blick Minsks auf die polnische Politik prägen und hier haben die verschiedenen Formen von Unterstützung für die politische Opposition in Belarus, für die unabhängigen Medien und zivilgesellschaftlichen Organisationen besondere Bedeutung. Die jahrzehntelange Praxis der polnisch-belarussischen Beziehungen zeigt, dass Minsk fast alle politischen Aktivitäten Warschaus, die sich an die belarussischen Machthaber bzw. Bürger richten, voreingenommen beurteilt. Das führt dazu, dass es offiziell heißt, Polen versuche seine östlichen Grenzgebiete wieder zu errichten, wenn die aktuelle polnische Politik aktiv demokratische Initiativen in Belarus unterstützt. Warschau begründet dies jedoch mit einem Pflichtgefühl angesichts der westlichen Unterstützung für die Solidarność-Bewegung in den 1980er Jahren und lässt sich von einem authentischen Impuls, demokratische Werte in der Region zu befürworten, leiten. Die territoriale Expansion und das Streben nach politischem Einfluss ist der fast reflexhafte Vorwurf an jedes Projekt mit polnischer Beteiligung. Entsprechend wurde bereits im Jahr 1995, also am Anfang der ersten Amtszeit von Präsident Lukaschenko, der Streik der Minsker Metro-Belegschaft als Verschwörung des US-amerikanischen CIA und der polnischen Gewerkschaft Solidarność abgehandelt. In den folgenden Jahren blieben Inhalt und Logik dieser Kritik unverändert, es tauchten nur neue polnische oder von Polen unterstützte Organisationen oder Institutionen auf, die der Unterwanderung des »stabilen« Belarus bezichtigt wurden. So wurde und wird immer noch der 2007 ins Leben gerufene und aus Warschau sendende unabhängige belarussische Fernsehsender »Bielsat« beurteilt, der durch die letztlich nicht gelungene Aktion ausgeschaltet werden sollte, dass den Belarussen die Satellitenantennen weggenommen wurden. Bekämpft wurde auch das im Jahr 2006 aufgelegte Konstanty Kalinowski-Stipendienprogramm der polnischen Regierung, das sich an belarussische Studierende richtet, die aus politischen Gründen ihrer Universität verwiesen wurden. Beispielsweise wurde versucht, die Studenten einzuschüchtern, indem sie bei jedem Heimatbesuch in Belarus mit der Einberufung zum Militärdienst bedroht wurden. Gegenstand scharfer Kritik ist auch das in Polen ansässige regierungskritische Internetportal »Charter97«, welches das belarussische Regime wegen seiner großen medialen Aktivität, bedeutenden Nutzerzahlen (mindestens 200.000 Leser monatlich) sowie der scharfen regierungskritischen und kompromisslosen Haltung der Redaktion ziemlich irritiert. Zurzeit allerdings, im Zusammenhang mit den Massenprotesten infolge der belarussischen Präsidentenwahl vom 9. August 2020, hat sich zum größten Unruheherd der in Polen wirkende Blogger mit dem Pseudonym NEXTA entwickelt, dessen Kanal in den sozialen Medien noch im August die Rekordzahl von zwei Millionen Nutzern überschritt. Auch dieses Mal fiel in der Minsker Rhetorik sowie von Lukaschenko persönlich formuliert der Vorwurf, dass die Proteste nach der Präsidentenwahl in Belarus aus dem Ausland, das heißt in diesem Fall aus Polen, »gelenkt« seien. Es hat schon Tradition, dass die Propaganda des Regimes auch dieses Mal die Absicht unterstellt, Polen wolle die »Kontrolle« über Belarus gewinnen. Die historischen Komplexe und Stereotype sind so groß, dass das belarussische Regime in seiner misstrauischen Beurteilung der polnischen Unterstützung für den NGO-Sektor vergisst, dass die eigentliche Ursache für die zahlenstarke und aktive belarussische politische Emigration in Polen die restriktive Innenpolitik des autoritären Regimes von Alexander Lukaschenko ist.

Die positive Einstellung der belarussischen Bürger

Im Unterschied zu der wenig freundlichen und misstrauischen Haltung der belarussischen Machthaber zeigen die Bürger von Belarus eine größere Offenheit gegenüber Polen. Laut regelmäßig bis zum Jahr 2016 durchgeführter Meinungsumfragen des unabhängigen soziologischen Zentrums »NISEPI« (auf Druck der Machthaber war es gezwungen, die Befragungen einzustellen) bewerteten um die 60 Prozent der belarussischen Gesellschaft Polen als freundschaftlich eingestelltes Land. Zu einem ähnlichen Ergebnis kam im Jahr 2012 die Befragung von »Zerkalo-Info«, eines anderen unabhängigen Instituts, sowie auch die Anfang 2019 durchgeführte Meinungsumfrage des Instituts für Information und Analyse der belarussischen Regierung. In allen genannten Umfragen äußerten sich nur elf bis zwölf Prozent der Befragten negativ über Polen. Das bestätigt die im Allgemeinen positive Einstellung der Mehrheit sowie die neutrale Haltung eines recht großen Anteils der Bürger (die sich nicht in der Lage sahen, eine Antwort auf die Frage nach ihrer Meinung über die polnischen Nachbarn zu geben). Und auch wenn Polen in diesen Rankings unverändert hinter Russland blieb, das Belarus kulturell und politisch näher steht, lässt sich die gesellschaftliche Einstellung gegenüber den Polen als wohlwollend und zugewandt bezeichnen.

