Die deutsche EU-Ratspräsidentschaft 2020. Polnische Perspektiven und Erwartungen

Von Lidia Gibadło, Melchior Szczepanik (beide Polnisches Institut für Internationale Angelegenheiten, Warschau)

Zusammenfassung
Deutschland übernimmt den Vorsitz im Rat der Europäischen Union zu einem außergewöhnlichen Zeitpunkt. Die EU kämpft mit der Corona-Pandemie und ihren wirtschaftlichen Folgen und zwischen den Mitgliedsstaaten bestehen gewichtige Meinungsverschiedenheiten über die wirksamste Einführung und Finanzierung von Maßnahmen. Das wichtigste Ziel der Ratspräsidentschaft wird sein, einen Kompromiss beim mehrjährigen EU-Finanzrahmen (2021–2027) und dem ihn begleitenden Wiederaufbaufonds zu finden. Weitere Interessen der Bundesrepublik sind die Klima- und die Digitalisierungspolitik. Die deutsch-französische Initiative vom Mai 2020 ist ein optimistisches Signal, denn sie zeigt die Akzeptanz der Regierung von Bundeskanzlerin Angela Merkel, gemeinsame Instrumente für die Bekämpfung der Krise zu entwickeln. Polen erwartet, dass Deutschland während der EU-Ratspräsidentschaft seine europäische Strategie der letzten Jahre fortsetzt, die darauf beruht, die verschiedenen Visionen zur Zukunft Europas in Einklang zu bringen.

Der Vorsitz im Zustand erhöhter Anspannung

Deutschland übernimmt den Vorsitz im Rat der Europäischen Union zu einem außergewöhnlichen Zeitpunkt. Obgleich der Höhepunkt der Pandemie überschritten ist, ist der Kampf gegen sie keineswegs abgeschlossen und Epidemiologen schließen weitere Infektionswellen nicht aus. Unter diesen Umständen müssen die EU-Mitgliedsstaaten in Zusammenarbeit mit den EU-Institutionen ihre Wirtschaft wieder in Gang bringen, nachdem sie zwei Monate lang in den Winterschlaf versetzt wurde. Dieser hat eine beispiellose, EU-weite Rezession zur Folge. Prognosen der Europäischen Kommission von Anfang Mai zufolge wird das Bruttoinlandsprodukt der Europäischen Union um 7,4 Prozent schrumpfen.

Die bisherige Bilanz der Bekämpfung der Pandemie in der EU ist relativ positiv. Die Anfänge waren schwierig, weder die Staaten noch die Vertreter von Behörden und Institutionen schätzten die Gefahr richtig ein. Die Ereignisse im März 2020, als es zu einem sprunghaften Anstieg der diagnostizierten Infektionszahlen in den größten Staaten kam, zeigten, dass die Staaten in der Krise ihre eigenen Interessen schützen und sich nicht allzu sehr um europäische Solidarität kümmern. Schädlich war für das Ansehen der Europäischen Union, dass manche Staaten (darunter Deutschland, Frankreich und Polen) den Export von medizinischen Produkten blockierten. Zum Glück unternahmen die Mitgliedsstaaten unter Beteiligung der Präsidenten der Europäischen Kommission und des Europäischen Rates relativ schnell Anstrengungen, um ihre Aktivitäten in größerem Maße zu koordinieren. Allerdings stehen hinter dem allgemeinen Konsens über die Vorteile der Zusammenarbeit Meinungsverschiedenheiten über die besten Vorgehensweisen. Einen Kompromiss zu finden wird dadurch erschwert, dass die Pandemie die Staaten unterschiedlich stark betraf. Am stärksten litten die südeuropäischen Staaten, die angesichts ihrer hohen öffentlichen Schuldenlast beschränkte Möglichkeiten haben, neue Anleihen zur Finanzierung des wirtschaftlichen Wiederaufbaus aufzunehmen. Obgleich diese Staaten über die Lockerung der EU-Vorschriften für staatliche Hilfe und in der Fiskalpolitik Genugtuung empfanden, meinen sie, dass der Norden der EU mit seinen deutlich größeren finanziellen Möglichkeiten die Überhand gewinnt. Die Hälfte der bisher von der Europäischen Kommission gestatteten Staatshilfen sind Rettungsprogramme der deutschen Regierung. Eine Folge der Krise kann daher die Vertiefung des Missverhältnisses am gemeinsamen Markt sein. Der Süden fordert, dass die Hilfe für die am stärksten betroffenen Staaten in Form von nicht rückzahlungspflichtigen Zuschüssen geleistet werde soll, die sogenannten »sparsamen Vier« (Österreich, Schweden, Dänemark und die Niederlande) sprechen sich für Kredite aus, die die Staaten veranlassen sollen, die Mittel möglichst effektiv einzusetzen. Hier leben Konflikte aus der Zeit der Finanzkrise im Jahr 2008 wieder auf, unterfüttert von den Stereotypen des faulen Südens und des herzlosen Nordens.

