Abdriften in den Autoritarismus? Die Situation in Polen vor den Parlamentswahlen

Von Janusz A. Majcherek (Pädagogische Universität Krakau)

Zusammenfassung
Am 13. Oktober 2019 finden in Polen Parlamentswahlen statt. Die seit vier Jahren regierende Partei Recht und Gerechtigkeit (Prawo i Sprawiedliwość – PiS) behält laut Umfragen weiterhin die Oberhand, während sich die Opposition in drei Blöcke aufgespalten zur Wahl stellt. Ob sie in der Lage sein wird, eine parlamentarische Mehrheit gegen die PiS zu gewinnen, ist unklar. Die vorausgegangenen Wahlen zu den Organen der Selbstverwaltung (Herbst 2018) und zum Europaparlament (Mai 2019) lassen keine eindeutigen Schlüsse zu, wie stark die Opposition wirklich ist. Das konservative Regierungslager, das 2015 mit dem Anspruch des »Saubermannes« an die Macht gekommen ist, verliert sich, nach zum Teil erfolgreicher Vereinnahmung von öffentlichen Institutionen und Aufhebung demokratischer und rechtsstaatlicher Prinzipien, derzeit in zahlreichen Affären. Diese scheinen jedoch nicht das Vertrauen der leicht mobilisierbaren PiS-Wählerschaft zu untergraben. Als wichtigste Errungenschaften der Regierungsmannschaft nennt der Autor die Einleitung spürbarer Sozialtransfers (500+), das konservative Menschen- und Gesellschaftsbild sowie eine national betonte Rhetorik und Erinnerungspolitik.

Am 13. Oktober dieses Jahres finden in Polen die Wahlen zum Parlament (sejm) statt. Es sind dies die dritten Wahlen einer ganzen Serie, die mit den Selbstverwaltungswahlen im Herbst vergangenen Jahres begannen und mit den Präsidentenwahlen im kommenden Frühjahr bekrönt werden. Der Einsatz der bevorstehenden Parlamentswahlen ist besonders hoch, denn sie entscheiden nicht nur über die Gestalt der zukünftigen Regierung, die die Verantwortung für die nächsten vier Jahre übernehmen wird, sondern auch über die Zukunft der liberalen Demokratie und der Rechtsstaatlichkeit in Polen. Sollte sich die seit vier Jahren regierende Partei Recht und Gerechtigkeit (Prawo i Sprawiedliwość – PiS) an der Macht halten, scheint das Abdriften des Landes in den Autoritarismus vorhersehbar, dessen schrittweise Entwicklung seit Beginn der nun endenden Wahlperiode anhält. Die PiS demontiert der Reihe nach die Institutionen des demokratischen Rechtstaates bzw. ordnet sie ihrer willkürlichen Macht und Kontrolle unter, insbesondere diejenigen, die über diesen Rechtsstaat wachen, das heißt die Gerichte mit dem Verfassungstribunal an der Spitze, das mit Akteuren besetzt wird, die gehorsam den politischen Willen des Vorsitzenden der regierenden Partei ausführen. Parteichef Jarosław Kaczyński ist de facto der Staatsführer, obgleich er nur einfacher Abgeordneter im Sejm ist. Sollte er für die kommende Legislaturperiode ein Mandat erhalten, wird er dies bestimmt nutzen, um weitere noch unabhängige Institutionen zu zerstören oder zu entmündigen, darunter auch die privaten Medien (die staatlichen Medien sind bereits vollständig der Regierungs- und Parteipropaganda untergeordnet). Dies legen die Beispiele Russland, Türkei und Ungarn nahe, das heißt der Länder, in denen die Einführung des Autoritarismus weiter fortgeschritten ist als in Polen, wo sie seit vier Jahren andauert und insbesondere der ungarischen Entwicklung sehr ähnlich ist.

Die Opposition angesichts der autoritären Bedrohung

Angesichts der offensichtlichen autoritären Gefahr bemüht sich die Opposition um ihre Konsolidierung. Vor den Selbstverwaltungswahlen im vergangenen Jahr entstand unter der Leitung der stärksten oppositionellen Gruppierung, der Bürgerplattform (Platforma Obywatelska – PO), ein Mitte-Links Bündnis, die Bürgerkoalition (Koalicja Obywatelska – KO).