Ein ebenfalls wichtiger Beweis für die vergleichsweise positive Haltung der belarussischen Bürger gegenüber Polen ist die Zahl der Arbeitnehmer aus Belarus auf dem polnischen Arbeitsmarkt. Das vorteilhafte Gehaltsniveau, die niedrigeren oder vergleichbaren Lebenshaltungskosten, die kulturelle und mentale Nähe (wenn auch nicht so weitreichend wie gegenüber Russland) sowie zahlreiche administrative Erleichterungen hatten zur Folge, dass sich in den letzten Jahren immer mehr Belarussen entschieden haben, in Polen zu arbeiten, und zwar nicht nur im Bereich der körperlichen Arbeit, zum Beispiel als Bauarbeiter, Verkäuferinnen oder Haushaltshilfen, sondern auch in hochqualifizierten Branchen, beispielsweise in medizinischen Berufen, im Bankgeschäft oder im IT-Bereich. Daten der polnischen Sozialversicherungsanstalt (Zakład Ubezpieczeń SpołecznychZUS) zufolge betrug die Zahl der in Polen Versicherten im Dezember 2019 über 40.000. Damit stehen sie an zweiter Stelle hinter den Ukrainern, die die Liste der Arbeitsmigranten anführen. Die Popularität der Emigration in Richtung Polen wuchs in Belarus in den letzten Jahren so sehr, dass sogar in der südöstlich gelegenen Großstadt Gomel, die sich bisher am näher gelegenen Russland bzw. der Ukraine orientiert hatte, mehrmals täglich eine Autobusverbindung nach Polen angeboten wurde. In der Mehrheit der unabhängigen belarussischen Internetportale sind Angebote von rund 50 Firmen, die Arbeitsstellen in Polen vermitteln, präsent. Immer mehr junge Belarussen studieren an polnischen Hochschulen, was ebenfalls das Interesse an Polen zeigt. Im akademischen Jahr 2018/19 stellten die Studierenden aus Belarus fast zehn Prozent (ca. 7.000 Personen) aller ausländischen Studierenden und belegten, ähnlich wie am Arbeitsmarkt, nach den Ukrainern den zweiten Platz. Ein Ergebnis (und eher nicht eine Ursache) der zunehmenden Präsenz von Belarussen in der Wirtschaft und im Bildungssystem Polens ist die ständig wachsende Beliebtheit von Polnischkursen. Sie werden nicht nur in den Großstädten Minsk, Grodno und Brest organisiert, sondern auch in kleineren Städten. Vermutlich werden auch die tiefgreifende politische Krise, in der sich Belarus seit der Präsidentenwahl im August befindet, und die damit einhergehende wirtschaftliche Rezession zu einem noch größeren Interesse an Polen als Ziel für eine vorübergehende oder dauerhafte Emigration führen, wenn auch die durch die Covid-19-Pandemie bedingten Einschränkungen die Dynamik dieser Entwicklung verlangsamen.

Feindlich oder freundlich?

Unternimmt man den Versuch, das Polen-Narrativ, das die belarussische Führung in den letzten 30 Jahren gepflegt hat, breiter in den Blick zu nehmen, lässt sich der Eindruck tragischer Wiederholung kaum vermeiden. Die Beziehungen des offiziellen Belarus zu Warschau schwanken – abhängig von der innenpolitischen Situation in Belarus und seinen Beziehungen zu den Nachbarn – zwischen kaum maskiertem Misstrauen in Zeiten des Dialogs und aggressiver Kritik in Phasen ernster Spannungen. Das ist sicher einer der Gründe für den geringen, beide Seiten enttäuschenden rechtlich-vertraglichen Fortschritt sowie den gleichzeitig weiter bestehenden umfangreichen Katalog an Diskrepanzen, wozu beispielsweise der Status eines Teils der polnischen Minderheitenorganisationen oder der seit 2010 nicht umgesetzte Vertrag über den Kleinen Grenzverkehr gehören. Beladen mit dem Ballast historischer Komplexe und der für alle autoritären Regime charakteristischen Angst vor »umstürzlerischen« Aktivitäten, die von außen unterstützt werden, war die belarussische Führung in keiner Phase seit Bestehen der beiden unabhängigen Staaten in der Lage, tatsächlich einen Dialog aufzunehmen, der auf Vertrauen und der Kultur des Kompromisses gründet.

Gleichzeitig bietet die im Vergleich dazu offenere Einstellung der belarussischen Gesellschaft eine Chance, dass sich dieser Zustand verändert und die positiven Verbindungen zwischen beiden Nationen gestärkt werden. Mehr noch, es scheint, als werde die von der staatlichen Propaganda betriebene aggressive und oftmals manipulierte Informationsoffensive zur Diskreditierung des polnischen Nachbarn infolge der wachsenden Skepsis und des Aufruhrs der belarussischen Bürger gegen das Regime eine immer geringere Rolle spielen. Es besteht die Hoffnung, dass eben diese offenere und von unnötigen historischen Komplexen freie Haltung der Mehrheit der belarussischen Gesellschaft gegenüber Polen und den Polen ein Ausgangspunkt sein kann, um eine neue, bessere Grundlage für die beiderseitige Zusammenarbeit in der Zukunft zu legen.

Übersetzung aus dem Polnischen: Silke Plate

Der Beitrag gibt die private Meinung des Autors Kamil Kłysiński wieder.

Lesetipps / Bibliographie

Zu aktuellen politischen, wirtschaftlichen, gesellschaftlichen und kulturellen Entwicklungen in Belarus bieten die Belarus-Analysen kompetente Einschätzungen. https://www.laender-analysen.de/belarus-analysen/

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