Obgleich die Anzahl der festgestellten Covid-19-Infektionsfälle relativ hoch war, gilt Deutschland als ein Staat, der die Corona-Pandemie erfolgreich bekämpft hat. Viel Aufmerksamkeit findet die niedrige Todesrate. Der schlechte Eindruck, der durch den blockierten Export medizinischer Produkte entstanden war, wurde ausgeglichen, da Deutschland das Verbot zurücknahm und Infizierte aus überfüllten Krankenhäusern in Frankreich und Italien aufnahm. Allerdings hat der oben genannte wirtschaftliche Kontext zur Folge, dass viele Beobachter die bisherigen Aktivitäten Deutschlands in Europa als nicht ausreichend betrachten. Diese Situation wird zusätzlich durch das Urteil des Bundesverfassungsgerichts im Mai 2020 verkompliziert, das nicht nur die Richtigkeit des von der Europäischen Zentralbank (EZB) betriebenen Anleihekaufprogramms PSPP für Eurostaaten in Frage stellt, sondern auch die nötige Sorgfalt des Vorgehens des Europäischen Gerichtshofes (EuGH) in dieser Angelegenheit. Das Bundesverfassungsgericht ist natürlich eine unabhängige Institution und für seine Urteile kann nicht der deutschen Regierung die Schuld gegeben werden. Allerdings wird der politische Kontext, in dem die deutsche Ratspräsidentschaft wird handeln müssen, dadurch komplizierter, dass eine der Schlüsselinstitutionen des deutschen Staates ein Urteil des EuGH in Frage stellt.

Eine bedeutende Veränderung der Situation brachte die gemeinsame Initiative von Bundeskanzlerin Angela Merkel und dem französischen Staatspräsidenten Emmanuel Macron vom 18. Mai 2020 zum europäischen Wiederaufbaufonds. Die deutsch-französischen Vorschläge sehen u. a. vor, dass alle Mittel aus dem Fonds den Empfängern in Form von Zuschüssen gewährt werden, die nicht zurückgezahlt werden müssen. Diese Initiative zeigt die Ambitionen Deutschlands, eine aktive EU-Ratspräsidentschaft zu realisieren, was ein positives Zeichen vor ihrem Beginn ist. Außerdem signalisiert Deutschland, indem es sich von der Haltung der »sparsamen Vier« distanziert, seine Bereitschaft, eine stärker solidarische Politik zu betreiben, die die südeuropäischen Staaten, das Europäische Parlament und die Mehrheit der Beobachter und Experten der europäischen Politik erwarten.

Angela Merkel ist wieder stark

Deutschland kommt seine stabile innenpolitische Lage zugute. Der Kampf gegen Covid-19 ließ die Konflikte in den Hintergrund treten, die die Koalition aus CDU/CSU und SPD seit ihrem Antritt erschütterten und mit dem Auseinanderbrechen der Regierung und vorgezogenen Neuwahlen bedrohten. Das Bild einer konsolidierten Koalition und die Unterstützung für die Maßnahmen zur Bekämpfung der Corona-Krise führten zu steigender Zufriedenheit mit der Arbeit der Bundesregierung. Aus den Befragungen des Meinungsforschungsinstituts Infratest dimap im Mai 2020 geht hervor, dass 67 Prozent der Befragten sie positiv beurteilen. Die effektiven Entscheidungen der Großen Koalition brachten eine Wende für die nachlassende Unterstützung für die beiden Volksparteien. Zurzeit erhalten die Konservativen eine Zustimmung von 37 bis 39 Prozent der Bevölkerung, das ist der höchste Wert seit 2017. Auch der Sinkflug der Sozialdemokraten wurde durch die positive Beurteilung des Kampfes gegen Covid-19 angehalten, hier betragen die Unterstützungswerte zurzeit 14 bis 16 Prozent.