Das Ergebnis der Selbstverwaltungswahlen war nicht eindeutig, denn in den kleinen Gemeinden und Kreisen kandidierten viele lokale, parteilose Akteure, die nicht mit den landesweiten Hauptgruppierungen gleichzusetzen waren. Auf der Ebene der Woiwodschaften (vergleichbar mit den deutschen Bundesländern) allerdings hat die Opposition gegen das Lager der Zentralregierung praktisch unentschieden gespielt. Die PiS erhielt in den Woiwodschaftslandtagen (sejmiki) 245 Mandate und die KO 194, wobei hier die 70 Abgeordneten der Polnischen Bauernpartei (Polskie Stronnictwo Ludowe – PSL) hinzuzuzählen sind, die viele Jahre der Koalitionspartner der PO war. Die PiS fuhr jedoch einen relativen Wahlsieg ein, denn ihr gelang es, die Kontrolle über neun von 16 Woiwodschaften zu übernehmen, während sie vorher gerade einmal in einer regiert hatte. Zum Teil kam es dazu infolge von politischer Korruption, die die PiS bei einzelnen Abgeordneten einsetzte, indem sie sie mit dem Versprechen bestimmter Posten in Behörden oder anderen Selbstverwaltungsinstitutionen köderte, sollten sie auf die Seite der PiS wechseln, und in einigen Fällen hat dies gefruchtet. Einen Einfluss auf die Kräfteverteilung in den Regionen hatte auch das relativ schwache Ergebnis der Bauernpartei, die vorher zusammen mit der PO die Regierungen in 15 Woiwodschaften gestellt hatte. Dies bestätigte den bereits vorher festgestellten Trend, dass die PiS die ländliche Wählerschaft abfängt, die bisher die gesellschaftliche Basis der PSL war. In einem Land, in dem 40 % der Bürger auf dem Land leben, ist deren Unterstützung von außerordentlicher Bedeutung.

In den Städten dagegen triumphierte die KO. Unter den 100 größten Städten gelang es der PiS nur in einigen wenigen die Kontrolle zu erhalten, und hier in den kleineren.

Die Ergebnisse der Selbstverwaltungswahlen zeigten die Intensivierung und Verschärfung der politischen Spaltung zwischen den Einwohnern der Städte und der Dörfer sowie zwischen dem westlichen und dem östlichen Landesteil. Auf dem Land und in den östlichen Regionen hat die PiS ihre treueste und am stärksten mobilisierte Wählerschaft; die Städte, insbesondere die im Westen des Landes, sind Bastionen der Opposition.

Die Europawahlen als generelle Prüfung

Die Europawahlen im Mai dieses Jahres hatten zwar keinen direkten Einfluss auf das Machtsystem und seine Struktur in Polen, sie wurden aber als generelle Prüfung der rivalisierenden politischen Lager, der Chancen, die autoritäre Gruppierung von der Macht abzulösen, sowie der proeuropäischen Einstellungen der Gesellschaft aufgefasst. Die Opposition rückte noch stärker zusammen, denn der KO schloss sich auch die schwächelnde PSL an, die praktisch keine Chance hatte, selbständig irgendeins von den insgesamt 52 Mandaten für Polen im Europäischen Parlament zu erlangen. Die KO benannte sich in Europäische Koalition (Koalicja Europejska – KE) um.