Die Bekämpfung der Covid-19-Pandemie stärkte auch die Position von Bundeskanzlerin Angela Merkel. Ihr Verzicht auf eine erneute Kandidatur für den CDU-Vorsitz im Oktober 2018, die sinkende Unterstützung für die Konservativen und die Führungskrise, die sie im Februar 2020 erschütterte, erhöhten die Erwartungen an einen Neubeginn. Dazu würde eine Veränderung in der CDU-Führung gehören, was auch eine Veränderung an der Spitze der Regierung nach sich ziehen könnte. Unterdessen hat Angela Merkel angesichts der Covid-19-Pandemie zum wiederholten Male in ihrer fast 15-jährigen Kanzlerschaft die Aufgabe übernommen, Deutschland durch die Krise zu führen. Die kompetente Koordination der Aktivitäten der Bundesregierung und der Länder im Kampf gegen das Corona-Virus und die Kommunikationspolitik der Regierung machten den Eindruck, dass die Regierung von Angela Merkel bereit ist, der größten Herausforderung, vor der Deutschland seit dem Ende des Zweiten Weltkrieges steht, die Stirn zu bieten.

Die Regierung von Angela Merkel fand eine rasche Antwort auf die Gefahr, die von Covid-19 für die deutsche Wirtschaft ausgeht, und das brachte ihr die hohe gesellschaftliche Unterstützung ein. Dank der Politik des ausgeglichenen Haushaltes seit 2014, der »schwarzen Null«, konnte die Regierung nun einen »Schutzschild« einführen, der es erlaubt, Kurzarbeit, Steuererleichterungen, billige Kredite und Garantien für Unternehmen zu finanzieren. Sein Gesamtwert beläuft sich auf 1,2 Billionen Euro. Die deutsche Regierung entschloss sich auch, einen Teil der Mittel für den Ankauf von Aktien derjenigen Firmen einzusetzen, die vom Bankrott oder feindlicher Übernahme bedroht sind.

Im Zusammenhang mit den sinkenden Corona-Infektionszahlen und den Folgen der eingeführten Beschränkungen für die Wirtschaft entschied die Regierung von Angela Merkel in Absprache mit den Ministerpräsidenten der Länder, einen Teil der Restriktionen unter dem Vorbehalt wieder aufzunehmen, dass sie bei steigenden Fallzahlen erneut eingeführt werden. Der zunehmende Überdruss der deutschen Gesellschaft infolge der Beschränkungen, immer häufigere Proteste und die guten Nachrichten von der sinkenden Zahl der Neuinfektionen führten die Politik zu weiteren Zugeständnissen. Am 6. Mai 2020 verkündeten Merkel und die Ministerpräsidenten der Länder auf einer Pressekonferenz, den Großteil der Restriktionen aufzugeben, wobei über das Tempo und das Ausmaß der Aufhebungen die Landesregierungen entscheiden sollen. In diese Übereinkunft wurde allerdings eine Art Sicherheitsklausel eingebaut, die eine erneue Einführung der Beschränkungen ermöglicht, wenn auf dem Gebiet eines Kreises innerhalb von sieben Tagen mehr als 50 Neuinfektionen mit dem Corona-Virus pro 100.000 Einwohner auftreten.

Die EU-Ratspräsidentschaft in Zeiten von Covid-19

Die Eindämmung der Covid-19-Pandemie in Deutschland erlaubte es der Regierung, sich wieder stärker auf die europäische Politik und auf den am 1. Juli 2020 beginnenden Vorsitz im Rat der Europäischen Union zu konzentrieren. Die deutsche EU-Ratspräsidentschaft wird zweigleisig verlaufen. Die eine Spur ist der wirtschaftliche Wiederaufbau der Europäischen Union. Er wird unter dem Zeichen der Verhandlungen des mehrjährigen EU-Finanzrahmens (2021 bis 2027) und der Ausarbeitung eines Kompromisses zwischen den nordeuropäischen und den südeuropäischen Staaten über das Finanzierungsmodell des europäischen Hilfspaketes stehen. Dieses könnte in der Ausgabe von gemeinsamen europäischen Anleihen in Höhe von 500 Milliarden Euro, abgesichert durch den EU-Haushalt, bestehen, was Bundeskanzlerin Merkel und der französische Präsident Emmanuel Macron am 18. Mai 2020 vorgeschlagen haben. Wichtig ist, dass noch vor der Verkündung des deutsch-französischen Plans Signale auftraten, dass Deutschland kompromissbereit ist. Am 17. April verabschiedete das Europäische Parlament u. a. mit den Stimmen von Abgeordneten der CDU/CSU und der SPD eine Resolution, in der die durch den EU-Haushalt abgesicherten Anleihen als eines unter anderen Instrumenten für den Wiederaufbau der europäischen Wirtschaft genannt werden. Ein weiterer Aspekt, der Deutschland dazu gebracht haben könnte, die Ausgabe von europäischen Anleihen zu akzeptieren, war das Urteil des Bundesverfassungsgerichtes, das die Politik der EZB hinsichtlich des Ankaufs von Anleihen für Mitglieder der Eurozone in Frage stellte. Der Vorschlag von Kanzlerin Merkel und Präsident Macron wird auch von der deutschen öffentlichen Meinung unterstützt: 50,8 Prozent der Befragten bewerten ihn positiv.

Die finanziellen Mittel, die in Form von Zuschüssen vergeben werden sollen, sollen die Gesundheitssysteme der Mitgliedsstaaten stärken. Gleichzeitig sollen die Mittel in Bereiche fließen, die für die Zukunft der Europäischen Union von Bedeutung sind. Dazu gehört auch die Klimapolitik. Im Rahmen der Implementierung des europäischen Grünen Deal wird Deutschland versuchen, Wasserstoff als alternative Energiequelle anstelle fossiler Brennstoffen zu bewerben. Diesem soll die Entwicklung einer europäischen Wasserstoff-Strategie und eines Fahrplans zur Entwicklung des Wasserstoffs in der Europäischen Union dienen. Gleichzeitig zeigt die Haltung der CDU/CSU-Bundestagsfraktion, dass das Ziel der EU-Klimaneutralität nicht auf Kosten der Wirtschaft und ihrer Abschwächung erreicht werden soll. Zwar stimmen die konservativen Abgeordneten zu, das Ziel der Emissionsreduzierung bis zum Jahr 2030 von gegenwärtig 40 Prozent auf 50 bis 55 Prozent (im Vergleich zu 1990) zu erhöhen, aber sie machen dies abhängig von der erneuten Verhandlung darüber, wie die Verpflichtung zur Reduzierung in den Wirtschaftsbereichen verteilt wird, die der europäische Emissionshandel nicht umfasst. Die Haltung der CDU/CSU kann zu einem neuen Konflikt in der Großen Koalition führen, da sich die SPD dafür ausspricht, dass Deutschland die ehrgeizigeren Ziele der Klimapolitik annimmt.

Ein weiterer Bereich, der im Zentrum des Interesses der deutschen EU-Ratspräsidentschaft steht, ist die Digitalisierungspolitik der Europäischen Union, deren Entwicklung dazu dienen soll, die Abhängigkeit der EU von IT-Importen aus China und den USA zu verringern. Ursprünglich sollte die Priorität der deutschen Ratspräsidentschaft die Beziehungen zu China sein; für September 2020 war ein EU-China-Gipfel in Leipzig geplant, dessen Krönung der Abschluss eines umfassenden Investitionsabkommens zwischen der EU und China sein sollte. Die Verwirklichung dieses Zieles ist allerdings nicht sicher: Mit Blick auf den Stand der Pandemie ist es möglich, dass der Gipfel als Videokonferenz stattfinden wird, und die Fokussierung des chinesischen Kapitals auf die heimische Wirtschaft stellt die Unterzeichnung des Dokumentes unter ein Fragezeichen. Des Weiteren ist es sehr wahrscheinlich, dass die Verhandlungen über die zukünftigen Beziehungen (nach dem 31. Dezember 2020) zwischen der Europäischen Union und Großbritannien nicht verlängert werden, was dazu führen würde, dass auf der deutschen Regierung auch die Last liegen wird, gemeinsam mit dem Präsidenten des Europäischen Rates die Verhandlungen der »letzten Chance« durchzuführen, deren Gegenstand ein sowohl für die EU als auch für das Vereinigte Königreich akzeptabler Kompromiss wäre.