Einige Monate vor den Wahlen trat allerdings eine neue politische Bewegung in Erscheinung, initiiert von dem ehemaligen Abgeordneten der Demokratischen Linksallianz (Sojusz Lewicy Demokratycznej – SLD) und bis vor kurzem Stadtpräsident von Stolp (Słupsk), dem vielleicht bedeutendsten polnischen Politiker, der sich offen zu seiner Homosexualität bekennt, Robert Biedroń. Er versuchte, die zerstreute linke Wählerschaft einzusammeln und zu konsolidieren, aber auch, sich der immer deutlicher zutage tretenden Spaltung in zwei konträre politische Blöcke entgegen zu stellen, indem er sich als dritte Kraft anbot. Trotz vielversprechender Wahlumfragen und dem großen Wohlwollen der unabhängigen Medien erhielt die Gruppierung um Biedroń, optimistisch »Frühling« (Wiosna) genannt, nur knapp 6 % der Wählerstimmen, was der Partei drei Sitze im Europäischen Parlament einbrachte (einen nimmt Biedroń ein). Die PiS erhielt 27 Mandate und die KE 22. In Prozent der Wählerstimmen ergab sich wieder ein Remis, denn die KE erhielt über 38 %, Frühling über 6 % (was zusammen ca. 45 % ergibt, wobei hier außerdem die Stimmen für die Linkspartei »Gemeinsam« (Razem) hinzuzählen wären) und die PiS erhielt über 45 %. Letzteres war allerdings eine große Überraschung, denn die Wählerschaft auf dem Land und in der Provinz, die die gesellschaftliche Basis der PiS ist, gilt als weniger proeuropäisch und hatte bisher selten an den Europawahlen teilgenommen (im Jahr 2014 betrug die Wahlbeteiligung insgesamt 24 % und war eine der niedrigsten in der Europäischen Union). Dieses Mal allerdings wurde diese Wählerschaft mobilisiert und obgleich in Warschau (Warszawa) über 60 % der Einwohner ihre Stimme abgaben und in einigen anderen Städten über 50 % (die durchschnittliche Beteiligung in Polen lag bei 45 %), garantierte die Wählerschaft in der Provinz der PiS dieses hohe Ergebnis.

Die mehr als 38 % für den oppositionellen Block sind zwar kein schlechtes Ergebnis (die PiS erhielt vor vier Jahren die parlamentarische Mehrheit in Polen mit etwas über 37 %), jedoch trotzdem enttäuschend gegenüber den 45 %, die die PiS erhielt. Die Akteure der PSL meinten, dass sie angesichts des allzu linken Profils der Europäischen Koalition Wähler verlieren und beschlossen, diese zu verlassen. Grzegorz Schetyna, der Parteivorsitzende der konservativ-liberalen PO, erkannte, dass in dieser Situation die von ihm geführte KE eine noch stärker links gerichtete Neigung erhält, insbesondere wenn ihr noch Biedrońs »Frühling« beitreten würde, aus Angst, dass die erhaltenen 6 % bei den Europawahlen gefährlich nah an der 5%-Hürde liegen, die für den Einzug in den polnischen Sejm gilt, was die Suche nach Koalitionspartnern für die polnischen Parlamentswahlen notwendig macht. Die Abneigung Schetynas, der KO eine zu links orientierte Ausrichtung zu geben, stärkte paradoxerweise die Linke, denn von der KO abgelehnt, war sie gezwungen, sich in ihrem eigenen Kreis zu konsolidieren.

Im Ergebnis geht die Opposition in drei Blöcken in die Parlamentswahlen im Oktober, bestehend aus der Mitte-Links-Koalition KO, der vereinigten Linken (inklusiv »Frühling«) und der PSL gemeinsam mit der Randpartei Kukiz ‘15 (ihr Gründer, der ehemalige Rockmusiker Paweł Kukiz, erhielt in den Präsidentenwahlen im Jahr 2015 sensationelle 20 % und baute auf dieser Basis eine Antiestablishment-Bewegung auf, die bereits deutlich erschöpft ist und von Wahlen zu Wahlen schwächer wird).