Die deutsche Vision von der Europäischen Union

Angesichts der bisher größten Wirtschaftskrise der Europäischen Union und dem bevorstehenden Vorsitz im Rat der Europäischen Union kehrt die Frage nach der Rolle der Bundesrepublik in der europäischen Politik sowie der Vision Deutschlands von der Zukunft der Europäischen Union zurück. Bisher hatte die deutsche Regierung die Funktion des Anführers in Krisenzeiten; sowohl in der Finanzkrise 2008 als auch in den Anfängen des Ukraine-Konfliktes (2014) sowie der Flüchtlingskrise (2015) gab die deutsche Regierung den Ton bei den Aktivitäten der Europäischen Union an, was andere Mitgliedsstaaten nicht nur ein Mal kritisierten, indem sie Berlin vorwarfen, die Antworten der EU seinen eigenen Interessen entsprechend zu gestalten.

In Phasen relativer Stabilität blieb Deutschland allerdings eher passiv und positionierte sich als Brücke zwischen den östlichen und den westlichen EU-Mitgliedsstaaten. Als Emmanuel Macron begann, seinen Zukunftsentwurf der Europäischen Union zu präsentieren, der auf einer vertieften Integration der Euro-Staaten basiert, bremste Deutschland die französische Vision aus, die bei den nördlichen und einem Teil der ostmitteleuropäischen Staaten nicht besonders gut ankommt. Im Ergebnis erklärte Deutschland zwar seine Unterstützung für Macrons Vorschläge, unternahm aber nichts, was deren vollständige Verwirklichung garantieren könnte. Ein Beispiel ist der eigene Haushalt der Eurozone: Die Regierung der Bundesrepublik befürwortete seine Einrichtung, aber nur in Höhe von 17 Milliarden Euro. Die deutsche Zurückhaltung gegenüber den französischen Vorschlägen wird auch sichtbar in der Konstruktion der Ständig Strukturierten Zusammenarbeit (PESCO) im Bereich der europäischen Sicherheits- und Verteidigungspolitik, die den deutschen Präferenzen entspricht. Frankreich forderte, das militärische Potential auszubauen und zunächst für Interventionen außerhalb der Europäischen Union einzusetzen, wogegen sich u. a. Polen richtete. Es gewann die Berliner Version die Oberhand, und zwar das Engagement möglichst vieler EU-Staaten, auch derer, die gegen die französischen Vorschläge waren, und eine lockerere Zusammenarbeit, die sich auf die Entwicklung der Verteidigungsfähigkeit konzentriert.

Die Diskussion über die Rolle Deutschlands in der Europäischen Union ist auch mit seiner Vision von der EU in der globalen Politik verknüpft, insbesondere angesichts der Erosion der multilateralen internationalen Ordnung. Trotz einer Reihe strittiger Fragen fordert Deutschland, dass die EU den Dialog mit China, Russland und den Vereinigten Staaten aufrechterhalte. Über deren Bedeutung für die EU entscheidet nicht nur der wirtschaftliche Nutzen, sondern auch deren Rolle bei der Verwirklichung der europäischen Interessen in Bereichen wie der Klimapolitik oder der Stabilisierung der Situation im Nahen Osten und in Nordafrika. Deutschland lässt jedoch keinen Zweifel daran, dass der wichtigste Partner und Garant für die Sicherheit der Europäischen Union die USA bleiben. Gleichzeitig fordert Deutschland, dass die EU schrittweise von äußeren Partnern unabhängiger werde. Zu den Bereichen, in denen die EU autarker werden solle, gehören u. a. der Gesundheitssektor, Hochtechnologien und Energiequellen.

Auch wenn die von Deutschland vertretene globale Vision der EU und die Rolle Deutschlands als Mediator in der europäischen Politik dazu dienen, Konflikte auszugleichen und die Einheit der EU aufrechtzuerhalten, entsteht gleichzeitig ein unbefriedigender Eindruck und zwar, dass die eindeutige Bestimmung fehlt, in welche Richtung die EU gehen soll. Die Präzisierung wird auch wegen der Bundestagswahlen im Jahr 2021 auf sich warten lassen. Angela Merkel wird nach 16 Jahren Kanzlerschaft nicht mehr antreten und es wird eine neue Regierung gebildet, was in erster Linie die Stabilisierung der innenpolitischen Lage Deutschlands erforderlich macht.