Vor den Parlamentswahlen in Polen

Es gibt keine Gewissheit, und sie wird es bis zu den Sejmwahlen auch nicht geben, ob für die Opposition die Variante einer einheitlichen Front oder aber eines Starts in drei Blöcken vorteilhafter ist. Erstere Variante scheint mit Blick auf die Wahlordnung vielversprechender zu sein, da die Umrechnung der Stimmen in Mandate nach dem d’Hondt’schen System die stärkeren Gruppierungen bevorzugt – 38 % für einen Block ergibt mehr Mandate, als die Parteien mit 25 und 13 % Unterstützung zusammen bekommen. Die Akteure der PSL und manche Kommentatoren weisen jedoch darauf hin, dass sich die Stimmen der Wählerschaft der einzelnen Parteien, die dann einen Block bilden, nicht einfach addieren lassen würden, da die Parteien im Rahmen eines Wahlbündnisses ihre Identität und ihr eigenes Profil verlören, was desorientierte und lustlose Wähler zur Folge hätte. Viele Beobachter sagen außerdem, dass ein gemeinsamer Block, der von Parteien mit unterschiedlichem Profil gebildet wird, kein kohärentes Programm haben könne, das heißt, das Angebot würde sich auf den Widerstand gegen die regierende PiS reduzieren und wäre somit reaktiv und negativ und hätte keine positive Botschaft. Anti-PiS sei zu wenig, sagen diese Kommentatoren und Beobachter.

Drei einzelne Wahlbündnisse schaffen ein breiteres und vielfältigeres politisches Angebot, das die unterschiedlichen Wähler zufrieden stellen soll. Allerdings ergeben die Stimmen insgesamt nicht unbedingt die Anzahl von Abgeordnetenmandaten, die für die Übernahme der Regierung ausreichen würde. Insbesondere wenn einer der Blöcke nicht die 8%-Hürde übersteigt, was der Koalition aus PSL und Kukiz ‘15 wohl am ehesten drohen könnte. Eine solche Situation trat 2015 auf, als der linken Koalition 0,5 % der Stimmen für die bei Wahlbündnissen erforderlichen 8 % fehlte; infolgedessen waren die Stimmen vergeudet, die PiS konnte selbständig die Regierung übernehmen und die Linke fand sich außerhalb des Parlaments wieder. Daher bildet die Linke aktuell keine formale Koalition, sondern ein Wahlkomitee, für das es reicht, die 5%-Hürde zu überschreiten.

Allerdings stellte die Opposition gemeinsame Kandidaten für den Senat auf. Die Wahlen für die zweite Parlamentskammer finden gleichzeitig mit den Sejmwahlen statt, allerdings in Ein-Mandats-Kreisen und nach dem Mehrheitswahlrecht, nach dem der Kandidat mit den meisten Stimmen gewählt ist. Formal handelt es sich nicht um Vertreter der Opposition in ihrer ganzen Breite, sondern einzelne Parteien haben die Kandidaten für bestimmte Kreise ausgewählt, in denen dann die übrigen Oppositionsparteien keine weiteren Kandidaten aufstellen. Wenn die Kandidaten der Oppositionsparteien über die Hälfte der Senatsmandate erhalten würden, könnte die Opposition zumindest manche autoritären Ausbrüche der PiS-Regierung bremsen, sollte diese wieder gewählt werden.

Das Regierungslager im Schatten von Skandalen und Affären

Wie jede populistische Gruppierung kam die PiS mit Versprechungen an die Macht, die gewöhnlichen Bürger besser zu repräsentieren und den Staat von vermeintlichen Missständen und Regelwidrigkeiten zu säubern. In der Praxis bedeutete dies, immer mehr Bereiche des öffentlichen Lebens unter die Kontrolle der Partei zu bringen und die Institutionen mit von der Partei nominierten Personen zu besetzen, die loyal gegenüber den politischen Vollmachtgebern sind und ihre Anweisungen ausführen. Besonders deutlich ist dies bei den staatlichen Medien, wo massenhaft Journalisten entlassen und durch Propagandisten ersetzt wurden. Sie betreiben eine aufdringliche politische Agitation im Stil des TV-Senders Fox, was bei den älteren Polen Assoziationen an die kommunistischen Zeiten hervorruft. Ausgetauscht wurde auch die Leitungsebene in allen Firmen, bei denen der Staat Mehrheitseitseigner ist; außerdem wurden manche Unternehmen (beispielsweise eine der größten Banken) durch staatliche Anteilseigner übernommen. Begonnen wurde mit einer breit angelegten Aktion, die Institutionen der Rechtsprechung unterzuordnen, das heißt, es werden die unabhängigen Richter der Reihe nach abgezogen und durch dienstbare Funktionäre ersetzt. Begleitet wurde dies mit einer massiven Aktion, die Richter und ihre community schlecht zu machen und zu verleumden.