Das polnische Denken über die Zukunft Europas und die Rolle Deutschlands in der EU

In der Diskussion über die Zukunft Europas in den vergangenen Jahren hat Polen konsequent den Standpunkt der evolutionären Veränderungen eingenommen. Die programmatischen Dokumente, die Polen – meistens mit anderen Staaten der Region – vorgestellt hat, betonen, dass es wichtig ist, das Potential der bereits bestehenden Politiken auszunutzen. In diesem Zusammenhang wurde vor allem auf den Binnenmarkt verwiesen und auf die Notwendigkeit, die Aufhebung der Beschränkungen für den Wettbewerb (vor allem für den freien Personenverkehr und den freien Dienstleistungsverkehr) voranzutreiben. Polen unterstrich auch die Notwendigkeit, die Einheit der EU zu bewahren, und verhielt sich skeptisch gegenüber Initiativen, die die Differenzierung der Union verstärken (zum Beispiel die Schaffung eines gesonderten Eurozonenhaushaltes).

Die europäische Strategie Polens nach dem Regierungswechsel im Jahr 2015 stützt sich u. a. auf die Feststellung, dass die Entwicklung des Integrationsprozesses zu stark von den größten Staaten diktiert wird. Ein wichtiges Ziel ist hier, dass die kleinen und mittleren Staaten, insbesondere aus Ostmitteleuropa, im Entscheidungsprozess stärker wertgeschätzt werden. Die Perspektive des Brexit hat die Furcht vor der deutsch-französischen Dominanz vergrößert. In der Expertendebatte in Polen wurde darauf hingewiesen, dass die zwei bevölkerungsreichsten Staaten der Gemeinschaft, deren Einwohner nach dem Brexit 33,5 Prozent der EU-Gesamtbevölkerung stellen, praktisch unbegrenzte Möglichkeiten haben, die europäische Gesetzgebung zu blockieren (nach dem Grundsatz der doppelten Mehrheit muss eine Entscheidung von 55 Prozent der Mitgliedsstaaten sowie Staaten, die 65 Prozent der EU-Bürger vertreten, getragen werden). In diesem Zusammenhang könnte die Bereitschaft Deutschlands und Frankreichs, anderen EU-Mitgliedern Zugeständnisse zu machen, sinken und die Europäische Kommission könnte noch stärker als bisher die französischen und deutschen Präferenzen bei der Erarbeitung von Rechtsakten berücksichtigen.

Die Überzeugung, dass es notwendig sei, die deutsch-französischen Einflüsse auszugleichen, schließt allerdings nicht aus, nach gemeinsamen Interessen zu suchen und nach Einfluss auf Entscheidungen der EU zu streben, indem mit Frankreich und Deutschland zusammengearbeitet wird. Im Jahr 2019 unterstützte Polen den Aufruf Frankreichs und Deutschlands, die europäische Wettbewerbspolitik zu revidieren. Außerdem schloss sich Polen dem deutsch-französischen Projekt der Batterieherstellung an.

Die Furcht vor der Dominanz Frankreichs und Deutschlands schwächte sich ab, als die Meinungsverschiedenheiten zwischen den beiden immer deutlicher wurden. Des Weiteren zeigte die Blockade der Fusion der Zugsparten von Alstom und Siemens (2019), dass die Europäische Kommission nicht die Absicht hat, die Rolle des diensteifrigen Erfüllers deutsch-französischer Initiativen zu spielen. Die Politik Deutschlands, die Macrons Projekt zur Beschleunigung der Integration der Eurozone abtönte, wurde in Warschau positiv als Garantie für die Einheit der Gemeinschaft betrachtet. Die Unterstützung der polnischen Regierung für Ursula von der Leyen als Kandidatin für das Amt der EU-Kommissionspräsidentin erfolgte u. a. aus der Überzeugung, dass sie sich um einen gemäßigten Kurs zwischen der Föderalisierung der EU und der Aufrechterhaltung des Status quo bemühen werde. Die Differenzen zwischen Frankreich und Deutschland schufen eine neue Konfiguration in der europäischen Politik, in der Polen aufgrund seiner Fähigkeit, eine breitere Koalition ostmitteleuropäischer Staaten zu mobilisieren, zusammen mit Deutschland ein Gegengewicht zur französischen Konzeption der Zukunft Europas schaffen könnte, die auf die Schaffung einer Avantgarde um die Eurozone herum ausgerichtet ist. Als Beweis für das Potential der Region als Partner für Deutschland wurden häufig die wirtschaftlichen Beziehungen angeführt. Etwas über elf Prozent des deutschen Exportes gehen in die Länder der Visegrád-Gruppe (Polen, Slowakei, Tschechien, Ungarn) und nur acht Prozent nach Frankreich.