Unlängst kam heraus, dass diese Aktion im Internet mit Hilfe befreundeter hater und Trolle durchgeführt und vom stellvertretenden Justizminister und seinen Handlangern koordiniert wurde. In Übereinkunft mit einer regierungstreuen Internetnutzerin, der Ehefrau eines Richters, der von der PiS für den nicht rechtmäßig besetzten Landesjustizrat ernannt wurde, wurden im Internet Gerüchte und Verleumdungen über Richter verbreitet, die sich gegen den Anschlag auf die Unabhängigkeit der rechtsprechenden Gewalt wehren. Ziel war es, diese zu kompromittieren. Die reuige Internetnutzerin enthüllte das Prozedere und machte die Korrespondenz mit den Ministerialbeamten über die Verleumdung der widerständigen Richter zugänglich. Bald zeigte sich, wie viele staatliche Funktionäre, aber auch Journalisten der staatlichen Medien in diese Angelegenheit verwickelt sind.

Dies ist jedoch nur eine von vielen Affären, die das Regierungsgeschäft der PiS begleiten. Vor mehreren Monaten wurden Mitschnitte vertraulicher Gespräche zwischen dem PiS-Parteichef Jarosław Kaczyński und einem österreichischen Bauunternehmer (übrigens seinem entfernten Cousin) veröffentlicht, in denen Pläne zum Bau von zwei Bürohochhäusern in Zentrum von Warschau geschmiedet wurden, und zwar mit Geldern, die von staatlich übernommenen Banken geliehen werden sollten. Der Gewinn aus der Vermietung der Bürokomplexe sollte illegal in die Parteikasse fließen und auf diese Weise PiS-Funktionäre versorgen – allerdings ist die Ausübung wirtschaftlicher Tätigkeiten durch politische Parteien in Polen verboten. Die von der PiS kontrollierte Staatsanwaltschaft lehnt es ab, Kaczyński zu verhören und verschleppt die Untersuchung in dieser Angelegenheit. Vorher waren Gesprächsmitschnitte veröffentlicht worden, in denen der Präsident der Finanzaufsichtsbehörde einem der reichsten polnischen Banker Schutz für dessen Bank gegenüber übermäßigen Eingriffen staatlicher Institutionen anbot, als Gegenleistung für die Beschäftigung einer bestimmten Person mit einem Jahresgehalt in Höhe von 40 Mio. Zloty (fast 10 Mio. Euro). Auch in diesem Fall hat es die Staatsanwaltschaft nicht eilig, die Angelegenheit aufzuklären (obgleich der Präsident der Finanzaufsichtsbehörde selbst entlassen wurde). Immer wieder werden illegale Honorare für staatliche Funktionäre publik, und unlängst kam an die Öffentlichkeit, dass führende Regierungsvertreter für Flüge nach Hause und zu ihren Wochenendhäusern permanent mit Regierungsflugzeugen geflogen sind, wobei die kostspieligen Sondersicherheitsmaßnahmen angewandt wurden – der Sejmmarschall wurde daraufhin entlassen. Kleinere Skandale und Affären mit Beteiligung von Politikern und Akteuren der Regierungspartei werden fast wöchentlich verzeichnet. Immer häufiger wird davon gesprochen, dass in Polen ein Mafia-Staat entsteht, wie ihn für Ungarn der Soziologe und Politologe Bálint Magyar beschrieb.