Wie reagieren auf die Corona-Krise?

Die polnische Regierung unterstreicht, dass die Europäische Union angesichts der beispiellosen Wirtschaftskrise infolge der Corona-Pandemie zusätzliche Finanzmittel aktivieren muss, um die Mitgliedsstaaten zu unterstützen. Im Streit zwischen den Anhängern von Zuschüssen versus Krediten unterstützt Warschau den südeuropäischen Standpunkt, den es in Anbetracht des Prinzips der europäischen Solidarität für richtig hält. Übermäßige Sparsamkeit heute könnte eine Verlängerung der Rezession zur Folge haben und der Europäischen Union auf längere Sicht schaden. Der Minister für europäische Angelegenheiten in der polnischen Regierung, Konrad Szymański, wies darauf hin, dass die Staaten, die auf europäischer Ebene zur Sparsamkeit aufrufen, bedeutende Summen zur Stützung der eigenen Wirtschaft einsetzen. Diese Situation kann das Missverhältnis am gemeinsamen Markt vertiefen. In diesem Zusammenhang hat Polen die deutsch-französische Initiative eines europäischen Wiederaufbaufonds positiv aufgenommen. Von Bedeutung war auch die Tatsache, dass der Wiederaufbaufonds für alle Mitgliedsstaaten bestimmt und nicht auf die Eurozone beschränkt ist. Die letzten Äußerungen von Regierungsmitgliedern – u. a. der Beitrag von Ministerpräsident Mateusz Morawiecki in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung im April 2020 (s. »Dokumentation«) – zeigen, dass Polen die Bereitstellung neuer, EU-eigener Mittel zulässt, die die Finanzierung des Wiederaufbaufonds erleichtern sollen, die Vorschläge in diesem Bereich jedoch differenziert bewertet. Polen ist offen für eine Digitalsteuer und eine »Carbon Border Tax«, aber kritisch, wenn zu diesem Zweck ein Teil der Einnahmen aus dem europäischen Emissionshandelssystem (EU ETS) eingesetzt werden. Morawiecki betonte außerdem die Bedeutung der Bekämpfung von Betrug und Steuerparadiesen.

Gleichzeitig unterstreicht Polen, dass die Einrichtung eines Wiederaufbaufonds nicht Kürzungen in anderen Politikbereichen des mehrjährigen Finanzrahmens zur Folge haben darf, das heißt, dass die Kohäsionspolitik und die Gemeinsame Agrarpolitik ihre Bedeutung behalten müssen. Die finanzielle Unterstützung für die Kohäsionspolitik ermöglicht, viele wichtige Infrastrukturprojekte zu verwirklichen. Gleichzeitig ermöglicht sie, den Entwicklungsabstand zwischen dem Osten und dem Westen Europas zu verringern.

Ende 2019 war Polen der einzige Staat, der der Forderung widersprach, Europa müsse bis zum Jahr 2050 klimaneutral geworden sein. Die Vertreter der polnischen Regierung erklärten, dass ihre Haltung nicht aus der Ablehnung der Idee selbst resultiere, sondern aus der Abneigung, konkrete (und sehr kostspielige) Verpflichtungen einzugehen, während die europäische Unterstützung für die Realisierung dieses Zieles nicht präzise bestimmt worden sei. Ähnlich vorsichtig ist die polnische Haltung aktuell, wenn die Rede von der Umsetzung ambitionierter Klimaziele nach der Corona-Krise ist. Die Botschaft aus Polen ist der Aufruf, eine elastische Strategie zu wählen, die die spezifische Situation der Mitgliedsstaaten berücksichtigt, so dass es nicht zu der Situation kommt, dass ein Teil der Staaten im Zusammenhang mit der Energiewende deutlich höhere Kosten trägt.

Die Politik der offenen Türen für den Beitritt in die EU ist eines der Axiome der europäischen Strategie Warschaus. Das Jahr 2019 führte hier zu einer Enttäuschung, da es entgegen den Empfehlungen der Europäischen Kommission nicht gelang, ein einstimmiges Votum der EU-Mitgliedsstaaten für die Aufnahme von Beitrittsverhandlungen mit Albanien und Nord-Mazedonien zu bekommen. Erst die von der Europäischen Kommission Anfang 2020 vorgestellte modifizierte Erweiterungspolitik erlaubte, die zögernden Staaten zu überzeugen, und die Gespräche können beginnen. Polen rechnet damit, dass die Pandemie keine übermäßigen Verzögerungen im Verhandlungsprozess verursacht.