Die PiS stellte sich als Partei dar, die die polnischen Institutionen von den dort verbliebenen kommunistischen Funktionären säubern würde, und damit begründeten die regierenden Politiker ihre Säuberungen in vielen öffentlichen Institutionen. Es zeigte sich aber, dass die Regierungspartei in ihren Reihen zahlreiche Akteure des Kaders aus kommunistischen Zeiten hat, beispielsweise einen ehemaligen Staatsanwalt, der während des Kriegsrechts (1981–83) Aktivisten der damaligen antikommunistischen Opposition anklagte. Dieser ehemalige Staatsanwalt und aktuell PiS-Abgeordnete steht an der Spitze der Aktion, unabhängige Richter zu entlassen. Die Präsidentin des übernommenen Verfassungstribunals entpuppte sich als ehemaliges Mitglied des kommunistischen Studentenverbands. Ihr Ehemann, Botschafter in Berlin, war von den kommunistischen Machthabern als geheimer Mitarbeiter registriert worden; es existiert das von ihm unterzeichnete Dokument, mit dem er seine Zustimmung zur Zusammenarbeit und zur Annahme des Decknamens »Wolfgang« gibt. Es gibt noch mehr Beispiele für Personen, die in der PiS Karriere machen und vormals mit der Tätigkeit kommunistischer Institutionen verflochten waren.

In vielen Buchpublikationen und journalistischen Berichten werden Mutmaßungen über stärker werdende russische Einflüsse in Polen laut. Neben der fassadenhaften Abneigung gegenüber Russland, die in den Kreisen der polnischen Regierung bekundet wird, sollen in ihrem Umfeld Personen und Gruppen agieren, die Methoden der »hybriden Kriegsführung« anwenden, das heißt der destruktiven Einflussnahme auf andere Staaten durch die russischen Nachrichtendienste. Dazu gehört auch die Erzeugung antiwestlicher und antieuropäischer Stimmungen in der Gesellschaft. Unabhängig von möglichen oder mutmaßlichen russischen Einflüssen in polnischen Regierungskreisen realisieren sie eine Politik in Übereinstimmung mit den russischen Zielen, die Europäische Union zu desorganisieren und auseinanderzubringen sowie den westeuropäischen Kulturmustern und Zivilisationstrends entgegen zu treten.

Im Wahlkampf begannen die Akteure der PiS eine verbitterte Kampagne gegen die LGBT-Bewegung. Dazu kam es, weil sich die Phase des Wahlkampfes mit der Saison der »Märsche der Gleichheit« in vielen polnischen Städten, das heißt den Demonstrationen für die Rechte sexueller Minderheiten, überschneidet. An der Kampagne beteiligten sich aktiv hohe Amtsinhaber und einfache Priester der katholischen Kirche und an den gewalttätigen Angriffen auf die Teilnehmer der Märsche der Gleichheit Aktivisten rechtsextremer Organisationen. In vielen Städten kam es während der Demonstrationen der LGBT-Bewegung, ihrer Sympathisanten und der Verteidiger der Menschenrechte zu aggressiven Aktionen vonseiten rechter Hooligans. Kaczyński, Politiker der PiS und katholische Priester führen eine anhaltende Kampagne gegen sexuelle Minderheiten und stellen sich als Verteidiger der traditionellen Familie und Religion gegenüber den Verbreitern von Sittenverfall dar.

Diese Aktion wird umso energischer betrieben, als vor einigen Monaten im Internet unter großer Aufmerksamkeit ein Dokumentarfilm über sexuellen Missbrauch in der katholischen Kirche präsentiert wurde. Unter der Regie eines bekannten Journalisten und Reporters kamen Opfer und Täter zu Wort. Millionen sahen den Film im Internet und das Thema wurde Gegenstand einer lebhaften öffentlichen Debatte. Die gegenwärtigen Angriffe auf die LGBT-Bewegung werden als Versuch interpretiert, die Pädophilie-Skandale in der polnischen Kirche zu vertuschen. Als einer ihrer negativen Hauptprotagonisten erwies sich dabei der ehemalige Seelsorger von Lech Wałęsa und einflussreiche Priester der oppositionellen Solidarność-Bewegung in der Volksrepublik Polen, der nicht nur als pädophil entlarvt wurde, sondern auch als Informant der kommunistischen Geheimdienste.

Ursachen der gesellschaftlichen Unterstützung für die PiS

Die Angriffe auf die LGBT-Bewegung und vermeintliche Feinde der traditionellen Werte, Familie und Religion treffen auf Zustimmung in den ländlichen und kleinstädtischen Milieus der polnischen Provinz. Die Hauptursache für die Unterstützung der PiS ist allerdings ihr verschwenderisches Programm von Sozialtransfers, die konkreten Bevölkerungsgruppen direkt gezahlt werden. Hier geht es vor allem um die Geldleistung in Höhe von 500 Zloty, die monatlich für jedes Kind gezahlt wird (zirka 120 Euro, das sind ungefähr ein Zehntel des Durchschnittslohns und mehr als ein Fünftel des Mindestlohns), sowie um die 13. Rentenzahlung. Die Regierung schürt dabei die Angst, dass die liberale Opposition diese Programme im Falle eines Regierungswechsels einschränken oder gar abschaffen würde, was ein Teil der Wähler glaubt, auch wenn die Politiker der Opposition dem widersprechen.

Die PiS-Regierung erfreut sich einer sehr guten wirtschaftlichen Konjunktur und eines schnellen Wachstums des Bruttoinlandsprodukts; im vergangenen Jahr betrug es über 5 %, im laufenden Jahr sind es immer noch über 4 %. Dies ist allerdings zu einem bedeutenden Teil eine Folge der gelungenen Transformation nach dem Zusammenbruch des kommunistischen Systems, dank derer das Wirtschaftswachstum in Polen ununterbrochen seit fast 30 Jahren auf einem hohen Niveau anhält. Aktuell wird es zusätzlich angefacht durch die große Binnennachfrage, die dank der finanziellen Beihilfen für zahlreiche Bevölkerungsgruppen und infolgedessen deren Kauflaune gestärkt wird. Diese Geldtransfers verschlingen Milliarden Zloty jährlich, die bei einer erwarteten Konjunkturschwäche in der Zukunft fehlen können, umso mehr, als der öffentliche Haushalt immer im Defizitbereich liegt und die Schulden der öffentlichen Hand – wenn auch in den von der EU gesetzten Grenzen – beständig wachsen.

Ein zweiter Grund für die große gesellschaftliche Zustimmung für die PiS-Regierung ist die von der offiziellen Propaganda angefachte patriotisch-nationalistische Belebung, die insbesondere in geschlossenen dörflichen und kleinstädtischen Milieus auf fruchtbaren Boden fällt und Stolz hervorruft, weil Polen sich angeblich »von den Knien erhebt« und als selbständiger Akteur aufgebaut wird, der sich nicht dem Druck der internationalen Institutionen beugt (der allerdings ausgeübt wird, weil in Polen immer offensichtlicher die Prinzipien der Rechtsstaatlichkeit verletzt werden).

Die dritte Ursache für die beständig hohe Unterstützung der nationalistisch-klerikalen PiS ist die konservativ-traditionalistische Gegenoffensive der Partei gegen die kulturellen und sittlichen Innovationen und Veränderungen, die mit angeblicher westeuropäischer Dekadenz und Sittenverfall identifiziert werden. Die Interventionen der EU-Institutionen, die gegen die Verletzung der EU-Standards der Rechtsstaatlichkeit und der Menschenrechte in Polen protestieren, werden von der Regierungs- und Parteipropaganda als den Polen aufgebürdete Revolution gegen ihren Lebensstil dargestellt. Es handelt sich hier um eine Mischung aus Anti-EU-Pseudoargumenten (ähnlich wie in der britischen Brexit-Propaganda) und Verteidigung des Heimischen, Vertrauten, das dem Kosmopolitismus und der Globalisierung entgegen gestellt wird. Hinzu kommen die für populistische Bewegungen typischen Ressentiments gegenüber Eliten, und da die intellektuellen und künstlerischen Eliten mehrheitlich liberal und links eingestellt sind, treten jene in einer antiliberalen und antilinken, national-konservativen Gestalt auf.

Die internationale Isolierung und der Druck des Auslands

Die permanente Verletzung der in der Europäischen Union geltenden Standards des demokratischen Rechtsstaates durch die Regierungsmannschaft und die auf internationaler Bühne betriebene nationalistisch motivierte Politik des nationalen Egoismus drängen Polen in eine zunehmende Isolation.