Ein Test für die deutsche Führung

Gewöhnlich hat der Staat, der den Vorsitz im Rat der Europäischen Union übernimmt, die Rolle des geschickten Verhandlungsmoderators, der den Staaten hilft, einen Kompromiss zu suchen, und dabei seinen eigenen Standpunkt nicht übermäßig forciert. Die besonderen Umstände und Herausforderungen sowie das Bevölkerungs- und Wirtschaftspotential Deutschlands verursachen, dass die Erwartungen an die deutsche EU-Ratspräsidentschaft größer sind. Deutschland soll nicht nur ein Vermittler sein, sondern auch ein Anführer, der für konkrete Konzepte zur Krisenbewältigung eintritt und bereit ist, bedeutende Kosten zur Rettung der Gemeinschaft zu übernehmen. In gewissem Maße wurden diese Erwartungen bereits erfüllt. Der deutsch-französische Vorschlag ist, obgleich die Einzelheiten noch offen sind, ein Konzept, dass die Grundlage eines Kompromisses werden kann. Es bleibt, die »sparsamen Vier« dazu zu bewegen, diese größere Solidarität zu akzeptieren.

Die Mehrheit der polnischen politischen Elite erwartet, dass die deutsche EU-Ratspräsidentschaft die Haltung vertritt, die die europäische Strategie Deutschlands in den vergangenen Jahren geprägt hat, das heißt Offenheit gegenüber neuen Integrationsinitiativen, verbunden mit Vorsicht und Fürsorge für die Einheit der Gemeinschaft. Polen zählt darauf, dass die von Deutschland vertretenen Ziele im Bereich des EU-Haushaltes, der Klima- und der Digitalisierungspolitik und die Werkzeuge für deren Umsetzung ambitioniert, aber auch so realistisch sein werden, dass das Erreichen der Ziele nicht zu einer Spaltung der Gemeinschaft in Avantgarde und zurückgelassene Nörgler führen wird. Das Ziel sollte weiterhin sein, die Gemeinschaft auf dem Kurs der ausgeglichenen Entwicklung zu halten, die nicht nur erlaubt, die Position im internationalen Wirtschaftswettbewerb zu stärken, sondern auch den Abstand zwischen den reicheren und den ärmeren Mitgliedern zu verringern.

Die kommenden Monate haben für die Zukunft der Europäischen Union Schlüsselbedeutung. Eine fehlende Einigung über den Wiederaufbaufonds und den gemeinsamen Haushalt wird wahrscheinlich nicht zur Folge haben, dass die EU auseinanderbricht, aber dass das Szenario der Entwicklung durch das Szenario des Vegetierens ersetzt wird. Manche Mitgliedsstaaten können enttäuscht vom Ausmaß der EU-Hilfen nach Partnern außerhalb suchen. Die gesellschaftliche Enttäuschung wiederum kann die Position der euroskeptischen Bewegungen stärken oder auch dazu führen, dass diese Gruppierungen die Macht übernehmen, was eine ernste Gefahr für das Bestehen der Eurozone und der gesamten EU haben kann. Für Deutschland ist die EU-Ratspräsidentschaft eine Gelegenheit, seine Führungsposition in der EU zu stärken. Nach der Finanzkrise herrschte die Überzeugung, dass es Deutschland, das seine Sparpolitik betrieben hat, nicht gelungen sei, ein angemessenes Gleichgewicht zwischen seinen eigenen Interessen und dem Gemeinwohl der Gemeinschaft zu halten. Auch das europäische Werk von Bundeskanzlerin Merkel steht auf dem Spiel. Ihr Handeln in der Flüchtlingskrise 2015 war zwar zutiefst human, es rief aber Kontroversen und den Vorwurf der Illoyalität gegenüber den Partnern hervor, insbesondere in den Staaten, die gegenüber Immigration skeptischer eingestellt sind. Auch dieses Mal werden die Aktivitäten der deutschen Regierung sicherlich unterschiedlich beurteilt, aber es besteht die Chance, ein besseres Ergebnis zu erreichen als im Falle der beiden vorangegangenen Krisen des 21. Jahrhunderts.

Übersetzung aus dem Polnischen: Silke Plate

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