Anfänglich bemühte sich die PiS, ihre feindseligen Aktivitäten gegenüber den Staaten und Institutionen der Europäischen Union sowie die angespannten Beziehungen zu ihnen durch die Annäherung an das europaskeptische (insbesondere unter der konservativen Regierung) Großbritannien zu kompensieren. Nach dem Referendum, das im Ergebnis den Austritt Großbritanniens aus der EU nach sich zieht, wurde es ein ungeeigneter und unbequemer Partner. Nach der Wahl Donald Trumps zum US-Präsidenten ging die Sympathie der Polen regierenden Akteure auf die USA über, denen von den Polen ohnehin immer viel Wohlwollen entgegen gebracht wird, sowie auf die dort stärker werdende alt-right Bewegung, die ideologisch mit der PiS verwandt ist. Die Beziehungen zu den USA verschlechterten sich allerdings im Zusammenhang mit der Verabschiedung eines Gesetzes durch den US-Kongress (auch JUST Act 447 genannt). Dieses verlangt von mehreren Staaten, die Eigentumsfragen zu ordnen, die sich im Umgang mit dem Nachlass von Bürgern jüdischer Nationalität stellen, die während des Holocaust ermordet wurden (dies würde in niederschmetternder Mehrheit Bürger Polens betreffen, das heißt heute ihre rechtlichen oder institutionellen Erben). Eine ernsthafte Störung der Beziehungen, auch mit Israel, rief das von der PiS forcierte Gesetz hervor, das die strafrechtliche Verfolgung von Äußerungen vorsieht, die den Polen (enger gefasst: der polnischen Nation) die Beteiligung an Verbrechen an Juden während des Zweiten Weltkrieges zuschreiben. Diese Verbrechen werden seit Jahren von polnischen Wissenschaftlern dokumentiert und sind dank ihrer Publikationen bekannt. Die Regierungen in Israel und den USA waren der Ansicht, dass die PiS solche Untersuchungen und Publikationen verbieten wolle, weshalb sie scharf dagegen protestierten. Auch wenn offen antisemitische Akzente in der offiziellen Politik und Propaganda fehlen, stützt sich die PiS auf gesellschaftliche Gruppen, in denen solche Neigungen präsent sind, so dass sie in der Innenpolitik der Regierung Berücksichtigung finden.

Im Falle der USA kommen außerdem solche Vorfälle hinzu wie die Unterstützung der LGBT-Bewegung durch die US-Botschaft in Warschau, was bei der PiS-Mannschaft Gereiztheit hervorruft. Da aber Donald Trump einer der wenigen westlichen Politiker ist, die der Regierung in Polen wohlgesonnen sind, werden er und seine Administration gehätschelt.

In der nationalistisch motivierten Politik der PiS gibt es starke antideutsche Akzente. Ein Vorwurf ist die historische Schuld Deutschlands (der Überfall auf Polen im September 1939, die blutige Besatzung durch die Nationalsozialisten, die Zerstörung vieler Städte und eines bedeutenden Teils der Infrastruktur während bzw. infolge des Krieges). Die Politiker der PiS, einschließlich Ministerpräsident Mateusz Morawiecki, drohen damit, dass sie eine Rechnung mit Entschädigungsforderungen für die Kriegsverluste vorlegen werden. Auf deutscher Seite sind die offiziellen Reaktionen auf diese Politik sowie auf das provokante Verhalten des Botschafters in Berlin äußert zurückhaltend. Dies könnte eine Basis für den Wiederaufbau der bilateralen Beziehungen in der Zukunft sein.

Druck, Ermahnungen und eine formale Einleitung gerichtlich-kontrollierender Verfahren seitens der EU-Institutionen und -Staaten nehmen allerdings auch Einfluss auf die regierende PiS. So lässt sie manchmal von radikalen Ideen ab. Die Regierung muss die proeuropäische Einstellung der polnischen Gesellschaft berücksichtigen, die eine der europabegeistertsten in der ganzen EU ist. Der Druck des Auslands, insbesondere der EU-Institutionen, kann eine Schlüsselrolle dabei spielen, Polen vor dem Absturz in den Abgrund des Totalitarismus aufzuhalten, sollte die Regierung der aktuellen Mannschaft nach den Parlamentswahlen eine Verlängerung bekommen.

Übersetzung aus dem Polnischen: Silke Plate

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